Nr. 233.

Mittwoch, den 6. Oktober 1886.

M. Jahrg.

Berliner Volksblatt

Organ für die Interessen der Arbeiter.

Das Berliner Volksblatt"

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Siemens eigene Worte unser Jahrhundert charakterifirt ist

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Der Elektrotechniker Dr. Werner Siemens  | burch bas Bestreben, bie Natu: kräfte in ben Dienst des beschäftigte Hände geben und die industrielle Reservearmee

als Nationalökonom.

I.

Unter dieser Ueberschrift schreibt uns in Anschluß an ben Artikel Naturwissenschaften und soziale Entwide lung in Nummer 224 unseres Blattes ein Mitarbeiter folgendes:

Sie haben ben wirthschaftlichen sozialen Gedanken, wel. den Herr Dr. Werner Siemens in seinem Vortrage über Das naturwissenschaftliche Beitalter auf der Naturforscher­Bersammlung Husbrud gegeben, bereits eine Reitir au Theil werden laffen. Ein Punkt indeffen scheint mir im Intereffe der Verbreitung gesunder volkswirthschaftlicher Anschau­ungen einer eingehenden Erörterung werth, nämlich da, wo es sich handelt um das Verhältniß bes verringerten Arbeitsbedürfnisses zur Verkürzung der Arbeitszeit und um die Erzeugung weiter Be­dürfnisse durch die Fortschritte der Kultur.

Herr Dr. Werner Siemens hat als Fa& gelehrter, als Elektrotechnifer meine volle und ganze Sympathie; ich weiß seine Leistungen auf dem Gebiete ber Elettros technit zu schäßen und räume ihm freudig ein, daß er fich bamit um die Menschheit verdient gemacht hat. Um so Um so mehr thut es mir leib, an seine oben erwähnten Aus führungen den Maßstab scharfer gegnerischer Reitit legen zu müssen. Doch ist das nothwendig, denn jene Aus führungen find im Namen der Wissenschaft gemacht wor ben, können aber vor biefer nicht bestehen, weil sie in recht groben Irrthümern gipfeln.

Der ganze hier in Frage stehende nationalökonomische Gebantengang des Dr. Siemens ist von der manchesterlichen Bauberformel Laissez faire, laissez aller" so vollständig beherrscht, als es bei einem Vertreter der manchesterlichen Dekonomie nur immer möglich ist. Von selbst soll sich

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Menschen zu bringen", und daß die aus diesem Bestreben refultirenden Fortschritte der Technik, die menschliche Ar­beitskraft mehr und mehr überflüssig machen und so eine Berringerung des Arbeiterbedürfnisses herbeiführen."

Das ist eine Erfahrungsthatfache. Aber Dr. Siemens knüpft daran die Folgerung, daß das solcherweise entstandene geringere Arbeiterbedürfniß ganz von selbst zu einer Ver fürzung der Arbeitszeit führt. Diefer Folgerung liegt eine gänzliche Verkennung der Tendenz, des das ge fammte wirthschaftliche Leben beherrschenden Rapitalismus Arbeitsbedürfnisses zur Berkürzung der Arbeitszeit. Die au Grunde. Nicht von selbst führt die Verringerung des zu Grunde. Nicht von selbst" führt die Berringerung des Sache ist vielmehr die, baß jebes Sinken ber Nachfrage nach Arbeit zunächst in den Kreisen der wirthschaftlich auf geklärten und benkenden Arbeiter das Bedürfniß erzeugt ober verstärkt, die Arbeitszeit möglicht entsprechend bem Ausfall an Arbeitstraft zu verkürzen. Damit aber ist die Verkürzung selbst noch lange nicht wirklich erreicht! Unternehmer pflegen allerdings, wenn die Geschäfte schlecht gehen, weil der Waarenabsat ftodt, die Arbeitszeit willkürlich zu verkürzen. So sehen wir jest z. B. die Arbeiter der Eisesindustrie in Rheinland  fifalen und in Schleften großentheils auf ein Drittel bis bie Hälfte der bei normalem Geschäftsgange üblichen Ar­beitszeit gesetzt. Das ist eine mit Reduktion des Arbeiter­einkommens überhaupt, oft auch mit einem Sinten des Lohnfakes an und für sich verbundene Betriebs einsränkung. Ein solcher ben Arbeitern höchst unwillkommener Vorgang hat gar nichts gemein mit der Frage der Arbeitszeitverkürzung zum Vor theil der Arbeiter. Diese Frage ist für sie zugleich eine folche nach dem möglichst höften Stande bes ohnes, während für das Unternehmerthum die Frage ber Arbeitszeitverlängerung zugleich eine solche nach dem

Arbeitskraft überschüffig werden, möge es noch so viel un noch so sehr wachsen, niemals wird das Unternehmerthum fich freiwillig zu einer den Ausgleich dieses Mißverhältnisses beswedenden Arbeitszeitverkürzung verstehen; es wird, ja es muß um feiner Selbstbehauptung willen im Getriebe der freien Ronkurrenz der kapitalistischen   Tendenz treu bleiben, welche abzielt auf die mögliche Ausaugung der Arbeitskraft bei langem Tagewerk und niedrigem Lohn. Es ist nicht gleichgiltig ob z. B. ein Arbeiter 10 und ein anderer 12 Stunden täglich arbeitet, beide aber je 3 M. erhalten; ihr Tageloba ist zwar der gleiche, nicht aber der Preis ihrer Arbeit; der Eine erhält für die Stunde 30, der Andere 25 Pf. Je länger der Arbeitstag, je niedriger der Lohn. Je mehr ein Arbeiter produzirt, desto weniger Arbeiter find zur Herstellung einer bestimmten Waarenmenge nöthig und bas Angebot von Arbeitskraft muß steigen, beren Preis fallen. Das bringt dem Unternehmer den Vortheil, daß er feine Waarenpreise wegen der Ronkurrenz unter ihre nor male Höhe herabdrücken, also fich leichter auf dem Markte behaupten tann.

Das Bestreben des Unternehmerthums, den Arbeistag zu verlängern, entspricht durchaus dem Charakter ber tapis talistischen Produktionsweise und ist untrennbar von ihr. Schon im Jahre 1836, also vor fünfzig Jahren, flagte Sir Robert Peel  : bas in der Ronkurrenz und in ber

Habsucht des Unternehmerthums begründete Bestreben, bet langer Arbeitszeit und möglichst geringem Lohn möglichst viele Leistungen von dem einzelnen Arbeiter zu erzwingen, sei ein zu einem bittern Fluche für bas Boll gewordenes Ne fultat der wirthschaftlichen Entwicklung. Heute äußert sich dieser Fluch noch schlimmer als vor fünfzig Jahren!

Aus den Untersuchungen

alles vollziehen zum Heile ber Arbetter; ohne ihr unb ber möglichst niedrigsten Stanbe bes Lohnes if Wir haben der belgischen Arbeiterenquetekommiffion.

es also ba mit diametral einander gegenüberstehenden In­tereffen der Arbeiter und des Unternehmerthums zu thun.

Für die Arbeiter tommt es barauf an, durch Ein­schränkung der Arbeitsleistung des Einzelnen unter einem gegebenen Verhältniß und in Rücksicht auf die benöthigte Gesammtleistung einem größeren Kreise von Arbeitern An

Staatsgewalt 3uthun, gewissermaßen nach dem Gesetz der organischen Eatwidelung, von selbst" soll ihre Noth unb Bebrangniß ein Ende finden, sie sollen sich einem Fatalismus ergeben, dem echten Türfenglauben an die beglüdende Macht bes Rapitalismus und einzig und allein dieser Macht vers frauen, bie, wie in der Religion bie göttliche Autorität, schon Alles zum Besten wenden wird! Das ist der Gestheil an dieser Leistung zu sichern, alfo bas Arbeitsangebot barke, der wie ein rother Faden durch Dr. Siemens na tionalökonomische Ausführungen fich hindurchzieht und ein Gewebe zu Stande bringt, welches der leisefte Eingriff der nationalökonomischen Wissenschaft zerreißt. Von allem bleibt nur die breite Grundlage der Thatsache: daß ich zitire

Radbrud verboten.

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Feuilleton. Ludmilla.

Novelle von Polevvi.

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zu verringern und damit der weiteren Entwerthung der Arbeitskraft bezw. dem Sinken des Lohnes entgegenzus Arbeitskraft bezw. dem Sinken des Lohnes entgegenzus wirken, oder, unter ganz günftigen Umständen, eine Erhöhung beffelben zu erzielen.

Anders beim Unternehmerthum. Möge noch so viel

nicht befriebigt werden konnte. Schon sah ich mich dazu verurtheilt, ohne Hilfe unter der Last meines Rummers zu [ 1 verschmachten. Vielleicht, ich kann es wohl sagen, wäre es so eingetroffen, da haben einige Säde Geld mein Geschick geändert.

( Aus dem Russischen übersetzt von Dr. Carl Pinn.) Mostau! Mostau! Balb bin ich da! Eine einzige Station trennt mich noch von meiner schönen, heißgeliebten Heimathstadt! Dort weilt meine Pauline. Mit welcher Ungebulb habe ich ben weiten Weg zurückgelegt, mit welcher Haft Städte und Dörfer paffirt! Uab jest bin ich in ihrer, in Pauline's Nähe! Wie schlägt mein Herz! Wie wirbelt mir ber Ropf!

Ich habe nicht weiter reisen können. In Tschernocs Griafi mußte ich Halt machen und bat um ein 3immer; feit einer vollen Stunde wandere ich nun hin und her, gebe, stehe, fete mich und erhebe mich bald wieder vor fieberhafter Ungebulb. Ich denke an Pauline. Ich fann zur au fie benken. 3u einem derartigen Gedanken reicht die Ewigkeit nicht aus.

Ein grober Rellner fragte mich foeben, ob ich nichts zu effen oder zu trinken wünschte. Hält man fich benn des Effens und Trinkens halber in einem Dorfe auf? Rann man nicht ungestört bleiben, um von seinem Glüd und feinen Träumen zu leben?

Von feinen Träumen! Was habe ich da gefagt? Was für mich lange 3eit nur ein Traum war, ist zur Wirklichkeit geworden. O, Pauline, Du wirst mein sein!

Welch' wunderbare Nenderung in meiner Lage! Und wo burch ist sie herbeigeführt worden? Durch einige Golbßtücke. Vor kaum einem Monat befand ich mich in verzweifelter Lage. Mit welcher Tranrigteit betrachtete ich die Welt und ihre fröhlichen Feste, nicht etwa, als ob ich eine Beute des Neides gewesen wäre, nein, ich habe bies schimpfliche Ge­fühl nicht empfunden, sondern ich verspürte einen bitteren Echmerz, wenn ich die Blüdlichen auf Erben betrachtete, wenn ich bebachle, baß Gott alle Quellen zum Glüde in die Welt, in das menschliche Leben, in mein Herz gelegt hat, und ich war von einem glühenden Verlangen beseelt, welches

Doch wozu bin ich hier stehen geblieben? Ist dies auch eins jener sonderbaren Räthsel bes Daseins? Nein, mein Herz war zu voll der Erregung. Ich mußte im Ge fühl meines Glüdes innehalten. Wenn ich meinen Weg fortgefeht hätte, wäre ich erst in der Nacht in Moskau   ein­getroffen, unb wie hätte ich, einige Schritte von Pauline entfernt, ben Rest der Nacht zubringen können, ohne sie zu fehen? Das war unmöglich. Jetzt bin ich von ihr nur noch burch eine Entfernung von 20 Werft getrennt. noch burch eine Entfernung von 20 Werft getrennt. In einer Stunde kann ich dieselben zurüdlegen, und die ersten Schritte in Mostau werben nach ihrer Wohnung, die erste Person, die ich begrüße, wird sie sein. Es würde mir als ein Verbrechen erscheinen, meine Blide auf ein anderes Geficht als das ihrige zu lenten. Wie langfam schleichen die Stunden dahin! Diese Nacht ist länger als die längsten Winternächte in Lappland  . Sollte fich wirklich Mostaus Klima so verändert haben, daß die Morgenröthe bort erst um 9 Uhr Morgens anbricht? Doch es ist ja die letzte Nacht unserer grausamen Trennung. Morgen werden ich mit dem glüdlichen Gedanken erwachen, daß ich von nun ab täglich meine Pauline sehen werde. Mag auch diese Nacht sich unendlich von Minute zu Minute hinfchleppen; fie bilbet für mich ben lehten Tropfen meiner Bermuihsschale.

Soeben habe ich das Fenster geöffnet. Welch' töft liches Wetter! Welch' laue Luft! Es scheint, als ob diefer Sternenhimmel mich anlacht. Und da spricht man noch von ben bezaubernden Abenden Italiens  ! Es fann feinen ents audenberen als diesen hier geben. Das Zimmer, welches ich bewehne, ist in Dunkelheit gehüllt, gleichsam um meine Blide von den irdischen Bildern abzulenken, damit sie mit meiner Seele auf den Himmel gerichtet bleiben. Und jetzt könnte ich sogar einen ftechenden Schmerz an meinem Rörper verspüren, ich glaube, ich würde ihn mit sanftem Lächeln ertragen.

Rind! Raum bist Du ber Sorge entronnen, in der Du

( Bergl. No. 226, 227, 232.) IV.

Aus dem Charleroier Gebiet berichtet die Frankf Btg." weiter:

Es trat noch ein Minenarbeiter auf, der sich darüber bellagte, daß man an der Ueberwachung spare. Jhm seien im Bergwert zwei Kinder getödtet worden; es bleibe ihm nur eines, das von früb bis 5 Uhr Abends arbeiten müffe. Oft arbette es bis Mitternacht und doch habe man seinen Lohn um ein Drittel gefürst. Einmal babe man das Kind, ein Mädchen von 14 Jabren, 24 Stunden hinter einander arbeiten laffen, ohne ibm einen doppelten Tag gutzuschreiben. Wer beim Aufseher fich beschwere, werde

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beinahe ums Leben gekommen wäreft. und Du scheuft Dich nicht, an ihren Ufern zu spielen. Berwegener! Haft Du schon die Erinnerung an jene Nächte verloren, bie Du weis nend verbrachteft? Weißt Du nicht mehr, wie zahlreich fie waren, wie groß ihre Bitterleit? Ja, ich schaubere noch bei bem Gebanten, wie oft ich mich in der unmittelbarsten Nähe des Abgrundes befand. Wenn ich jedoch jetzt einen Mann sehen würde, der sich durch bas Unglüd in ben Strudel des Selbstmordes fortreißen läßt, so würde ich zu ihm sagen: Balte ein, laß Dich nicht durch die Verzweiflung überwältigen. Grenzenlos find die Gegenden der Hoffaung wie der Liebe!" Es gab eine Beit, wo ich ebenfalls auf die Hoffaung Ver sicht leistete, wo ich zwischen mir und Alice einen Abgrund gähnen fah. Wenn man mich nach meinen Erlebnissen fragen würde, was könnte ich erzählen? Ich liebte, ich wurde geliebt und wagte nicht zu glauben, baß die, welche ich liebte, mir eines Tages angehören sollte. Was ist dabei ungewöhnlich? Aber was nennen Sie eigentlich ungewöhnlich? Vergleichen Sie Ihre Tragödien mit dem Bilde, welches ein Vater barbietet, ber vor seinen Augen einen heißgeliebten Sohn dahinsterben fieht, oder eine Mutter, die ihre Kinder

um Brot bitten, welches fie in ihrer Armuth ihnen nicht gewähren kann. Täglich erneuert sich ein berartiges Schau fpiel in unseren prächtigen Städten, und Sie sehen es nicht

und Sie wissen nicht, in welch' entlegenen Schlupfwinkel fich der büftere Schmerz zurückzieht, oder mo diese arme Mutter mit ihren Kindern schmachtet. Wie oft entfernte ich mich, unter der Last meines eigenen Elends, weit vom Newsti Prospekt und begab mich fern vom rauschenden Treiben der Welt in jene büfteren Viertel, wo die Armuh ruht. Da befand ich mich in Mitten meiner Brüber, arm wie sie und leidend wie sie. Wie oft, wenn ich die elenben Bewohner einer der Seitengäßchen Petersburg's betrachtete, fagte ich zu ihnen bei mir selbst: Ich bin ärmer als ihr, obgleich ich nicht in Lumpen gekleidet bin, und ein fleines Theilchen der Gaben, welche das Schicksal an so viele andere verschwendet, ausreichen würde, um mich glücklich zu machen.

Wenn jeder Mensch die wahre Geschichte feines Herzens erzählen könnte, welcher Roman, welches Gebicht würbe einer derartigen Erzählung gleich kommen? Doch der

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