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Nr. 298.
Freitag, den 20. Dezember 1889.
6. Jahrg.
Berliner Volksblatt.
Organ für die Interessen der Arbeiter.
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erscheint täglich Morgens außer nach Sonn- und Festtagen. Abonnementspreis für Berlin frei in's Haus vierteljährlich 4 Mart, monatlich 1,35 Mart, wöchentlich 35 Pf. Einzelne Nummer 5 Pf. Sonntags- Nummer mit dem Sonntags- Blatt" 10 Pf. Bei Abholung aus unserer Expedition Zimmerstraße 44 1 Mart pro Monat. Postabonnement 4 Mark pro Quartal. ( Eingetragen in der Postzeitungspreisliste für 1889 unter Nr. 866.) Für das Ausland: Täglich uuter Kreuzband durch unsere Expedition 3 Mart pro Monat.
Redaktion: Beuthstraße 2.
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Expedition: Bimmerffrake 44.
Der Arbeitermangel Menschen, zu machen, sei er nun an die Barzelle des auf dem Lande.
Man weiß, wie oft und wie bitter unsere Herren Agrarier sich über den Mangel an Arbeitskräften auf dem Lande beklagen. Wenn man sie fragt, woher denn diese Kalamität fomme, so sind sie um Gründe nicht verlegen. Die Arbeiter, sagen sie, sind mit den einfachen 3ufständen auf dem Lande nicht zufrieden; sie wenden sich nach den Städten und den Industriegegenden, wo ihnen mehr Verdienst und mehr Genuß geboten wird. Daraus erklärt sich die sogenannte Sachfengängerei, näm lich der Abgang von vielen Tausend Arbeitern alljährlich aus den östlichen Provinzen nach den mehr westlichen; theilweise ähnliche Erscheinungen zeigt auch die sogenannte Hollandgängerei in Nordwestdeutschland .
Nur Begehrlichkeit ist es, was diese Arbeiter aus ihren Wohnsitzen treibt, behaupten die Herren Agrarier. Daher sind auch die Junkerblätter gleich bereit, mit den gewöhnlichen Polizeimaßregeln abzuhelfen. Bestrafung des Kontrakt bruches bei den ländlichen Arbeitern wird verlangt und unlängst hat auch in schönem Verein mit den Konservativen eine nationalliberale Versammlung in Westfalen diesem Verlangen zugestimmt. Wenn man bedenkt, daß die ländlichen Arbeiter und Tagelöhner noch unter den verschiedenen schier mittelalterlichen Gesindeordnungen stehen, so fann schon von diesem Gesichtspunkt aus das Verlangen nach krimineller Bestrafung des Kontraktbruchs als übertrieben bezeichnet werden; im Uebrigen wäre eine folche Maßregel noch aus hundert anderen Gründen verwerflich, die wir nicht erst aufzuzählen brauchen.
Aber damit wollen sich die Agrarier noch nicht einmal begnügen; sie verlangen auch noch Beschränkung der Freizügigkeit. Die„ Kreuz- 3eitung" hat erst in diesen Tagen wieder heftig dafür plädirt und von Zeit zu Zeit tauchen in gewissen Blättern Nachrichten auf, wonach die Herren Agrarier sich mit dem Gedanken tragen, eine Beschränkung oder gar ein Verbot der Auswanderung unter bestimmten Bedingungen zu fordern. Die Herren wollen also damit wieder hinter das Jahr 1848 zurüd, in dem die Auswanderungsfreiheit zuerst durchgesetzt wurde. Sie gedenken zu verlangen, daß Niemand soll auswandern dürfen, der nicht nachweisen kann, daß er alle seine Verpflichtungen gegen den Staat, gegen die Gemeinde und gegen private Personen erfüllt hat. Selbstverständlich würde man bald dazu kommen, diese Be stimmungen auch auf das Verlassen des Wohnsiges und auf das Neuanziehen im Lande selbst zu erstrecken, um auf diese Weise auch den völlig besiglosen Tagelöhner zu einem glebae adscriptus, zu einem an die Scholle gebundenen
Feuilleton.
Rachbruck verboten.]
Germinal.
Sozialer Roman von Emile Bola. Einzig autorifirie Uebersehung von Eru Biegler.
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Das Heil tann allein von den Landgeistlichen tommen, welche sich allesammt eines Tages erheben werben, um mit Hilfe der Armen das Reich Chrifti wieber auf Erden einzusetzen. Er sprach so begeistert, als wenn er schon an ihrer Spize marschire. Die knochige Gestalt reckte fich und seine Augen blitzten, daß sie das Gemach zu erhellen fchienen. Dabei riß ihn sein Eifer in mystische Reden, von denen die armen Leute tein Wort mehr verstanden.
Unnöthig, so viel zu predigen," brummte Maheu ärgerlich dazwischen;„ Sie hätten uns lieber Brod bringen follen!"
Kommt Sonntag in die Messe, Gott wird für Alles forgen!"
Der Abbé Ranvier entfernte sich, um bei Levaques sein Apostelwert fortzusehen. Er war so verzückt in seinem
Traum von dem Siege der Kirche, daß ihm alles Andere flein vorkam und keiner Beachtung werth, daß er mit leeren Händen durch die in Hunger verkommenden Arbeiterdörfer
erfte Stufe zum Heil.
Maheu hatte seinen regelmäßigen Gang wieder aufgenommen. Bonnemort hustete mit ängstlichem Keuchen und Würgen, dann spie er in den leeren Kamin. Der müde Schritt Maheu's hallte auf den Fliesen. Alzire schlief. Sie
schein und lustigem Spiel; sie phantafirte.
Heiliges Kreuz!" flüsterte die Maheude, die Wangen der Kranken berührend, sie ist brennend heiß!... Der
Bauern oder an den Gutshof des Rittergutsbesitzers gebunden.
So recht bezeichnend war der Vorschlag, dem Arbeitsmangel auf dem Lande durch Chinesen abzuhelfen. Indessen sind die Urheber dieses Vorschlages denn doch vor dem allgemeinen Unwillen etwas zurückgewichen und man denkt vorläufig nicht mehr an den Kuli- Import. Aber es ist schon bezeichnend genug, daß man überhaupt es hat wagen fönnen, sich zu einem solchen Vorschlage zu versteigen. Wie weit die Anmaßung der Herren Agrarier geht, zeigt deutlich ihr Verhalten anläßlich der Herabsetzung der Personentarife auf den Eisenbahnen für die Sachsengänger. Sie erklärten sich als durch diese Tarife geschädigt und verlangten, daß man den Arbeitern diese Vergünstigungen wieder entziehen solle, während sie doch nichts dagegen haben, wenn bei Festlichkeiten und anderen Gelegenheiten den verschiedensten Rorporationen herabgesetzte Fahrpreise geboten
werden.
Man darf sich darüber freilich nicht wundern, wenn man auf das sonstige Treiben diefer Leute blickt, die verlangen, die Gesetzgebung solle sie auf Kosten der städtischen Bevölkerung bevorzugen und ihren Produkten eine künstliche Preissteigerung angedeihen lassen, während sie für sich nach möglichster Befreiung von den allgemeinen Lasten trachten. Es ist nur ein 3eichen der Zeit, wenn agrarische Blätter verlangt haben, der Staat solle allen„ würdigen" adeligen Familien, die verschuldet sind, ihren mit Hypotheken beschwerten Grundbesitz abnehmen und ihnen dafür eine ewige Rente" zahlen.
Die Herren werben sich natürlich sorgfältig hüten, die wahren Gründe des Arbeitermangels auf dem Lande darzuLegen. Aber die Arbeiter selbst haben keinen Grund, darüber zu schweigen. Und ihre Beschwerden verhallen nicht ungehört; sogar unter den Agrariern selbst hat sich jüngst auf einer Versammlung des landwirthschaftlichen Vereins zu Gleiwit in Schlesien ein weißer Rabe gefunden, der den Muth hatte, die Wahrheit zu sagen. Er führte den Arbeitermangel auf dem Lande auf seine Hauptursache, auf die Erbärmlichkeit der Arbeitslöhne, zurück, und sagte, wenn die Landwirthe nicht die Löhne erhöhen wollten, so würden sie bald ganz ohne Arbeiter dastehen, und sie brauchten sich auch nicht zu wundern, wenn die ländlichen Arbeiter nicht agrarisch wählen sollten.
Das ist die Ursache des Arbeitermangels auf dem Lande in der That, denn die Industrie bietet den Arbeitern nicht so viel, um sie mit großer Sehnsucht zu erfüllen.
Wenn die Herren Landwirthe und Agrarier den läudlichen Arbeitern nur einigermaßen erträgliche Kost, Wohnung Behandlung und einen nur und einigermaßen
Doktor kommt nicht, die Spißbuben werden ihm verboten haben, zu uns zu gehen."
Sie unterbrach sich mit einem freudigen Aufschrei; dann wieder ging die Thüre. Doch statt des Arztes trat Stephan ein.
Guten Abend," sagte er leise, das Haus sorgfältig schließend.
Er kam oft des Nachts zu ihnen. Die Maheus hatten seit dem zweiten Tage gewußt, wo er sich versteckt hielt; aber sie schwiegen und Niemand im Dorfe ahnte, wo er sein mochte. Es hieß er werde plößlich mit einem ganzen Heere und mit großen Riften Goldes erscheinen: Der alte Wunderglaube an ein Mirakel, welches sie mit einem
Schlage in die versprochene Märchenstadt der Gerechtigkeit versehen werde. Einige erzählten, man habe ihn mit drei Herren in einem schönen Wagen den Weg nach Marchiennes zu hintraben sehen; Andere behaupteten, er ſei noch für zwei Tage in England. Dann, als es länger dauerte und Stephan immer noch unsichtbar blieb, erwachte das Mißtrauen und Jemand meinte, die Mouquette
versteckte ihn irgendwo in einem Keller; denn sein Verhält niß zu dem Mädchen war bekannt geworden und hatte ihm Nach und nach in den Augen der Kameraden geschadet. mehrte fich die Zahl derer, die von Verzweiflung gepackt, seiner mit gemischten Gefühlen dachten, es schien, als wolle der Glaube an ihn sich vermindern.
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Was für ein Hundewetter!" fuhr Stephan fort. Und Ihr Giebt es nichts Neues? Geht's immer schlechter" und schlechter?... Man hat mir gesagt, daß der fleine Négrel nach Belgien gereist sei, um Arbeiter anzuwerben; o, wenn
das wahr ist, find wir verloren."
Ein unbehagliches Gefühl hatte ihn erfaßt, als er in bas kalte leere Zimmer getreten war, wo sein Auge, sich erst langfam an's Dunkel gewöhnend, in den zusammengehockten finstern Schatten die Glieder der Familie erkannte. Er empfand den Widerwillen des Arbeiters, den Studium und ehrgeizige Pläne aus seiner Klasse hinausgedrängt haben.
auskömmlichen Lohn anbieten wollten, so würden diese Arbeiter gar nicht an Auswanderung denken. Allein diese Arbeiter werden ebenso schlecht behandelt als schlecht bes zahlt.
Mit dem Munde freilich sind die Agrarier die größten Arbeiterfreunde. Im Parlament sprechen sie unaufhörlich von Arbeiterschutzgesetzgebung für die Fabriken der Städte von einer solchen für das Land aber wollen sie nichts wissen.
Dies beweist, daß die agrarische Arbeiterfreundlichkeit nur eine große Heuchelei, nur ein frivoles Spiel mit Worten ist.
Hoffentlich wird kein Parlament die 3wangsmaßregeln der Agrarier bewilligen, so daß diese sich am Ende gezwungen sehen, die Arbeiter auf dem Lande besser zu bezahlen und zu behandeln.
Politische Uebersicht.
In Bezug auf den Gedanken, die Regierung könne das Sozialistengefes als Wahlparole verwerthen, findet es die Boff. 3tg." auffällig, daß, oogleich eine Einigung über das Sozialisten gefeß im Reichstage nicht erzielt fei, die nationalliberale Presse in auffälligfter Weise immer wieder auf daffelbe zurückkomme, und daß die Regierung fich dazu vollständig pasfio verhält. Was bedeutet dieser Gegensaß, wenn er ernsthaft gemeint ist?" fragt nun die Voff. 3tg.", und fie fährt unmittelbar darauf fort:„ Es kann nur bedeuten, daß die Regierung mangels einer anderen zugträftigen Parole für ben Wahlkampf diesmal die Gefahr der sozialen Revolution" als Schlagwort für die Wahlen benußen will, wenn das Kartell ihr das Sozialistengesez in der vorgelegten Faffung verweigert. Legte die Regierung auf eine Verständigung über den Hauptstreitpunkt vor den Wahlen entscheidendes Gewicht, so würde es ihr nicht an Mittel fehlen, auf die Gegner der Ausweisungsbefugniß bei Zeiten einzuwirken. That fächlich weiß man aber in Kartellfreifen so wenig, was nach Neujahr in diesem Punkte geschehen wird, wie in der Oppofition und offiziöse Stimmen stellen sich, als gingen die Kommiffionsbeschluffe die Regierung nichts an. Die National liberalen wollen fich höchstens dazu herbeilaffen, die Rückkehr ber bisher ausgewiesenen Sozialdemokraten in ihre früheren Wohnorte zu verhindern, d. h. fie wollen die alten Aus
weisungen zwar festlegen, neue aber nicht mehr zulaffen. Die Regierung hat erklärt, daß fie der Ausweisungen grade als eines Schredmittels" für fünftige 3wede bedürfe. Scheitert das Gesez an dieser Klippe, so müßte die Regierung Hoffnung hegen, durch einen besonders dazu eingerichteten Wahlfeldzug die Wählermaffen dermaßen in Furcht vor dem rothen Ge fpenft zu sehen, wie fie es bei den Wahlen nach den Attentaten von 1878 vermochte. Damals schlugen die ruch lofen Thaten Hödels und Nobilings jede andere Erwägung in die Flucht, und es tam ein Reichstag zu Stande, der das
Welches Leid gab es hier, welch faden Geruch, welch ein troftleeres Elend. Er war gekommen, um ihnen seine Muthlosigkeit zu geftehen; aber das Bild dieses Dahinsterbens erschütterte ihn dermaßen, daß ihm die Worte fehlten, mit welchen er ihnen ihre Unterwerfung rathen möchte.
Doch Maheu stellte sich vor ihm auf:
Die Arbeiter von Borinage? O, sie sollen sich unterstehen die Fremden zu holen! Wir vernichten die Grube, wenn das passirt!"
Stephan erklärte verlegen, man werde nichts dagegen machen können, weil die Soldaten, welche die Grube be wachen, die Einfahrt der belgischen Arbeiter decken würden.
Maheu ballte die Faust; die Erinnerung an die verhaßten Bajonette machten ihn noch zorniger. Jetzt werden die Bergleute also wie Galeerensträflinge von den Soldaten zur Grube begleitet! Er liebte den Voreur, und es bereitete ihm einen großen Schmerz, daß er seit zwei Monaten nicht hatte einfahren können; der Gedanke aber, daß man Fremde an ihrer Statt hineinlassen wolle, kam ihm ungeheuerlich vor. Doch gleich darauf fiel ihm ein, daß man ihm ja sein Arbeitsbuch zurückgegeben, und trostlos sezte er hinzu:
,, Ich weiß eigentlich nicht, warum es mich grämt, daß fie die Fremden holen, denn ich gehöre ja gar nicht mehr bazu; wenn es ihnen beliebt, fönnen sie mich auch aus diesem Hause hinauswerfen, und wir müssen auf der Straße trepiren."
,, Laß gut sein," antwortete Stephan ,,, wenn Du wirst wollen, nehmen fie Dich jeden Tag wieder; die guten Arbeiter entläßt man nicht."
Er unterbrach fich, als er Alzire im Delirium ihres Fiebers unter der Decke lachen hörte. Diese gespenstige Heiterkeit des ster benden Kindes entsegte ihn und mit bebender Stimme fuhr er fort:
,, Wißt Ihr, das kann nicht so weiter gehen... wir find geliefert, wir müssen uns ergeben."
Die Maheude, welche bisher unbeweglich am Fenster