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mernS von Wunden ist jetzt noch bei brasiliani­schen Indianern Mich. Ein anderes großes Boll mediziniert gleichfalls bis heute nach Vorschriften, die älter sind als Ivvo Jahre: die Chinesen. Ihr medizi­nisches Schriftwesen reicht 5000 Jahre zurück. Auch sie kennen keine Anatomie. Ihre Religion sagt, einer, der verstümmelt ins Reich der Toten kommt, kann fich dort'mit seinen Ahnen nicht vereinigen. Deshalb werden wegoperierte Kör­perteile sorgsam aufbewahrt und dem Toten ins Grab mitgegeben. Das chinesische Behandlungssystem ist un­beschreiblich verwickelt. Der Arzt muß riesige Tabellen auswendig lernen, Sonne, Mond, Stern«, Farben und di« Elemente neben vielen, ganz unverständlichen Umständen beachten. Eine oft gebrauchte Kur ist die sogenannte Moxibu­stion. Kleine Flocken zunderähnlicher Pflanzen­wolle, oft 50 zu gleicher Zeit, werden dem Kran­ken mit Speichel auf die Haut geklebt und an­gezündet. Eine andere Kur, die vor 100 Jahren auch in Europa modern war, ist die Akupunktur. Der Arzt sticht dem Kranken lange, feine Na­beln aus gehärtetem Stahl, Silber oder Gold bis dreieinhalb Zentimeter tief in die Haut. Die Aerzte kennen 808 Einstichstellen, darunter auch solche in den Augen. Und jede hat«inen eigenen

Namen. Nach Entfernung der Nadeln werden die Stichstellen ausgedrückt. Die Chinesen glau­ben, daß der Körper von einem Röhrenneh durch­zogen ist und daß durch die Stichwunden schlechte Stoffe entweichen und frische Lebensgeister ein­treten können. Einige der zahllosen medizinischen Bücher befassen sich auch mit der gerichtlichen Medizin. Die Lehrsätze sind meist so wie der: Der Arzt schlage an das Seil, an dem ein Erhängter baumelt. Erzittert dar Seil, liegt Selbstmord vor, erzittert es nicht, Mord. Schütteln Sie nicht die Köpfe und seien wir nicht zu stolz l 1004 gab es in Preußen, wo im Gegensatz zu anderen Staaten Kurierfreiheit herrscht, 4104 Kurpfuscher, 1905 schon 5148. In der Provinz Hannover zählte man im Kreise Hoya acht Aerzte und neun Pfuscher. In Uslar vier Aerzte, neun Pfuscher. In Uelzen 17 Aerzte bei 29 Wunderärzten und in Northeim elf Aerzte, aber 27 Quacksalber. Von 1897 bis 1902 nahm die Bevölkerung Berlin - um 80 Prozent zu die Zahl der Kurpfuscher Berlins aber um 57 Prozent. Also: Die Absonderlichkeiten in der Ge­schichte der Medizin reichen bis in unser« Tage des Fortschrittes und der Aufklärung/

Hindenburg ttttb die Mordnacht des 30. Juni Bon Emil Ludwig .

Die folgende Stelle ist dem Schluß­kapitel des neuesten Buches von Emil Lud­ wig Hindrnburgund die Sage vonderdeutschenRepublik" ent­nommen. Das Buch, das in voller Objek- tivität die Lebensgeschichte Hindenburgs er­zählt. zerstört die um diesen General ge­sponnenen Legenden, doch vor allem ist es «in Stück lebendigst dargestellter Zeitge­schichte und zum Verständnis des deutschen Geschehens in den letzten Jahren geradezu unerläßlich. ... Eine Woche später zog Hitler aus, um alle seine Gegner, alte, neu« und zukünftige, in einer Nach und einigen Morgenstunden von sei­nen Scharen morden zu lassen. Da war kein kommunistischer Putsch mehr als Vorwand zu verwenden, da waren seine eignen Scharen, die sich im Aufstand gegen ihn befunden haben sollten. Niemand hat Hindenburgs Entsetzen über­liefert, als er am 1. Juli von den Ermordungen hörte. Auch mochte es ihn wenig berühren, daß der Volkstribun seine ältesten Freunde und An­führer umbringen ließ. Hatte er nicht Juden und Kommunisten vorher erschlagen lasten? Aber da war eine lange Reihe von Junkern und Gene­ralen, darunter nur wenig« Nationalsozialisten ; die waren gestern von der Hitler -Garde erlegt Wörden. Namen und Familien, mit denen er seit 80 Jahren verbunden war, standen in dieser er­staunlichsten von allen Verlustlisten, die je in sei­nen Händen gelegen hatte: Da war ein General von Bredow, rin ' Freiherr von Gleichen, ein Freiherr von AlvenS- leben, ein Freiherr von Wechmar, Herren von Hohlberg, von Heydebeck, von Datten, von Boll­witz, von Krumhaar, ein Freiherr von Moeden, «in General von Lostow, da waren noch viele, von deren Tode man erst später und Hindenburg gar nichts mehr erfuhr. Dann soll ihm sein Sohn mit einigem Stocken die Ermordung des Gene­rals von Schleicher mitgeteilt haben.

Hindenburg stand vor diesen Eröffnungen, wie Wilhelm der Zweite vor der Mitteilung der Revolution. Und ebenso wie jener am 9. Novem­ber, vermochte sich dieser am 1. Juli nicht mehr I zu wehren. Furchtbarer Zusammenbruch eines Greises, der,: angetan mit den Zeichen seiner Macht, ganz Kavalier und ganz Soldat, seine eigenen Freunde und StanLeSgenoffen nicht mehr zu rächen vermochte! Fragt« er, wie das alles sich zugetragen habe, so sagte ihm sein Sohn, die meisten hätten sie in den Hof der Ber­ liner Kadettenanstalt geschleppt und dort er­schaffen. AuS dem tiefsten Schatten jugendlicher Erinnerung tauchten die Bilder jenes Kasernen- Hofes auf, in dem der Feldmarschall sein tadel­loses Offiziersleben begonnen hatte, und nun muhte er es im Anblick von Hinrichtungen be« schließen, die ohne Vernehmung, ohne Richter, ohne Urteil aus Rachedurst befohlen worden waren. Hindenburg muhte hören, wie die Frau eines hohen Beamten, die sich angswoll nach dem Verbleiben ihres Gatten erkundigte, vom Portier der Amtsgebäudes ein« Nummer in Empfang nahm, mit der sie sich am Freitag wieder melden sollte; dafür nahm sie dann«inen auf gleiche Nummer lautenden Kasten in Empfang, der die Asche ihres Mannes enthielt. Er mußte hören, wie sein Freund Papen nur durch Eingreifen einiger Reichswehr -Soldaten im letzten Augen­blick gerettet worden war, nachdem man ihm im Vorzimmer seinen Geheimrat und in ihren Woh­nungen drei andere Mitarbeiter erschaffen hatte, darunter Jung, den verworrenen Idealisten. Er mußte hören, wie Schleicher , vor kurzem deutscher Reichskanzler, am Abend zuvor mit Freunden in-seiner Villa vor Berlin geseffen, getrunken und mit den Worten angestoßen hatte: Wer weiß, was morgen kommt!" Wie am näch­sten Vormittage sechs SS -Leute vorfnhren, die alte Wirtschafterin überrannten, den Hausherrn nach feinem Namen fragten, an seinem Schreib-

Sein erster und sein letzter Skisprung

tisch niederschoffen und gleich varauf die Frau, die erstarrt daneben stand. All dies, weil einer der Herren Deutschlands sich an seinem Gegner, all dies, weil jeder von den Führern sich an sei« neu Privatgegnern und Hitler sich auch noch an dem 78jährigen Staatsminister von Kahr rächen wollte, der ihn ein Jahrzehnt zuvor bei seinem Münchner Putsch v«rlafsen hatte. Die Volks­führer hatten die Adligen erschlagen, nichk ander» als in Rußland die Kommunisten, zu deren Bekämpfung fi« angeblich auSgezogen waren. Doch jetzt war keine Zeit mehr zum Trauern« Der Dienst geht weiter und schon steht in Lakeien-Stellung Meißner neben Hindenburgs Schreibtisch und legt ihm«in Schriftstück zur Unterschrift vor. Es ist ein Telegramm. Es ist an seinen Kanzler«in Glückwunsch, den dieser sich bestellt hat. Es lautet: Reudeck, den 2. Juli 84:AuS den mir vorgelegten Berichten habe ich ersehen, daß Sie durch Ihr entschloffenes Eingreifen und di« tapfere Einsetzung Ihrer eigenen Person alle hochverräterischen Umtriebe im Keim erstickt haben und so das deutsche Volk aus«iner schwe­ren Gefahr gerettet wurde. Hiefür spreche ich Ihnen meinen tiefempfundenen Dank und meine aUftichtige Anerkennung aus. Mit besten Grüßen" Da fitzt der gebrochene Riese und soll, ein letztesmals seinen Namen zU einer großen Lüg« hrrgeben, da sitzt er, ein geschlagener Mann. Den Krieg hat er Nach preußischen Regeln geführt, so gut er konnte, und ist unterlegen. Die Diktatur, die ihm im Krieg sein Gehilfe aufgedrungen, hat zur Verlängerung des Krieges geführt. Die Regierung, die er zur Diktatur gesteigert hat, ist ihm entrissen worden. Dar Kanzleramt einer einzelnen Partei zu geben, hatte er feierlich ab­gelehnt, und heute regierte unter ihm nur ein« > Partei. Die afte Fahne hatte er verlaffen, di« neue beschworen, die alte wieder ausgenommen, und wenn er auch die dritte Fahne auf feinem Hause nicht duldete, so flatterte ste doch von Millionen deutscher Häuser im Winde der Zeit. Bier Wochen später war er tot..,