Nr. 302.
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Sonnabend, den 25. Dezember 1886.
3. Jayrg.
Berliner Volksblatt.
Organ für die die Interessen der Arbeiter.
Das„ Berliner Volksblatt"
erscheint täglich Morgens außer nach Sonn- und Festtagen. Abonnementspreis für Berlin frei in's Haus vierteljährlich 4 Mart, monatlich 1,35 Mart, wöchentlich 35 Pf. Postabonnement 4 Mart. Einzelne Nummer 5 Pf. Sonntags- Nummer mit der illustrirten Beilage 10 Pf. ( Eingetragen in der Postzeitungspreisliste für 1886 unter Nr. 769.)
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Redaktion: Beuthstraße 2. Expedition: Zimmerstraße 44.
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„ Berliner Volksblatt"
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Der Standpunkt unseres Blattes ist bekannt. Es steht auf dem Boden des unbeugsamen Rechtes. Die Erforschung und Darlegung der Wahrheit auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens ist seine einzige Aufgabe. Als treuer Berather und Streiter für die Aufhebung und Ausgleichung der Klaffengegen fäße ist das Berliner Volksblatt" ein entschiedener Gegner jeder Politik, die ihre Endziele in der Bevorzugung einzelner, heute schon bevorzugter Gesellschaftsklaffen findet.
Das Berliner Volksblatt" sucht seine Aufgabe durch fachliche Behandlung der politischen als auch der Tagesfragen zu erfüllen. Die gleichen Grundsäge leiten uns bei Besprechung unserer städtischen Angelegenheiten.
In unserm täglichen Feuilleton beginnen wir von heute an mit der Veröffentlichung des berühmten sozialpolitischen Romans
„ Sybil
der für unsere Leser von
von
Natalie Liebknecht
übersegt worden ist.
Wäre Disraeli nie in das englische Parlament gekommen," fagt Wilhelm Liebknecht , so würde er sich durch seine Romane einen dauernden Namen gemacht haben."
"
Daß Disraeli fich immer für die tieferen Strömungen im Bolle einen flaren Blick bewahrt hatte, das hat er namentlich Durch seine Sybil" gezeigt, welche die englische Arbeiterbewegung zu Ende der dreißiger und Anfang der vierziger Jahre behandelt. Er giebt von der Lage der Fabrikarbeiter in den großen Industriezentren und von den Bestrebungen der Gewerkschaften und der Chartisten die treueste und doch glänzendste Schilderung, welche die Literatur fennt.
Thue nun Jedermann, der sich mit unseren Zielen in Ueber einstimmung befindet, an seinem Plaze seine Schuldigkeit. Das Berliner Volksblatt" muß in immer weiteren Kreisen Eingang finden, für das werkthätige Volt darf in Berlin fein anderes Drgan eristiren.
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Rachbrad verboten.]
Feuilleton.
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deffen berühmten Roman Sybil wir in den FeuilletonSpalten unseres Blattes zu veröffentlichen gedenken, ist durch sein Leben, Wirken und Dichten eine der interessantesten und zugleich bedeutendsten Persönlichkeiten der neueren Geschichte. Unter der Ueberschrift:„ Ein Ritter vom Geist" widmete ihm die Neue Welt" im Jahrgang 1881( Nr. 32 und 33) als Nachruf eine biographische Stizze, welche wir hnachstehend, mit Erlaubniß des Verfassers und Verlegers, zum Abdruck bringen:
Ein Ritter vom Geift.
Am 21. Dezember 1804 als Judenjunge" geboren, am 19. April 1881 als Führer der stolzesten Aristokratie der Erde gestorben, betrauert von England, das in ihm den größten seiner neueren Staatsmänner bewundert, verdient Benjamin Disraeli , Graf Beaconsfield, wenn einer ihn verdient, den stolzen Titel t ,, Ritter vom Geist" ein Titel, den beiläufig er erfunden hat, lange vor dem Roman Gußkow's.
Ein Abenteurer", ein„ Emporkömmling" ist er genannt worden; gut! versteht man unter einem Abenteurer den Mann, der, einzig und allein auf sich selbst gestellt, die Welt erobern will und sie erobert dann war er ein Abenteurer und auch ein Emporkömmling.
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Das englische Sprüchwort: where there is a will there is a wav. wo, der Wille ist, da ist ein Weg, wäre das geeigneste Motto für eine Lebensbeschreibung Disraeli's .
Sein Großvater war im Jahr 1748 aus Venedig , wohin die Familie im 16. Jahrhundert während der Judenverfolgungen aus Spanien geflüchtet war, nach England über gefiedelt. Die Familie gehört der Raffe der Sefardim an,
§ 28.
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Die Rolle dieses fatalen Paragraphen des Sozialistengesetes, der die unter dem Namen kleiner Be lagerungszustand" bekannte Maßregel enthält, befindet sich immer noch in aufsteigender Linie. Wer da glaubte, der kleine Belagerungszustand werde keine weiteren Gebiete offupiren, der wuß sich bitter enttäuscht sehen. Das neue Gebiet, das nunmehr als belagert" anzusehen ist, ist der größte der einzelnen Landstriche, die von der Maßregel bisher betroffen worden sind. Es erstreckt sich längs des bisher betroffen worden sind. Es erstreckt sich längs des nördlichen Üfers des Mains von Hanau bis dicht vor Mainz . Die Mainlinie überschreitet der Belagerungszustand nach Süden zu, da, wo er das Stadtgebiet Frankfurt umfaßt. Nach Norden und Nordwesten erstreckt er sich weit in die Gebirgszüge des Taunus hinein.
Wir haben nicht zu den Leichtgläubigen gehört, welche sich einredeten, der Belagerungszustand werde in Spremberg stille stehen. Eine so tampfluftige Regierung wie die unsrige, die ohnehin den Vortheil hat, im Kampfe gegen die Parteien der weitaus stärkere Theil zu sein, läßt eine so scharfe Waffe, wie der§ 28 eine ist, nicht in der Scheide verrosten. Und wir sind der Ueberzeugung, daß der kleine Belagerungszustand bald auch an anderen Orten als bei Frankfurt den Main überschritten haben wird. Denn die hessischen Gebietstheile, in denen eine starke sozialistische Strömung herrscht, reichen zu nahe an das neuerdings belagerte Gebiet heran, ja sie stoßen an einzelnen Punkten dicht mit demselben zusammen. So wird es nicht ausbleiben, daß die hessische Regierung, namentlich wenn sich aus Frankfurt ausgewiesene Persönlichkeiten zahlreich auf den hessischen Gebietstheilen anfiebeln werden, gleichfalls
zur Anwendung des§ 28 schreiten wird, wozu ihr der Bundesrath die erforderliche Genehmigung schwerlich versagen wird.
Was die Erwerbsarten der von der Maßregel betroffenen Bevölkerung anbetrifft, so sind es im Hanauer Gebiet meistens Gold- und Silberarbeiter, sowie Tabaks- und Bigarrenarbeiter, welche sich an der politischen Bewegung betheiligt haben; in der Stadt Frankfurt sind dabei alle Branchen vertreten, besonders zahlreich aber Tischler und Schuhmacher, in Höchst meistens Metallarbeiter. Gold= arbeiter und Tischler werden wohl besonders hart betroffen. Für diese Branchen geht nach Weihnachten, resp. Neujahr die Saison vorüber und es wird ihnen schwer halten, anderswo Beschäftigung zu finden. Auch unter den Metallarbeitern, Maschinenbauern u. s. w. herrschte in der letzten Beit vielfach Beschäftigungslosigkeit diejenigen die noch einen erträglichen Verdienst hatten, konnten sich glücklich schätzen. Nun wird Mancher seine Arbeit verlassen müssen. Und das gerade zu Weihnachten und während in Südwest- Deutschland überall ein tiefer Schnee liegt, während draußen Wind und Schneegestöber tobt. Das ist ein sehr
und
d. h. der Juden, die niemals die Länder des Mittelländischen Meeres verlassen haben. Der Vater Benjamins, Isaak, geboren 1766, machte sich in der Gelehrtenrepublik einen Namen; und da er auch ein ansehnliches Vermögen besaß, so wurde für die geistige Ausbildung des schon früh außerordentliche Begabung verrathendeu Benjamin alles auf beboten.
In England waren die Juden bis in die Mitte dieses Jahrhunderts von der politischen Laufbahn ausgeschlossen um dieses Hinderniß aus dem Wege des Sohns zu entfernen, trat Isaak Disraeli im Jahr 1817 mit ihm zum Christenthum über.
Benjamin Disraeli ist aber, wenn nicht dem Glauben, doch den Traditionen seines Bolles treu geblieben; er hat mit Stolz semitische Abstammung bekannt, und in seinen Schriften jede Gelegenheit zur Verherrlichung der Juden benutt.
Man könnte sagen, er sei in dieser Beziehung geradezu aufdringlich gewesen, allein, wenn man Disraeli's Stellung bedenkt, den Vertreter der geächteten Raffe inmitten der Vertreter der ächtenden Rasse sich vorstellt, der wird zugestehen müssen, daß das Betonen des jüdischen Standpunkts hoher moralischer Muth war.
Eine Zeit lang versuchte es Disraeli mit der Juristerei; er wollte Advokat werden und begann die in England üblichen, praktischen Lehrjahre. Doch er kam bald von diesem verkehrten Gedanken zurück, und beschloß Schriftsteller und Politiker zu werden.
Kaum 20 Jahre alt veröffentlichte er seinen ersten Roman: Vivian Grey, der das größte Aufsehen erregte und die Aufmerksamkeit auf den Verfasser lenkte.
Seine politische Richtung ist hier schon angedeutet; sein Wesen scharf ausgeprägt.
Mehrere Jahre schrieb Disraeli nichts von Belang. Er reiste viel, studirte die Politik als Wissenschaft und nach dem Siege der Reformbill im Jahr 1832 ging er daran, sich einen Sig im Unterhaus zu erkämpfen.
trauriger Moment, um sich eine neue Heimath, eine neue Existenz zu suchen und die Familie zu verlassen.
Ueber die Gründe, welche zu der Anwendung des§ 28 auf Frankfurt , Hanau und Höchst führten, giebt der weiter unten abgedruckte Bericht in üblicher Weise Rechenschaft". Viel sagt er nicht und nur das Eine ist mit Sicherheit zu behaupten, daß die Frage der Verhängung des fleinen Be lagerungszustandes über Frankfurt und Umgebung schon lange in der Schwebe war. Bekanntlich tauchte schon bei der Ermordung des Polizeiraths Rumpff die Frage auf, ob der kleine Belagerungszustand nicht über Frankfurt zu verhängen sei. Damals sollen die Verwaltungsbehörden davon abgerathen haben, eine so große Bevölkerung für die That eines Einzelnen oder Einzelner büßen zu lassen. Heute wird mitgetheilt, die jüngst in Frankfurt stattgehabten Verhaftungen, die sich auf etwa 40 Personen erstreckien, hätten die Verhängung des Belagerungszustandes unbedingt nöthig ge= macht; man sei einer weitverzweigten geheimen Verbindung Nun, wenn dies einen Grund auf die Spur gekommen. abgeben soll, so hätte unseres Erachtens doch erst der Ausgang der Untersuchung gegen die Verhafteten abgewartet werden müssen. Es steht doch noch nicht fest, daß sie von den Gerichten auch der Vergehen schuldig befunden werden, wegen deren Polizei und Staatsanwaltschaft gegen sie einschreiten. In Spremberg ist freilich der Ausgang der angestrengten Prozesse auch nicht abgewartet worden.
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dem
Auf den Landstrich, wo sich Rhein und Main ver= man in Berlin immer ein besonderes binden, hat Augenmerk gehabt. Man denke daran, daß schon vor etwa zehn Jahren wenn wir uns recht erinnern Reichstage der Antrag vorgelegt wurde, aus dem Wahlkreise Offenbach- Dieburg einige Gebietstheile auszuscheiden, und zwar waren es gerade diejenigen, die am stärksten von sozialistischen Elementen besetzt waren.
Man sieht, der Belagerungszustand schreitet langsam, aber sicher vor und besetzt die Zentralpunkte des öffent= lichen Lebens. Daß dies möglich ist, verdankt man jenen Freisinnigen, die im Jahre 1884 die Verlängerung des Sozialistengesezes herbeiführten, und Herrn Windthorst und Genossen, die zwar gegen eine Verlängerung reden, aber ihre Prätorianer für dieselbe stimmen lassen. Beide Theile werden bei den Wahlen die Kosten für den Vormarsch des Kleinen Belagerungszustandes nach Süden zu bestreiten haben.
Politische Uebersicht.
Der handelspolitische Kampf zwischen den einzelnen Staaten Europas beginnt immer heftiger zu wüthen! Das Jahr 1887 scheint an zoll- und handelspolitischen Verwickelun gen ganz besonders reich werden zu sollen. In weit größerem Umfange als je zuvor seit Beginn der gegenwärtigen Schutzzoll- Acra bereitet man neue Erschwerungen für den internatio nalen Verkehr vor. Halb Europa fast tritt in das neue Jahr
Er hatte keine Partei hinter sich, und obgleich wohl= habend, doch nicht eins jener Vermögen, die eine Macht sind.
Das erste Mal fiel er durch. Das zweite Mal fiel er durch. Aber er wollte siegen, und schließlich siegte er. Im Jahr 1837 wurde er in Maidstone gewählt.
Mittlerweile hatte er sich ein politisches System zurecht gezimmert, das ein eigenthümliches Gemisch von Radikalismus und Konservatismus bildet und in keine der alten Parteischablonen paßte.
Ein Feuerkopf, brauste er vor Begierde, das Unterhaus im Sturm zu nehmen. Er rüstete sich zu einer gewaltigen Jungfernrede. Das Unterhans, dem vor seinen kezerischen Ansichten graute, und in dem er gar manchen persönlichen Feind fißen hatte denn er war zu jener Zeit in der Polemik ebenso boshaft wie wißig hatte sich vorgenommen, den Judenjungen" nicht anzuhören. Und nun entstand ein Kampf zwischen Redner und Haus.
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Das Haus lacht, spricht, wirft ihm beleidigende, höhnende, verächtliche 3wischenrufe an den Kopf.
Disraeli redet laut und lauter. Bulegt siegen die vielen über den einen. Er kann den Lärm nicht durchdringen. Wüthend seßt es sich nieder mit den Worten:
Ich wundere mich durchaus nicht über die Aufnahme, welche Sie mir bereitet haben. Ich habe Manches mehrere Male anfangen müssen, und ich habe meistens meinen Zweck erreicht. Ich sehe mich jetzt, aber die Zeit wird kommen, wo fie mich hören werden!"
Und sie fam.
Seine Ideen über Staat und Gesellschaft, über Regierung und Politik brangen in immer weitere Kreise. Unerbittlich wurde die Hohlheit des Liberalismus und die Heuchelei des Whigthums von ihm gegeißelt, und die Konservativen merkten bald, daß der hochaufgeschossene blasse Mann mit der Denkerstirn und den jüdischen Zügen das Beug in sich habe, ihren Gegnern gefährlich zu werden. Indeß lange graute es ihnen vor dieser unheimlichen Genialität, vo