Nr. 231.
Donnerstag, den 3. Oktober 1889.
6. Jahrg.
Berliner Volksblatt.
Organ für die Interessen der Arbeiter.
"
erfcheint täglich Morgens außer nach Sonn- und Festtagen. Abonnementspreis für Berlin frei in's Haus vierteljährlich 4 Mart, monatlich 1,35 Mart, wöchentlich 35 Pf. Einzelne Nummer 5 Bf. Sonntags- Nummer mit dem Sonntags- Blatt" 10 Pf. Bei Abholung aus unserer Expedition Zimmerstraße 44 1 Mart pro Monat. Bostabonnement 4 Mart pro Quartal. ( Eingetragen in der Postzeitungspreisliste für 1889 unter Nr. 866.) Für das Ausland: Täglich unter Kreuzband durch unsere Expedition 3 Mart pro Monat.
Redaktion: Beuthffraße 2.
Die Orientfrage im Unterrock.
Wir würden wenig Notiz nehmen an dem widerwär tigen Schauspiel, das sich zur Zeit in Belgrad bietet, wenn dasselbe für die Situation Europa's nicht so außerordentlich charakteristisch wäre. Ein intriguantes Weib, die ehemalige Königin von Serbien und Mutter des minderjährigen serbischen Königs, erscheint in Belgrad und sogleich ist die Hauptstadt des Serbenreichs in fieberhafter Aufregung. Lärmende Ovationen werden der Frau dargebracht, angesichts deren sich ein ruhig denkender Mann unwillkürlich die Frage vorlegen muß, welche Verdienste um die politische Entwickelung Serbiens die gefeierte Dame denn aufzuweisen hat. Die Beitungen sind von ernsten Befürchtungen erfüllt und sprechen die Hoffnung aus, der Besuch dieser Dime werde hoffentlich keinen neuen Brand auf der Balkan halbinsel entfachen, von dem man nicht wissen könne, wie weit er um sich greifen werde. Das ist also das europäische Gleichgewicht in der Aera des bewaffneten Friedens, das schon durch den Besuch einer ehemaligen Königin von Serbien in's Wanken gebracht wer
den kann.
Nun, wir sehen die Sache nicht so schwarz an, wennschon wir das lärmende Auftreten der Serben für ebenso widerwärtig wie gefährlich halten. Die Regentschaft Serbiens ist schon nicht so heißblüthig wie gewisse andere Leute. Wer mag überhaupt die Bevölkerung sein, die den ganzen Lärm macht und die vor lauter Begeisterung der ehemaligen Königin den Wagen aufhält? Man wird ja förmlich an die Indier erinnert, die sich aus Verehrung für die Gottheit Dschaggernaut unter die Räder von deren Wagen warfen und sich in Stücke fahren ließen. Wenn Natalie einmal mit dem großen russischen Triumpfwagen in Belgrad einfahren sollte, werden die Unabhängigfrits= und Freiheitsgedanken in Serbien bald water den Rädern dieses Wagens zermalmt sein. Lassen sich die Arbeiter Belgrads , unter benen einst eine so starke sozialistische Bewegung sich geltend machte, auch als Staffage gebrauchen bei der Verherrlichung des persiden Intriguenspiels der russischen Diplomatie? Wir
glauben kaum. Streber, Abenteurer und Spießbürger, die ihren Verdienst vom Lohn ziehen, werden wohl den Haupttheil der russenfreundlichen Demonstrationen auf sich ge= nommen haben.
Dann kommen noch verschiedene Umstände hinzu, die ihr Theil beitragen, die Erkönigin für die Masse interessant zu machen. Sie hat von ihrem Manne, dem Erkönig Milan, von dem sie geschieden ist, offenbar eine unwürdige Behandlung erfahren. Das hat ihr die Sympathien bes Volkes gebracht. Es giebt viele ähnliche Fälle in der Geschichte; wir erinnern nur an den bekannten Prozeß der Rönigin Karoline von England und an die Sym
Feuilleton.
Machdruck verboten.]
[ 81
Ein Goldmensch.
Als der entsprungene Sträfling zu Timar sagte:„ Und nun sprich, was ich mit Dir thun foll?" stand er ganz entkleidet vor ihm, und Timar mußte alle jene schrecklichen Wundenmale sehen, mit denen er von Kopf bis zur 3ehe ftigmatifirt war. Und eben so nackt stand des Elenden Seele vor ihm, auch sie voll widerwärtiger Wundenmale, die gleichfalls seine Hand ihm geschlagen.
Dieser Mensch weiß recht gut, daß Timar ein frevles Spiel mit ihm getrieben. Und jetzt ist er in den Händen dieses Menschen auf Gnade und Ungnade. Nicht einmal sich physisch gegen ihn zu wehren, fühlte er die Kraft in fich. Seine Glieder waren von einer solchen Mattigkeit befallen, wie die eines mit Schläfrigkeit Kämpfenden. Der Anblic diefer mit Wunden bedeckten Gestalt hatte wie ein böser Bauber eine entnervende Wirkung auf ihn. Der Abenteurer meiß das recht gut. Er beobachtet gegen ihn auch keine Vorsichtsmaßregeln mehr. Von seinem Stuhl sich erhebend, lehnt er die Flinte an den Kamin und spricht mit abgewandtem Gesicht über die Schulter hin zu Timar. Nun, jezt will ich ans Toilettemachen gehen. Bis ich damit fertig geworden, hast Du Beit, Dir eine Antwort auf meine Frage zu überlegen, was ich mit Dir thun soll."
Damit schleuderte er seine zerlumpten Kleidungsstücke eines nach dem andern in den Kamin, wo sie prasselnd aufloderten, so daß die Flamme zum Schornstein hinausfuhr. Hierauf beginnt er mit aller Gemächlichkeit die von Timar erhaltenen Kleider anzuziehen. Auf dem Kaminsims fand
-
Insertionsgebühr
beträgt für die 4 gespaltene Petitzeile oder deren Raum 40 Pf., für Vereins- und VersammlungsAnzeigen 20 Pf. Inferate werden bis 4 Uhr Nachmittags in der Expedition, Berlin SW., Bimmerstraße 44, sowie von allen Annoncen- Bureaux, ohne Erhöhung des Preises, angenommen. Die Expedition ist an Wochentagen bis 1 Uhr Mittags und von 3-7 Uhr Nachmittags, an Sonn- und Festtagen bis 10 Uhr Vormittags geöffnet. Fernsprecher: Amt VI. Mr. 4106.
Expedition: Bimmerffraße 44.
pathien, die das englische Volt dieser fast unbedeutenden Frau widmete.
Milan, der wohlbeleibte Erkönig von Serbien , hat sich der schwierigen Situation, die sich für einen serbischen Regenten auf der Balkanhalbinsel ganz von selbst ergiebt, in keiner Weise gewachsen gezeigt. Er hat seinerzeit sich von den Russen zum voreiligen Krieg gegen die Türkei treiben lassen, wobei der alte Nationalhaß der Serben gegen die Türken entscheidend mitgewirkt hat. Gegen die schwächliche Oberherrschaft der Pforte tauschte Serbien die russische Freundschaft" ein, deren Bedenklichkeit anch dem sonst so furzsichtigen Milan auf die Dauer nicht verborgen bleiben fonnte. Er fing an, sich unsicher zu fühlen und schwankte zwischen Oesterreich und Rußland hin und her, ließ sich zum Krieg mit Bulgarien verleiten und ward gründlich geschlagen.
Ein russischer Diplomat, Ignatiem, hat einmal gesagt: Wenn Alles nichts hilft, so müssen wir zur ultima ratio schreiten, zum Unterrod.
In Serbien hat die russische Diplomatie das Aeußerste nicht abgewartet. Die Ehe Milan's mit Natalien war zerrüftet, da Milan seine Gattin, wie es scheint, vernachlässigt hat. Die russische Diplomatie wußte dies geschickt zu benußen und die Königin Natalie ward eine russische einmal die Mühe, dies zu verbergen, und man hat es auch Agentin, die sie heute noch ist. Man giebt sich nicht nicht nöthig.
Die Scheidung Milan's von seiner Gattin wurde dadurch zu einem eigentlich politischen Akt. Aber sie trug nur dazu bei, das Ansehen Milan's noch mehr zu schwächen. Die brutalen Gewaltstreiche seiner Regierungen, namentlich bei den Wahlbewegungen, die wachfende Schuldenlast des Landes und hundert andere Ünistände hatten die 3ahl seiner Feinde zu sehr vermehrt, als daß er noch einen sicheren Halt bei irgend einer Partei hatte finden können. Er dankte ab im Gefühl seiner Unfähigkeit und es wurde eine Regentschaft eingesetzt mit dem bekannten russenfreundlichen Parteigänger Nistic an der Spite.
Das ist die Situation. Inzwischen hat man die Idee Inzwischen hat man die Idee von einem Großserbien, von einer Wiederherstellung des alten Serbenreichs, in die Massen geworfen. Die russische Diplomatie will die Wirren auf der Balkanhalbinsel um jeden Preis schüren und fördern und es gelingt ihr nur zu gut.
von
Die Serben sind leicht beweglich und leichtsinnig. Der Anblick ihrer ehemaligen Königin hat sie in Efstase versetzt und sie sind Feuer und Flamme für die großserbische Idee. Daß sie doch in Natalien die einfache Agentin Ruß lands lands erkennen möchten! Aber was soll man Leuten sagen, deren Blut sich so leicht erhitzen läßt! Die Serben sollten die Folgen ihres Treibens ernster in Erwägung ziehen. Wenn ein neuer friegerischer Brand auf der Balkanhalbinsel emporflammt, so werden die Serben seine Verheerungen vielleicht am Empfindlichsten verspüren.
er Timars Uhr; diese steckte er sich in die Westentasche. Dann neftelte er Timars Hemdenknöpfe in das Vorhemd ein. Auch dazu fand er 3eit, vor dem Spiegel sich seinen Schnurrbart aufzuwichsen. Als er damit fertig geworden, warf er den Kopf in die Höhe und stellte sich mit ausgespreizten Beinen und gekreuzten Armen vor den Kamin hin. Nun, wird's Kamerab?"
Timar begann zu reden. Was verlangen Sie von mir?"
,, Aha! Hab' ich Dir endlich die Zunge gelöst? Wie nun, wenn ich zu Dir sagen würde: nun, wenn ich zu Dir sagen würde: Auge um Auge, Bahn für 3ahn". Geh hin, lass' Dir das Galgenzeichen einbrennen, Dich an die Galeerenbank schmieden, irre umher zu Land und Meer, durch Wüsteneien und Städte, be= ständig auf der Flucht vor den Haifischen, Indianern, Jaguars, Klapperschlangen und Polizeischranzen;
-
-
lass' Dir dann in einem Duell von dem Verehrer Deiner Frau einen Säbelbieb über den Schädel versehen, laß' Dir den Arm zerfleischen von dem Hunde Deiner Geliebten, und dann wollen wir mit einander theilen. Aber sieh', ich bin nicht so unbarmherzig. Ich rede Dir nicht mehr von meinen Wunden vor Hundeknochen heilen schnell. Ich will gnädiger mit Dir verfahren. Ich muß eine Beit lang aus der bekannten Welt verschwinden; muß eine Beit lang aus der bekannten Welt verschwinden; denn jetzt verfolgt man mich schon nicht blos deshalb, weil ich Deine Gelder ausgegeben. Mein Entweichen von den Galeeren und auch den ins Wasser geworfenen Aufseher verzeiht man mir nicht. Dein Gelb ist mir daher eine Beit lang nichts nüße, bis ich nicht dies Brandmal und die Kettennarbe los geworden bin. Das erstere werd' ich mir mit Wolfsmilch wegäßen, für die letzteren giebt es Mineralbäder. Davor habe ich keine Angst, daß Du meinen Verfolgern auf meine Spur hilfft. Dazu bist Du zu vernünftig. Aber Vorsicht ist die Mutter der Weisheit. Trotz unserer dicken Freundschaft könnte mic's dennoch einmal
Man glaubt manchmal in der Zeitrechnung irre zu sein. Unsere Geschichtsschreiber spotten so oft darüber, daß im vorigen Jahrhundert Bustände existirten, unter denen eine Pompadour oder eine Dubarry im Stande waren, aus Laune einen Krieg zu entfachen.
Sind wir weit über diese Zustände hinaus gekommen, wenn das Auftreten eines Weibes in Belgrad genügt, um die öffentliche Meinung mit Kriegsbefürchtungen zu ers füllen?
Korrespondenzen.
Büridy, 29. September. Die schweizerischen Staatsmänner triumphiren, denn ihr Bundesanwalt ist gerettet! Die Sozialdemokraten haben mit ihrem Referendumsbegehren Fiasko gemacht. Der gefunde Sinn des Volkes hat sich nicht verführen ihrem Erfolge zufrieden zu sein und kein Fiasko zuzugeben. lassen. Allein die Sozialdemokraten sind boshaft genug, mit Es find 24 800 Unterschriften gesammelt worden und zu diesem Ergebniß bemerkt der Schweizer . Sozialdemokrat":" Für die erste felbft ständige politische Aktion der sozialistischen Arbeiterschaft ist das ganz befriedigend, obgleich mir freilich inficht find wir, wie gesagt, mit diesem Resultate nicht unbedauern, daß nun der eidgenössische Ober- Polizei- Inspektor nicht vor die Voltsabstimmung kommen soll. In parteilicher Gegnern diese 24000 Stimmen schwer auf dem Magen liegen, zufrieden. Wir sind auch überzeugt, daß unseren politischen wie sie denn auch unserer politischen Polizei ihren freiheitsmörderischen Weg ziemlich übel pflastern." Mit der Zahl der gesammelten Unterschriften steht der Kanton Zürich mit 6750 obenan, dann kommen die Kantone Bern mit 4193, St. Gallen mit 2036, Luzern mit 1666, Solothurn 1157, Baselstadt 1128, Zug 962, Baselland 896, Graubünden 895, Freiburg 730, Glarus 657, Genf 575, Schwyz 550, Appenzell 663, Aargau 419, Schaffhaufen 352, Neuenburg 345, Thurgau 314, Waadt 191, Uri 177, Appenzell Innerhoden 79, Wallis 69 und Tessin 41.
Das Gefeß, betreffend den Bundesanwalt, tritt nunmehr in Rechtskraft und bald wird der neue Beamte, Herr Scherb, aus dem Kanton Thurgau , seinen Einzug in die Bundesstadt halten. Wenn er sich anschicken sollte, die Erwartungen zu erfüllen, die die freiheitsmörderische Bourgeoisie an seine amtliche
Thätigkeit stellt, so ständen wir vor einer neuen politischen
Aera in der Schweiz , vor einer Aera, deren Hauptmerkmal die fanatische Verfolgung der fozialdemokratisch gesinnten Proletarier sein würde. Gegen etwaige derartige Ausschreitungen gewährte die versprochene Opposition der demokratischen Partei nur einen schwachen Trost, denn der Mannesmuth dieser immer wäfferiger werdenden Demokratie scheint nicht lange Stand zu halten. Was kann man von einer Partei im Kampfe gegen die politische Polizei erwarten, wenn sich ihre hervorragendften Führer und„ Staatsmänner", wie der Chefredakteur Ziegler des Winterthurer Landboten" gethan, so weit erniedrigen und ausländische Sozialdemokraten dem kommenden Generalanwalt als willkommene Beute denunziren?
Während vor einigen Tagen die Beendigung der An
pafsiren, daß auf der Gasse mir Iemand einen Schlag auf den Kopf versetzt, oder es fönnten mich unterwegs einige gefällige Strauchdiebe erschießen, oder ein freundschaftlich bargereichtes Glas Wein mich dorthin expediren, wohin Al Tschorbadschi sich entfernt hat. Nein, mein Bester, ich würde nicht wagen, Dich darum zu ersuchen, mir diesen Weinkrug noch einmal zu füllen, selbst wenn Du zuerst daraus trinken würdest. Ich werde gewaltig auf meiner Hut sein." Was brauchen Sie also?"
Sie! Du willst, wie ich merke, nicht auf dem Dut fuß mit mir stehen. Meine Gesellschaft ist depravirend für Dich. Aber fragen wir erst, was der hochedle Herr selber braucht. Doch wohl, daß ich reinen Mund über alle die Geheimnisse halte, in deren Besit ich gelangt bin. Der Hochedle Herr wäre vielleicht nicht abgeneigt, mir dafür eine Rente von hunderttausend Franks in französischen Staatspapieren sicherzustellen."
Ja."
Timar bedachte sich nicht erst, sondern antwortete:
Der Vagabund lachte. Ich brauche kein so großes Opfer, Euer Gnaden. Ich sagte schon, mit Geld ist mir nicht geholfen in der Wüste. Ein so gebrandmarktes Individuum, mit so schlechten Angewohnheiten, steckt man überall ein, und was helfen mir dann meine Hunderrttausend Franken Apanage? Was ich brauche, das ist, wie gesagt, Ruhe und ein Ort, wo ich sicher mich verborgen halten kann, und zwar auf eine geraume 3eit, und wo ich nebenbei eine bequeme und sorgenlose Existenz finde. Nun, ist das nicht ein billiges Verlangen?"
Bei diesen Worten nahm er wieder die Flinte vom Ramin, setzte sich nieder auf den Stuhl und hielt das Gewehr mit beiden Händen so vor sich hin, um jeden Moment schußbereit zu sein. Ich verlange also jezt nicht die hunderttausend Franks Rente von Euer Gnaden, ich verlange weiter nichts, als die herrenlose Insel."