BUNTE WELT
Nr. 18
Unterhaltungsbeilage
1936
Sozialistisches Bekenntnis
Ferdinand Kürnberger , heute leider fast vergessener Wiener Schriftsteller, auf rechter Demokrat und mehr als Demokrat, auch Sozialist, hatte nach der Niederlage der Wiener Revolution 1848 aus Oesterreich fliehen müssen. Aus dem Eril schrieb er an seinen in Wien verbliebenen Bruder ausführ liche Briefe, in denen er seine politischen Anschauungen barlegte und begründete. Der erste dieser Briefe, heute nicht weniger zeitgemäß als vor mehr als drei Vierteljahrhunderten, enthält Kürnbergers Bekenntnis zum Sozia lismus und seine Auffassung vom Wesen des Sozialismus. Dieser Brief stammt aus dem Jahre 1850.
Kürnberger, der später doch wieder nach Desterreich zurückkehren konnte und eine ungemein fruchtbare Tätigkeit als Kritifer, aber auch als politischer Schriftsteller und Novellist entfaltete, bliebzeitlebens der tapfere, aufrechte Mann. Und nun geben wir dem zweifellos größten Essayisten Altösterreichs das Wort( Nürnbergers sehr umfangreicher Brief wird hier stark gekürzt wiedergegeben):
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,, Es ist unzählige Male gesagt und nachgesagt worden, daß der Mensch, wenn er aus dem ursprünglichen Zustand seiner Vereinzelung und Wildheit in den Zustand der Geselligkeit und Kultur eintritt, einen Teil seiner persönlichen Rechte und Freiheiten notwendig aufgeben muß, damit eben diese Geselligkeit und Kultur möglich werde. Mit dieser Ansicht haben sich unter dem Schatten einer dichten Schlafmüße zahllose Generationen über die härtesten Leiden ihrer Bedrückung, über die grausamste Genußlosigkeit ihres Daseins, über ein mehr als tierisches Joch dumpfsinnig getröstet, indem sie dachten: es muß so sein- und der Sklavenaufseher auf der Kanzel schrie: es ist Gottes Fügung. Du siehst aber, worin der ungeheure Irrtum liegt. Der Mensch muß einen Teil seiner persönlichen Rechte und Freiheiten dem Ganzen zum Opfer bringen. Einen Teil! Dieses Wort enthält den Bunft, um den sich alles dreht. Wie groß muß dieser Teil sein oder wie klein? Wer bestimmt ihn und wer bestimmt gerecht? Wird er von allen gleich gebracht oder vielmehr so ungleich, daß der eine den ungeheuersten, der andere den winzigsten Nenner zu dem Bruche gibt, welcher den Abbruch seiner persönlichen Rechte und Freis heiten ausspricht? Das sind die Fragen, die mehr als je das neunzehnte Jahrhundert sich zum Bewußtsein gebracht und deren Lösung es fich zur Aufgabe gestellt hat. Und wer immer zu diesem Bewußtsein gelangt ist, wer immer der Lösung dieser Aufgabe sich gewachsen fühlt: der ist Sozialist. Der Sozialismus ist nichts ande res als die Forderung: die ganze Grundlage der heutigen Gesellschaft möge revidiert( ge
prüft) und Einheit, Gerechtigkeit, Ordnung, welchem Zeitmaße. Gregor verbesserte den JuMaß und Ziel hineingebracht werden. Das ist lianischen Kalender und die Griechen, welche der gefürchtete schauerliche Sozialismus und diese Verbesserung nicht annahmen, sind nun nicht mehr und nicht weniger. Der Sozialismus schon wieder, wenn ich nicht irre, um elf Tage ist eine Rechenaufgabe, ja nichts anderes: eine hinter dem richtigen Jahre zurüd. Rechenaufgabe auf Erden ähnlich der Rechen- Wie mit dem bürgerlichen Jahr, so ist es aufgabe, die es einst am Himmel gegeben hat. mit der bürgerlichen Gesellschaft. Aus den mis Du weißt, zur Zeit des Julius Cäsar war das nutenkleinen Rechten und Freiheiten, um welbürgerliche Jahr in größter Konfusion. Aus so chen die einen immer zu viel und die anderen viel vernachlässigten Minuten war im ungeheus immer zu wenig opferten, ist unvermerkt im ren Laufe der Zeit hinter dem wahren himm- Laufe der Zeiten eine so ungeheure Verschie lischen Sonnenjahr das bürgerliche Erdenjahr bung des gerechten und richtigen Quotenverum volle zwei Monate zurüdgeblieben.( Großhältnifies entstanden, daß wir jest in einem artige Reaktion), welche Julius Cäsar mit Bustande des fompletten Wahnsinns leben. Denn einem Male einschalten mußte. Aber auch seine was ist der Wahnsinn anderes als der aufs Rechnung war nicht ganz genau und stand zur höchste getriebene Widerspruch mit der VerZeit Gregors VII. mit der astronomischen nunft und der Natur? Und dieser höchste WiderWahrheit in einer Differenz, ich weiß nicht in spruch ist da...
Späherflug
Diese ahnungsvollen Weiten, fonnengolden überwellt! Blick um Blick laß ich entgleiten, Heim kehrt jeder luftgeschwellt.
Immer neue Wunderräume öffnen angeftaunte Bracht, heilig jauchzen meine Träume, altarflammend angefacht.
Hab ich endlich nun gewonnen, was ich ringend lang ersehnt? Diese Brücke voller Sonnen, Die auf festen Pfeilern lehnt?
Traum, der aus dem Gram der Tage wunschgewaltig sich erhob,
du bist mehr als nur der Klage Gegenbild, das Täuschung wob!
Tief im Ufer dieser Zeiten wurzelst du, v Zukunftstraum: Bögen, die zum Lichtland leiten, wachsen aus des Dunkels Raum.
Neue Kraft aus neuem Werden löst zum Späherflug der Geist, und er fliegt von kalten Herden, wie den Pfad die Brücke weist.
Lichtbereites Flügelfpreiten Streift vom Fuß die Kette Leid, ahnungsschauernd in den Weiten fühlt die Lust die Ewigkeit.
Franz Diederich.
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Der Satz, den die Vernunft heischt, Tautet: Der Einzelne soll einen bestimmten Teil seiner persönlichen Rechte und Freiheiten der gesellschaftlichen Kultur zum Opfer bringen aber der Satz, den die Wirklichkeit darstellt, heißt: Die eine Hälfte der Gesellschaft bringt alle ihre menschlichen Rechte und Freiheiten zum Opfer und genießt dafür keine Kultur, die andere Hälfte der Gesellschaft bringt gar nichts zuin Opfer und genießt dafür alle Kultur. Den letzten Say zu stürzen und den ersten zur Wahrheit machen das ist der Sozialismus. Ich habe den Sozialismus ein Rechenerempel genannt und mit Recht. Wie Julius Cäsar in der Astronomie, so hat der Sozialismus in der Staatswissen schaft den Fehler zu berechnen, der sich durch den fortlaufenden Irrtum früherer Zeiten eingeschlichen und ihn zu berichtigen. Er hat zu untersuchen, wie groß und wie flein die Brüche find, in welchen jetzt die verschiedenen Gesellschaftsklassen Teile des menschlichen Naturrechtes, der Kultur zum Opfer bringen. Er hat für die maßlose Verschiedenheit dieser Brüche einen einzigen Nenner und dazu den möglichst fleinsten Zähler zu ermitteln, dafür aber diesen Bruch auch allen Gesellschaftsmitgliedern als gleiche Steuer aufzuerlegen. Diese Gleichheit besonders bildet den Hauptbegriff des Sozialismus. Die Freiheit bezieht sich mehr auf die politische, aber die Gleichheit so recht auf die soziale Ordnung der Gesellschaft. Die Freiheit welche jetzt der großen Masse ein so götterglei cher Besitz dünft, ist keinesivegs ein neuer Fortschritt der Menschheit. Schon die ältesten Staatsgesellschaften( 3. B. der Republiken der Griechen und Römer) kannten die höchste Blüte ber Humanität, foziale Gleichheit kannten sie nicht: sie hatten Herren und Sflaven. Eine Gesellschaftsform zu gründen, deren Gesetze allen Menschen gleiche Rechte und Pflichten zuerkennen, und deren organische Einrichtungen wenigstens eine wesentliche Ungleichheit des äußeren Besißstandes unmöglich machen das ist der Beruf des Sozialismus. Das ist der ideelle Begriff des Sozialen . Die praktische Ausfüh rung desselben wird ein Resultat vieler Ber fuche, wird ein Werk vieler Generationen sein.
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