37

t.

8.

Ur. 235

Dienstag, den 8. Oktober 1889.

6. Jahrg.

Berliner Volksblatt.

Organ für die Interessen der Arbeiter.

Das Berliner Boltsblatt"

erfcheint täglich Morgens außer nach Sonn- und Fefttagen. Abonnementspreis für Berlin frei in's Haus vierteljährlich 4 Mart, monatlich 1,35 Mart, wöchentlich 35 Pf. Einzelne Nummer 3 Pf. Sonntags- Nummer mit dem Sonntags- Blatt" 10 Pf. Bei Abholung aus unserer Expedition Zimmerstraße 44 1 Mart pro Monat. Postabonnement 4 Mart pro Quartal. ( Eingetragen in der Postzeitungspreislifte für 1889 unter Nr. 866.) Für das Ausland: Täglich unter Kreuzband durch unsere Expedition 3 Mart pro Monat.

Redaktion: Beuthstraße 2.

-

Insertionsgebühr

beträgt für die 4 gespaltene Petitzeile oder deren Raum 40 Pf., für Vereins- und Versammlungs­Anzeigen 20 Pf. Inferate werden bis 4 Uhr Nachmittags in der Expedition, Berlin SW., Bimmerstraße 44, sowie von allen Annoncen- Bureaux, ohne Erhöhung des Preises, angenommen. Die Expedition ist an Wochentagen bis 1 Uhr Mittags und von 3-7 Uhr Nachmittags, an Sonn- und Festtagen bis 10 Uhr Vormittags geöffnet. Fernspredjer: Amt Vl. Nr. 4106.

Expedition: Bimmerffraße 44.

theuern, sondern hauptsächlich den, die gesammten im In­land erzeugten Lebensmittel zum mindesten um diesen Boll­

Die Steigerung der Lebensmittel- Preise. betrag zu steigern man nannte dies: der bedrohten

I.

-

Wenn eine Erscheinung unseres wirthschaftlichen Lebens geeignet ist, den ganzen Wahnsinn und Widersinn des gegen­wärtigen Wirthschaftssystems vor Aller Augen blos zu legen, so doch jene, daß heute gute, ertragsreiche Ernten geradezu als allgemeine Kalamität für die Landwirthschaft betrachtet werden und betrachtet werden müssen. Was der Bauer sonst als Segen des Himmels" zu erflehen gewohnt war, ver­wandelt sich heute für ihn zum Fluch eine allgemein reiche Ernte macht den kleinen Bauer gerade so bankerott wie ein völliges Mißjahr; was ihn halbwegs, zum Vortheil feiner Hypothekengläubiger, am Leben erhält, ist eine mittel­mäßige Ernte, welche die Kornpreise, wenn nicht steigen, fo doch auf alle Fälle nicht sinken läßt. Und zumal in jüngster 3eit sind die Preise für die nothwendigsten Lebens­mittel, Fleisch und Brot, in solch' erschrecklichem Maße in die Höhe geschnellt, daß die Reptilienblätter und deren verwandte Organe, die kleine Provinzialpresse, einen förm­lichen Preßfeldzug unternehmen müssen, um die im Volke ührende Unzufriedenheit gegen die Brotvertheuerer auf Nebenpfade abzulenken.

So groß ist das Mißbehagen in allen Bevölkerungs­fchichten, daß sogar diese Preßkosaken gezwungen sind, ihre Gier nach erhöhten 3öllen für den Augenblick zu verbergen und all ihr Mühen darauf zu konzentriren, mit Taschen­Spielerkünften und Jahrmarktsgekreische den Scheinbeweis dafür zu erbringen, daß einerseits die exorbitanten Schutz­zölle an diefer Erhöhung keine Schuld tragen und daß an­berseits diese Vertheuerung der nothwendigsten Nahrungs­mittel völlig ausgeglichen werde durch die inzwischen- er­höhten Arbeitslöhne.

Wie verhält es sich nun damit? In solchen Fällen reben die einfachsten Bahlen die beredteste Sprache.

Sehen wir uns nur einmal die Getreide und Vieh zölle an, wie sie sich seit 1885 bezw. 1887 gestaltet haben. Fer Doppelzentner zahlen gegenwärtig 3oll: Roggen 5 M., Weizen 5 M., Gerste 2,25 M., Hülsenfrüchte 2 M., Mühlenfabrikate aus Getreide und Hülsenfrüchte 10,50 M., Butter( Natur- wie Kunst-) 20 M., Käse aller Art 20 M., Eier 3 M., Obst( gedörrt und getrocknet) 4 M., Fleisch, Fleischertraft, Suppentafeln 20 M., Fische 3 M., gefalzene Häringe per Faß 3 M., lebendes Vieh, 1 Ochse 30 M., 1 Jungvieh bis zum Alter von 2 Jahren 6 M., Schweine ( ausschließlich der Spanferkel unter 10 Rgr.) 6 M., Kälber ( unter 6 Wochen) 3 M., Schafe 1 M., Lämmer 50 Pf. Echmalz und schmalzartige Fette von Schweinen und Gänsen 10 M.

Alle diese 3ölle haben nun doch nicht blos den 3weck, die aus dem Ausland kommenden Lebensmittel zu ver­

Feuilleton.

Rachdrud verboten.]

[ 85

Ein Goldmensch.

Roman von Maurus Jókai .

Als Mitgift hält sie hunderttausend Gulden für fie in Bereitschaft. Sie hat dies Athalie gesagt. So vic! hatte ihr auch Michael bestimmt. Sie will Athaliens Glück begründen. Sie glaubt, sie fönne ihr den Preis für den verlorenen Bräutigam bezahlen. Und marum sollte sie das nicht glauben? Hat doch Athalie selbst freiwillig auf ihn verzichtet. Als Timar ihr die Mitgift an bot, hatte sie da nicht gesagt:" Ich will von diesem Menschen nichts mehr wissen, weder in dieser noch in der anderen Welt!" Timea weiß nichts von dieser nächtlichen Szene, als Athalie heimlich ihren Bräutigam, der sie verlassen hatte, auffuchte und von ihm fortgeschickt wurde, allein und lieb­los. Und Timea weiß nicht, daß das Weib den Mann, welchen es haßt, noch weniger einer anderen überläßt, als den Mann, den es liebt; daß der Haß des Weibes nur in Gift verwandelte Liebe, aber auch dann noch Liebe ist. Aber Ratschuka erinnert sich sehr wohl jener nächtlichen Be­gegnung; darum zittert er für Timea und wagt nicht, es ihr zu fagen.

Es fehlte nur noch ein Tag bis zum Susannentag. Timea hatte von der Trauer allmälig ein Stück nach dem andern abgelegt, als fiele es ihr schwer, sich auf einmal von ihr zu trennen, und als wollte sie langsam an die Freude fich gewöhnen. Zuerst erlaubte sie sich weiße Spitzenbefäße an ihrem Kleide; dann vertauschte sie das Schwarz mit Aschgrau und substituirte dem rauhen Wollstoff glatte Seide; dann mengten sich weiße Karrés in das ein­törige Grau; zulegt blieb von der Trauer für Michael

Landwirthschaft aushelfen. Und dieser 3weck war auch vollauf erreicht.

In seiner Reichstagsrede am 31. Januar d. I. hat Bebel von 92 verschiedenen Orten die Preissteigerungen zus sammengestellt, die vom Herbste 1888 bis Januar 1889 sich an je 1 Pfd. Brot ergeben haben. Von diesen 92 Orten ist das Pfund Brot in 11 Orten um 1 Pf. im Preis ge­stiegen, in 21 Orten um 14 Pf., in 29 Orten um 2, in 17 Orten um 2, in 11 Orten um 3 und in 3 Orten um 4 Pf.! Im Durchschnitt ist also das Pfd. Brot um mehr als 2 Pf. vertheuert worden, seit Januar ist aber bekannt­lich abermals eine Steigerung hinzugetreten. Nehmen wir nun an, die Preiserhöhung betrage 2 Pf., so ergiebt sich für eine Familie von 4 Brotessern eine jährliche Mehraus­gabe für Brot allein von 31,15 M., bei 6 Brotessern be trägt die Mehrausgabe schon 43,65 Mart und bei 7 gar 59 Mart. Nehmen wir, was der Wirklich feit am nächsten tommen, sie aber jedenfalls nicht überschreiten wird, 3 Pf. als durchschnittliche Steigerung an, so ergiebt sich für jede Arbeiterfamilie eine Mehrausgabe pro Jahr von 36,66 M., 55,53 und bezw. 64,25 M. Und in allen diesen Berechnungen ist das Frühstücksbrot und der Mehrkostenpreis des Mehls für Suppen, Mehlspeisen 2c. nicht inbegriffen. Durchschnittlich beträgt also diese Mehr­ausgabe ca. 12 bis 15 pet. des gesammten Jahreseintom­mens einer deutschen Arbeiterfamilie. Wie gesagt, diese 12 bis 15 pet. Mehrausgaben sind aber aus die Differenz aus der Brotsteigerung, alle anderen indirekten Steuern haben gleichfalls aus der Tasche des Arbeiters mit vollen Händen gefchöpft es war ja ein förmliches Wettlaufen der beut­fchen Agrarier und sonstigen Schutzöllner um die Taschen des armen Mannes.

-

Alle diefe Mehrausgaben, die der deutsche Arbeiter in Gestalt der auf seine Schultern gewälzten indirekten Steuer­last des Reiches zu tragen hat, sollen nun durch die in den legten Jahren erhöhten Löhne ausgeglichen sein eine Be­eine Ve­hauptung, für welche bisher der Beweis weder erbracht noch zu erbringen auch nur versucht wurde. Wir haben bekannt­lich in Deutschland für Alles Gelb, nur nicht zu einer Lohn­und Arbeitsstatistik; wir haben Enqueten über alle mög= lichen Dinge, nur nicht hierüber; wir haben erst jüngst eine Enquete über bezw. gegen die Aufhebung der Sonntags­arbeit gehabt, jest wieder eine über die Mißbräuche in den Bergwerksbetrieben, aber der Fluch aller dieser Enqueten ist, daß wir daraus wie aus den Berichten der Fabrik­inspektoren nicht das erfahren, was die Arbeiter kennen zu lernen begierig sind, sondern das, was die Regierungen wissen wollen, und ein fernerer Fluch, daß diese Enqueten, bezw. das, was daraus publizirt wird, von vornherein dazu bestimmt sind, Waffen gegen die Forderungen der Arbeiter­

-

Levetinczy nur noch die schwarze Spitzenhaube übrig. Auch diese wird am Safannentag in die Kammer der alten Kleinodien wandern müssen. Die schöne neue Haube, aus theueren Valencienner Spitzen, ist schon da; sie muß nur erst pro­birt werden.

Eine unglückliche Anwandlung von Eitelkeit bewog Timea, mit dem Probiren der neuen Haube bis zur Ankunft des Majors zu warten. Ist doch für eine junge Wittwe die Spitzenhaube das, was für die Jungfrau der Brautkranz ist. Der Major ließ aber an diesem Tage lange auf sich warten. Der Grund davon war, daß das in Wien be stellte weiße Rosenboquet so spät anlangte. In diesem Jahre ist dies bereits der zweite Namenstagsstrauß. Nun er darf ja Timea auch schon am Susannentag gratu­liren. An dem Tage, welcher diesem Namenstage vorausging, traf eine ganze Fluth von Gratulationsbriefen und Briefchen für Timea ein. Sie hat eine ganze Legion Bekannte nah und fern, pflichtschuldige und freiwillige Verehrer. Timea öffnet jetzt feinen einzigen von diesen Briefen; fie liegen aufgehäuft in einem filbernen Körbchen auf dem Tisch. Unter den Briefen sind auch viele von Kinderhand geschriebene. Timea hat in der Stadt und auf dem Lande hundertvierundzwanzig Pathenkinder, Knaben und Mädchen. Es sind dies primitive Gratulationen. Timea hatte sonst an diesen naiven Glückwünschen sich gern ergött. Jetzt aber sind ihre Gedanken zu sehr mit dem beschäftigt, was ihr bevorsteht.

" Sieh' einmal, was das für ein komischer Brief iſt," sagte Athalie, einen der angelangten Briefe in die Hand nehmend. ,, Statt des Wappenfiegels ist hier ein Goldfäfer angeklebt." Und mit was für einer seltsamen Tinte die Und mit was für einer seltsamen Tinte die Adresse geschrieben ist!" bemerkte Timea. Leg' ihn zu den übrigen, morgen werden wir ihn lesen." Irgend eine ge­heime Stimme flüsterte Timea zu, daß es gut wäre, diesen Brief schon heute zu lesen. Es war der Brief des kleinen Brief schon heute zu lesen. Es war der Brief des kleinen Todi, den man zu den übrigen warf.

laffe zu liefern. Mit der Statistik geht's vorderhand noch wie mit dem Chamäleon Gneist man kann damit Alles beweisen. Wenn irgendwo das Bismard'sche Wort der be­stellten Arbeit" und das Jacoby'sche: Es ist das Unglück der Könige, daß sie die Wahrheit nicht hören wollen zutrifft, so hier.

-

Mangels einer klaren Lohnstatistik sind wir nun auf die Berechnungen und Ergebnisse der Unfallversicherungs­genossenschaften angewiesen. genossenschaften angewiesen. Im Jahre 1886 betrug dem­nach das Durchschnitts- Einkommen der mehr als 3 Millionen versicherten Arbeiter pro Kopf und Jahr 641 M., im Jahre 1888 bezw. 1887 war es um mehr als 3 pet. gesunken, auf 618,75 M. Nach einer genauen Berechnung, die Bebel angestellt hat, stellt sich heraus, daß von den 62 Unfall­genossenschaften 29 mit einer Arbeiterzahl von über 1 900 000, also mehr als 50 pCt. unter diesem Durchschnitt haben, nämlich alle die zahlreichen Hausindustriellen, die Weber, Strumpfwirker, Posamentiere, die sämmtlich sogar unter 500 M. Einkommen haben. Und wenn man die einzelnen Berufsgenossenschaften in den beiden Jahren ver­gleicht, so ergiebt sich, daß nur ein geringer Prozenttheil eine Erhöhung der Löhne zu registriren hat, die Mehrheit aber weist einen erheblichen Rückgang auf, wie ja denn auch aus der Gesammtdurchschnittsziffer ein Rückgang von 3 pбt. gegen das Vorjahr sich ergiebt.

Korrespondenzen.

Wien , 3. Oftober. Im politischen Leben Defterreichs herrscht gegenwärtig Windstille. Alle das Näderwerk der kom­plizirten Staatsmaschine treibenden Faktoren erholen sich be reits von den sommerlichen Strapazen des Landaufenthaltes, und allem Anscheine nach kann die ewig alte Geschichte bald wieder von neuem losgehen. Die parlamentarisch todte Saison" dauert im heurigen Jahre außergewöhnlich lang, es dürfte nur der Fall sein, daß die vielen aufeinanderfolgenden Berehelichungen heiratsfähiger Töchter im Haufe des Grafen Taaffe die Ge­sehmacherei hinausschieben. Nun wahrlich, auch das österreichi­sche Volk fühlt weder das Bedürfniß, noch die Nothwendigkeit, der Segnungen des neuen Strafgefeges ehebaldigst theilhaftig zu werden. Derentwegen braucht sich der Herr Ministerpräsident nicht zu beeilen, er kann, sorgenlos über die staatliche Ordnung, meiter schmaufen und weiter tanzen, so, wie es eine ordentliche Grafenhochzeit verlangt. Aber dieser Mangel politischen Lebens langweilt die gesammie reattio näre Preffe, welche jeßt wie ein hungriger Hai selbst über den magersten Knochen politischer Sensationsmeierei herfällt. Alles wird weiblich ausgeschrotet, und seien es selbst reichen Heere der bureaukratischen und adeligen Staatsnoth die unbedeutendsten Personalveränderungen in dem zahl­mendigkeiten. Wind zu machen, darauf verstehen sie sich alle, die vielnamigen Organe der öffentlichen Meinung", besonders aber dort, wo keiner ist. Aus dem J- Tüpfelchen machen fie

Doch siehe, der Major kommt. Damit waren im Mos ment all die Gratulationsbriefe ihrer hundertvierundzwanzig Pathenkinder vergessen. Timea eilte ihm entgegen. Vor neun Jahren hatte der glückliche Bräutigam, vielleicht eben in demselben Zimmer, ein Prachtbouquet von rothen Rosen einer anderen Braut überreicht.

Und diese ist auch heute anwesend. Und vielleicht stand letzten Blick geworfen, um ihre Brauttoilette zu prüfen, auch der große Stehspiegel, in welchen Athalie damals noch einen jetzt dort an derselben Stelle.

Timea nahm dem Major das schöne weiße Rosenbouquet aus der Hand stellte es in eine prachtvolle Porzellanvase von Sevres und flüsterte ihm zu: ,, Jetzt aber werde auch ich Ihnen etwas schenken; etwas, was Ihnen nie gehören wird, son­bern mir bleibt, und das dennoch für Sie ist." Das lieb­liche Räthsel entstieg der verhüllenden Schachtel; es war die neue Spigenhaube. D, wie reizend!" rief der Major, die Haube in die Hand nehmend. Wollen Sie, daß ich sie probire?" Dem Major erstarb das Wort auf der Bunge. Er blickte auf Athalie. Timea stellte sich mit Trauerhaube vom Kopf herab, dann wurde sie wieder ernst, tindischem Vergnügen vor dem Spiegel und nahm sich die stummen Kuß darauf, während sie leise stammelte: ,, armer führte die schwarzen Spitzen an ihre Lippen und drückte einen Michael"... Und damit legte sie das letzte Abzeichen ihrer Wittwenschaft ab.

-

Herr Katschuka hielt noch immer die weiße Haube in der Hand. Nun, so geben Sie die Haube doch her, damit ich sie anprobire."

,, Kann ich Ihnen dabei helfen?" Bei der hoch aufge= thürmten Frisur, welche damals Mode war, bedurfte Timea allerdings einer Beihilfe. Ah, das verstehen Sie nicht. Athalie wird schon so gut sein.

Timea hatte ganz arglos diese Worte gesprochen, der Major erschrat jedoch über die Blässe, welche Athe lie's Gesicht bei diesen Worten überflog; es fiel ihm ein, wie