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Sonnabend, 11. April 1885.
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ItrlinfrUollistilnll. Brgan für die Interessen der Arbeiter.
Das„Berliner Volksblatt"
«scheint täglich Morgens außer nach Sonn- und Festtagen. Monnementspreis für Berlin frei in s Haus vierteljährlich 4 Mark, monatlich 1,35 Mark, wöchentlich 35 Pf. Postabonnement 4 Mk. Einzelne Nr. 5 Pf. Sonntags-Nummer mit illustt. Beilage 10 Pf. (Eingetragen in der Postzeitungspreisliste für 1885 unter Nr. 746.)
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Redaktion: KeutWraße 2.— Expedition: Zimmerstraße 44.
Der heutigen Nummer liegt für unsere auswärtigen Abonnentea die Nummer 19 de»„Jllustrirtes Sonntags- olatt bei." Kürzere Arbeitszeit— höherer Lohn! Der denkfaule Philister schüttelt den Kopf, wenn er diese Forderung unserer Arbeiter hört. Es will ihm nicht einleuchten, daß so etwa» möglich sein könnte; dabei müßte ja. seiner Anficht nach die ganze Welt auf den Kopf gestellt werden und schließlich untergehen. Die Herren hinter den fortschrittlichen Weißbiergläsern machen e» sich mit dem Denken eben gar zu bequem. Warum auch nicht? Von ihren Führern, den manchesterlichen„Volkswirthen" k la Richter, Barth und Genossen, ist ihnen nun einmal ein- gebläut worden, daß je länger die Arbeitszeit, auch desto höher der Lohn sei. Und diese Anschauung entspricht dem fortschrittlichen Philister und seiner frommen DenkungSart zu lehr, als daß er sich nicht krampfhaft an derselben fest- klammern sollte. Wo sollte er auch Zeit und Lust her- nehmen, die auf dem ArdeitSmarkte und im Produktions- Prozesse herrschenden ökonomischen Gesetze selbst zu studiren? Viel lieber läßt er sich von Richter und Genossen erzählen, wie es diesen gelungen ist, nach„schwierigen Kämpfen", daS heißt endlosem Gerede, von dem Militärbudget einige tausend Mark abzustreichen, und wie dann die fortschritt- ltche» Staatsmänner nach solch ungeheuerem Erfolge auch noch dem ganzen Budget ihre Zustimmung gegeben haben. DaS ist ja auch viel interessanter. Da muß man die Arbeiter loben, die den wirthschaft- lichen Fragen ein weit tiefere« Verständniß entgegenbringen und d-e schon seit Jahren für eine staatliche Feststellung, resp. Herabsetzung der Arbeitszeit eingetreten sind, in dem sicheren Bewußtsein, daß durch einen zeitgemäßen Normal- resp. Maximalarbeitstag auch eine Steigerung der Löhne herbeigeführt werden müßte, wenn auch die« an- fang« da und dort nicht der Fall wäre oder vielleicht momentan in einzelnen Fällen der Lobn etwa« sinken würde. Die Arbeiter haben sich auch durch den Einwand nicht schrecken lassen, daß die Arbeiter, die durch die Art und Weise ihrer Beschäftigung den Einwirkungen der Fabrikgesetzgebung entzogen seien, sich gegenüber den auf einen MaximalarbeitStag angewiesenen Arbeitern im Vor- theil befänden. Gegen diesen Einwand haben die Gegner de« Normal- arbeitStageS selbst der Beweise genug beigebracht, wie dies jüngst in einer Schrift de« Dr. Bein über die I n d u- stri« im sächsischen Voigtlande geschehen ist. Dieser Dr. Bein ist ein Schüler de« bekannten Dr. B ö h m e r t in Dresden ; er kann also auch nicht in den leisesten Verdacht radikaler oder gar sozialistrscher Tendenzen
Rachdruck verboten. i
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IeuMeton. Im Eckfenster. Roman von Friedrich Gerstäcker . (Fortsetzung.) Püster schüttelte leise und unmerkbar mit dem Kops und brummte für sich:„E« ist doch eigentlich merkwürdig, wie viel wirklich verrückte Menschen in der Welt herum- laufen, ohne daß man einen festen Halt an sie bekommen und sie emsperren lassen könnte. Der Kerl da drüben ist doch augenscheinlich rein toll, aber er hat noch Niemanden gebissen oder Menschen auf der Straße angefallen, und der Siaat kann ihm deshalb nichts anhaben. Eigeothümliche Sache va», um da« Gehirn eines Menschen, und eine wun« derbare Einrichtung von der Natur, daß e« kein Arzt re- vidiren und kontrolire« kann; gäbe auch sonst wahrschein- lich eine heillose Verwirrung im Staats- wie im Familien- lebm!". �. Der Direktor im Fenster da drüben stand auf, zog die Pfeife vorsichtig inS Zimmer hinein und trat zurück. Da» durch aber bekam Püster für einen Moment den größeren Theil der Gestalt zu sehen. „Verdammt will ich sein," rief er halblaut au»,„wenn der verfluchte Kerl nicht einen persischen Dolch in seiner Schlafrockquaste stecken hat I Daß Leute ihren Orden am Schlafrocke tragen, davon habe ich gehört, aber einen Dolch — eä ist doch zu toll!" I» dem Augenblicke klopfte«S an seine Thür, und als ** sich danach umwandte, trat einer seiner Schreiber herein und meldete: »Herr Notar, der Herr Semmlein, der Apotheker von Segenuber, ist unten und möchte Sie gern einmal auf einen lugenblrck sprechen." '�ssen Sie ihn hereinkommen." per Schreiber verschwand wieder, und nach einigen Mmüt-N klopfte es herzhaft an. „Herein..." ...«Morgen, Herr Püster," sagte Herr Semmlein, eine *WIle, breiischultrige Gestalt, aber mit einer etwas lispeln«
kommen. In seinem Buche hat er indessen nicht nur mit vielem Fleiß die historische Entwickelung der vogtländischen Industrie dargestellt; er hat auch durch ein reiches statisti- sches Material die gegenwärtigen Zustände beleuchtet, und wenn auch längst bekannt ist, in welch traurigen Verhält- nissen sich die sächsischen Industriearbeiter befinden, so kann man aus dem Buche doch eine ganze Reihe schätzenSwerther Mittheilungen hervorheben. Für die Leute, welche meinen, daß die längste Arbeits- zeit auch die höchsten Löhne mit sich bringe, müßte eigentlich die Hausarbeit oder die Hausindustrie ein Ideal sein. Der im Hause, also nicht in der Fabrik beschäftigte Arbeiter kann ja arbeiten, so lange er will; von der Fabrikgesetzgebung wird er gar nicht getroffen. Nach den Ansichten jener Leute mußte er a so am besten gestellt sein. Für unS war und ist es kein Geheimniß, daß im Gegentheil gerade die Hausarbeiter am schlechtesten gestellt sind, dabei ist indessen doch inter- essant, daß Herr Dr. Bein Ziffern gesammelt hat, die diese Anschauung vollauf bestätigen. Nach ihm ist in Sachsen , was von allen Kundigen längst gesagt wurde, der Haus- weber dem Fabrikweber gegenüber entschieden im Nachtheil. In der Fabrik arbeitet man— nach Dr. Bein— 11 bis 12 Stunden mit UnterbrechungSpaufen von einer Stunde Mittag, von 12 bis 20 Minuten für Frühstück und Vesper. Der Hausweber dagegen muß 14 bis 15 Stunden arbeite», wobei die Pausen geringer sind. In Falkenstein arbeiten die Gardinenweber manchmal 17 Stunden. In der Stickerei arbeitet man in der Fabrik 10 bis 12 Stunden, zu Hause 14 bis 15 Stunden. Und nun die Löhne? AuS der Gegend von OelSnitz bei Plauen berichtete dem Dr. Bein ein Faktor, daß eS ein Weber, der Gardinen zu Haufe webte, nur auf drei Mark Wochenloh« gebracht habe. In Falkenstein kamen die HauSweber auf einen durchschnittlichen Wochenlohn von 5 Marl 40 Pf; in einzelnen Geschäften war der Durch- schnittSlohn noch niedriger. Die Strumpfwirker kamen bei der Hausarbeit auf 2, selten auf 3 Thaler pr« Woche. Die hausindustriellen Maschinensticker kamen auf 9—10 Mk., die in der Fabrik auf 10—15 Mark Wochenlohn. Man kann hier nicht einwenden, daß die verbesserten Maschinen und Arbeitsinstruniente in den Fabriken die» Verhältniß herbeigeführt hätten. Sonst pflegen doch gerade die Ma- schinen„Hände" überflüssig zu machen und durch solcherge- stalt vermehrte» Angebot von Arbeitskräften die Löhne hin abzudrücken. Man sieht also au» dem Angeführten, daß gerade in der Hausindustrie, wo Jeder so lang arbeiten kann, als er will, wo auch die kleinsten Kinder zur Mitarbeit herange- zogen werden können, die Löhne am allererbärmlichsten find. den Stimme, indem er, sein Morgenkäppchen in der Hand, mit dem er nur so über die Straße gekommen war, in die Thür trat—„haben Sie einen Äugenblick Zeit?" „Für Sie immer, Herr Nachbar; womit kann ich Ihnen dienen?" „Hm," lispelte Herr Semmlein,„ich— möchte Sie in etwas um Rath fragen, ist aber eine verdammt kitzlige Geschichte." „Kitzlige Geschichte?" lachte der Notar, indem er auf einen Stuhl zeigte.„Wie so, Herr Nachbar? Aber bitte, nehmen Sie Platz." »Ja, seh'n Sie, erwiderte Herr Semmlein, indem er der Einladung Folge leistete,„kennen Sie meinen Nachbar über der Gasse drüben— Nr. 16, von hier schräg gegen- über—, den Herrn von Schaller, der erst vor kurzer Zeit dort eingezogen ist? Er wohnt meinSwegen da drüben eine Treppe doch." „Nicht näher, nur von Ansehen, Herr Nachbar." „Halten Sie ihn für gut?" «Ich sag« Ihnen ja, daß ich den Herrn nur von An- sehen kenne." „Hm ja— na, dann wissen Sie meinswegen auch �„Aber weshalb fragen Sie danach? Will er etwa Geld bei Ihnen borgen?" „Geld bei mir? Ne!" lachte der Hofapotheker, mdem er sein gestickte» Morgenkäppchen zu dem geringst mog- lichen Kubikinhalt zusammendrehte.„Aber seh'n Sie, da schickt mir«in Schwager von mir, der Apotheker Reuter in Berlin , der meinswegen eine Schwester merner Frau geheirathet hat, eine Rechnung für den Herrn Baron , die ich hier einkassiren oder einklagen soll, und da« ist mir höchst fatal. Der Herr Baron kaust ebenfalls bei mir, und ich weiß selber nun n, cht recht, wie ich eigentlich mit ihm stehe." „Hat er denn so viel Krankheit rm Hause? „Na nu, ne," sagte Herr Semmlein. mdem er ver- suchte, sein Käppchen vollständig entzwe, zu drehen:„außer einer Schachtel Pillen zum Abführen ist von Medizinen noch gar nicht» vorgefallen, aber vier Dutzend Selters-
In den Fabriken sind sie zwar etwas höher, aber nicht» destoweniger„zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel." Aber in den Fabriken könnte doch wenigsten« eine Fabrik« gefetzgebung eingreifen, um die übermäßige Ausnutzung der Arbeitskräfte zu verhindern. Dagegen entzieht sich, wie schon gesagt, die Hausarbeit der Fabrikgesetzgebung; vielleicht ist gerade deshalb dieselbe in so vielen ihrer Zweige unrettbar dem Untergang verfallen. Herr Dr. Bein will die staatliche Ueberwachung auch auf die Hausindustrie er« strecken. Aber wie will er da« so durchführen, daß e» einen Erfolg hat? Da müßte ja für jede Familie ein Po» lizeidiener gestellt werden. Zum Schluß fragt man sich: Welche Lehren hat nun der Dr. Bein au» seinen Forschungen gezogen? Nun er hält die Arbeiter de» Vogtlande», die musikalische Jnstru» mente verfertigen, für die bestgestellten; sie verdienen nach seinen Angaben zwischen 7 und 14 Mark wöchentlich; sie leben hauptsächlich von Kartoffeln, essen ein« bi« zweimal in der Woche Fleisch, zuweilen einen Höring; statt Butte« haben sie Schweineschmalz und genießen dabei viel Kaffee, wenn man da» sogenannte Gebräu al» solchen betrachten kann. Und wa» sagt der Herr Doktor zu dieser Situation der„bestgestellten" HauSarbeiter des Vogtlande«, die so lange arbeiten können, als sie nur wollen und dabei so wenig verdienen? Nicht»! Nun, dazu brauchte er weder ein Doktor noch ein Ge« lehrter sein, das hätte der erst« beste Berliner Weißbier- philffter auch gekonnt. Kolitiseke Nebersirkt. Dem VundeSrath ist der Entwurf von Grundsätzen zu» gegangen, welche in Betreff der Vollstreckung einer Gesammtstrafe, falls die Einzelstnfen von Gerichten verschiedener Bundesstaaten festgesetzt find, zur Anwendung zu kommen haben, unbeschadet andelweiter Ver- einbarung der betheiligten Bundesstaaten im einzelnen Falle. In der Begründung deS im ReichSjustizamt aufgestellten Ent- würfe« wird die Herstellung einer einheitlichen Praxis zur Beseiligung vielfach angedeuteter Uebelstände detont. Bei der NeichStagsuachwahl im Teltower Kreise wird noch ein vierter Kandidat austreten. Die neue demokra» tische Partei hat nämlich eine allgemeine Wählerversammlung nach NowaweS berufen, um, wie der„Franks. Zeitung" auS Charlottenburg geschrieben wird,„durch eine glückliche demo« kratische Kandidatur die freifinniae Wählerschaft bei der Fahne des bürgerlichen Liberalismus festzuhalten". Die neue demo« kratische Partei wird also hier zum ersten Male mit der deutsch - frelfinnigen Partei den Kampf aufnehmen.(Werden stch jeden« fall« noch wieder vertragen! D. R. )
wasser und meinswegen ein Dutzend Magenbitter, wie Pfeffermünzplätzchen und Morsellen scheint er viel zu brauchen— auch manchmal gebrannte Mandeln. So viel macht da« ja auch nicht, und e» ist mir nur um die spätere Kundschaft. Bei meinem Schwager steh'n aber meineSwegen hundertnnundachtzig Thaler zweiundzwanzig Groschen und sieben Pfennig— auch meistentheil» für so Kram—, und jetzt weiß ich nicht recht, wie man die Sache am besten anfinge." „Hunderteinundachtzig Thaler ist freilich schon eine be» deutende Summe; aber haben Sie denn den Herrn von Schaller schon gefragt, ob er die Rechnung anerkennt und sich weigert, zu bezahlen?" „Gott dewahre, noch nicht!" „Nun sehen Sie'mal, e» könnte ja doch möglich sei», daß er die Sache früher, in dem Gewirr de« Umzüge», einfach vergessen hat." „Hm," lächelt« Herr Semmlein verlegen,„ist mir eigentlich nicht recht wahrscheinlich, und ich habe bei den Herren Adeligen schon meinSwegen ein ganz hübsches Sümmchen sitzen lassen, wobei ich ihre« Gedächtniß doch immer dann und wann zu Hilfe kam. Mein häusliches Kriegsministerium meinte übrigen» auch, ich sollte doch erst einmal höflich anfragen." „Nun, versteht sich von selbst," sagte der Notar,„das ist doch da« Einfachste und Natürlichste. Weigert er dann die Zahlung oder hält er den Termin, den er Ihnen vwl» leicht stellen könnte, nicht ein, nun gut, dann müssen wir un» vor allen Dingen von Ihrem Schwager eine Vollmacht kommen lassen, und wenn Sie es dann noch wollen, ver- folgen wir den Rechtsweg." „Sehr schön," nickte der Hofapotheker vor sich hm,„sehr schön, wenn ich nur erst meinswegen drüben gewesen wäre. E» ist eine verzweifelte Geschichte, und ich mahne überhaupt so ungern Jemanden. Nur meine Miethsleute. Wenn die nicht Pünktlich zahlen, fitze ich ihnen wie ein Wetter auf dem Halse!" „Haben Sie Roth mit Ihren MiethSleuten;" fragte der Notar.«Oben in den Dachstuben wohnen freuich einige ärmere Leute."