BUNTE WELT
Mr. 1
Enterhaltungsbeilage
1936
Die Berlen der Herzogin
Die Herzogin von York stand vor dem Spiegel ihres Ankleideraums im Buckingham Palace . Sie musterte sich kritisch. Dunkles Samtkostüm, diskrete Seidenstrümpfe, ein fleines Pelztoque, um den Hals, als einzigen Schmuck, eine vierfach geschlungene Schnur er lesener mattgrauer Perlen. Dies ist wohl der passendste Anzug zur Besichtigung von Whitecheapel, nicht wahr?" fragte die Herzogin ihre beiden Kammerfrauen, die in angemessener Entfernung standen. Die Kammerfrauen nickten. ..Jawohl, Durchlaucht. Unauffällig, aber den noch vornehm und distanziert." Die Herzogin schien befriedigt. Sie gähnte leicht. Es war noch früh, und draußen drohte sich der gefürchtete Londoner Nebel zusammenzuziehen. Lieber hätte die Herzogin von York noch geschlafen. Doch was tat man nicht für sein Volk? Die fonservativen Minister bestanden darauf: jetzt, nach dem erfochtenen Wahlsieg sei es notwendig, sich bei den Massen beliebt zu machen. Der Besuch eines Mitgliedes des königlichen Hauses in irgendeinem der Armenviertel, zum Beispiel Whitecheapel, würde äußerst wirkungsvoll sein. Das Los traf die Herzogin von York . Sie war eine schöne, junge, gesellschaftlich sehr gewandte Frau. Auch den unangenehmsten Pflichten ihres höfischen Daseins unterzog sie sich mit jenem lie benswürdigen und stupiden Lächeln, wie die so
genannte Etikette es vorschreibt.
Der Zeremonienmeister meldete, daß die Autos warteten. Zivei Hofdamen und zwei Abgeordnete der Tories begleiteten die Herzogin. Bevor sie den Ankleideraum verließ, prüfte die Prinzessin nochmals den Verschluß ihrer Perlentette. Es war alles in bester Ordnung. Die Herzogin von York liebte Perlen sehr. Sie kannte keinerlei Aberglauben, war überhaupt flüger, als die meisten annahmen. Deshalb lächelte sie jetzt innerlich über die kleine höfische Komödie, die sie spielen mußte. Wenn sie einer dieser Armen gewesen wäre, arbeitslos feit langem, hungrig, frank und elend, sie hätte auf den Besuch einer gutgekleideten und wohlgenährten Prinzessin gepfiffen. Sie hätte da Dinge gesagt... Zum Glück konnte niemand die revolutionären Gedanken hinter der weißen glatten Stirn des gefrönten Hauptes lesen.
Bon Ellen Lenski
eingefallene Brust, die gekrümmten Beine, das alles deutete auf Rachitis und beginnende Tuberkulose. Trotzdem war Mary, oder vielleicht gerade deshalb, ein aufgewecktes Kind.
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Johnson hieb mit der Faust auf den wackligen, den einzigen Tisch. Ich will nicht, daß du mit Mary zu dem Rummel gehst und da den Maulaffen machst, verstanden? Was soll der Blödsinn? Ja, wenn es wenigstens noch etwas einbringen würde, aber so..."„ Wenn es auch nichts einbringt, kann es doch nichts schaden." Frau Johnson sprach hastig, mit leiser, heiserer Stimme. Sie hatte ein Kehlkopfleiden, das sich nie besserte in dem Londoner Klima, in der Stube, an deren Wänden das Wasser heruntertroff. ,, Vielleicht sieht mich der Armenpfleger. Er wird sicher auch hinkommen. Und wenn ich ihn dann übermorgen bitte, mir für Marh Lebertran zu bewilligen, so ist es möglich, daß er ihn gibt. Der Arzt sagt, Mary brauche dringend Lebertran."
ten, konnte auch vom Nebel kommen, der ohne dies die Dinge schwerer erkennen ließ. So machte das Ganze durchaus den Eindruck, als wenn es noch schlimmer hätte sein können, als es war.
Die Herzogin und ihr Gefolge schritten in Begleitung der Honoratioren von Whitechapel die Reihen entlang. Durchaus war die Herzogin gewillt, die beste Meinung über sich zu verbreiten. Sie hörte auf alle und auf alles. Sie neigte huldvollst ihr Ohr den Schilderungen über die armen Leute, die ärmsten Söhne und zugleich, wie es hieß, die treusten Untertanen. Sie bes sichtigte, die Herzogin von York , gekleidet in dunklen Sammet und eine vierfach geschlungene Perlenkette, die bestaussehendsten Häuser und die am anständigsten eingerichteten Wohnungen von Whitecheapel. Sie fand auch diese noch überaus scheußlich, doch hütete sie sich wohl, das zu sagen. Im Gegenteil, sie lächelte so oft wie möglich und murmelte bei jeder nur passenden Gelegenheit: Very nice, indeed!" Nach der Bes sichtigung versprach die Herzogin dem Bürger meister, ihm aus dem königlichen Fonds einen Beitrag zur weiteren Hebung des Lebensstandards der Bewohner von Whitecheapel, zur Hebung ihrer Moral und Sittlichkeit zu überweis sen. Und im übrigen ihren Besuch bald zu
sofort
wiederholen. Was sie jedoch innerlich widerrief. Das Ganze hatte noch keine zivei Stunden gedauert, und die Herzogin atmete er leichtert auf, als sie an dem weißen Ding ihre schönlackierten, spiegelblanken Autos auftauchen fah. Abschied nehmend, dabei ihn kaum erwars ten könnend, schritt sie noch einmal durch die Reihen der Musterarmen, die jetzt gerade im Begriff waren,..god save the fing" anzustim men. Da geschah es.
Johnson sah stumpf vor sich hin. Er haßte die reichen Leute. Allerdings nur gefühlsmäßig. Sein Radikalismus entsprang nicht der Ueberlegung des Verstandes. Jetzt padte er die kleine Mary an den Schultern, sah dem Kinde in die müden und viel zu wissenden Augen. ,, Meinetwegen. Weil's um deinen Lebertran geht. Aber das müßte man machen, wenn so eine Herzogin kommt und ihr Affentheater aufführt. Nicht sie anlächeln und nicht sich vor ihr verbeugen. Nicht Süßholz raspeln und lauter Lügen. Sondern so" er legte seine Finger um den dünnen zerbrechlichen Hals des Kindes- ,, an der Gurgel müßte man sie fassen, umbringen, das ganze Pack." Mary sagte nichts. Mary fagte nichts. Doch aufmerksam hörte sie die Worte des Vaters, folgte jeder seiner Bewegungen. Lange lag sie nachher wach, auf der dünnen zerschlissenen Decke, die ihr Bett war und durch die man jedes der harten Dielen- in dem blassen Gesicht groß, hungrig, alt. Es bretter fühlte. Die Eltern schliefen schon, der Vater mit lautem Schnarchen, die Mutter, senf- war Mary Johnson, das Kind des arbeitslosen zend im Traum. Da hatte Mary einen Entschluß Mary sofort und sehr bestürzt. Was wollte das gefaßt.
Ein fleines Mädchen drängte sich plötzlich bor. Sehr mager, sehr dürftig, nur die Augen
Tischlers Mac Johnson. Die Mutter folgte
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Mädchen? Doch che sie es erreicht hatte stand Mary schon vor der Herzogin, streckte, klein, schwächlich wie sie war, ihre Hand nach dem Hals der Prinzessin aus. Sie reichte aber nicht so weit, diese Hand an dem kurzen, dünnen Arm. Sie blieb hängen in den Enden der Perlenschmur. Doch hielt Mary die Kette fest, unerbittlich, und ohne Scheu.
Die Autos aus Buckingham- Palace hielten vor einem weißen Ding. Es stellte irgendeinen der vielen Helden Old- Englands dar, der irgendwo gesiegt und irgendwo mal etwas für Dies aber hatte sich am Abend vor dem Whitecheapel gestiftet hatte. Ohne großen ErBesuch der Herzogin von York in Whitecheapel folg. Die Tatsache, daß es sowohl die Armen, ereignet. Es wohnte in einem der berüchtigten als auch ihre Slums, noch immer gab, bewies ,, Slums ", grauenhaften, baufälligen, lichtlosen dies. Der Bürgermeister, der Vorsitzende des Mietstasernen, der schon seit zwei Jahren Gemeinderates und einige Bezirksvorsteher ,, Nein, dieses reizende Kind", rief die Hers arbeitslose Tischler Mac Johnson. Er wohnte empfingen die Herzogin von York und ihr Ge- 30gin lachend ,,, seht nur, wie ihm meine Perlen in einem Raum, den man sich kaum als mensch- folge. Hinter den Stadtvätern hatte man meh- gefallen. Was für ein liebenswürdiges Kleines liche Behausung vorstellen kann, zusammen mit rere Reihen jener sogenannten Muster- Armen"| Mädchen. "( Dabei machte Marh ihr finsterstes seiner Frau und seiner Tochter, einem Kind von aufgestellt, die ihr fümmerliches Aussehen hinsieben Jahren. Das kleine Mädchen hieß Mary. ter fahlem Lächeln verbargen, und ihre Flicken Wie tausende kleiner Mädchen in Old- England. unter der Devise ,, arm, aber ehrlich" zur ZuEs war aber schlechter gekleidet und schlechter friedenheit der wohlhabenden Schichten der Begenährt als viele andere Marys seines Alters. völkerung trugen. Einige Häuser, allzu nahe den Das Gesicht war blaß, der Mund kannte kein Blicken, allzu gebrechlich im Aussehen, hatten die Lächeln, die Augen blickten alt, müde und Stadtväter über Nacht mit frischer Farbe an wissend. Die Glieder des schmalen Körpers, die streichen lassen. Daß sie noch etwas feucht glänz
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Gesicht.) Wer ist es denn?" Hochrot war die Mutter hinzugetreten, riß Mary zurück und stammelte schamboll Worte der Entschuldigung. Die Herzogin von York war aber durchaus nicht böse über den Zwischenfall. Bot er doch glänzend Gelegenheit, sich ,, beim Volt beliebt zu machen".
,, Wie heißen Sie denn, liebe Frau?" Marys Mutter flüsterte mit der vom Kehlkopfleiden
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bad
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