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BUNTE WELT

Nr. 1

Leonid Lentsch:

Unterhaltungsbeilage

Der Ski- Marsch

Früher Wintermorgen. Im Vorzimmer der Kommunalwoohnung ist es noch ganz bunkel. Unter der Decke glimmt gedämpft eine etwa fauitgroße Glühbirne. Die Etudentin der Chemie Statja Jermolajeta, im blauen Sti anzug und einer riesigen 18 auf der Brust, fett sich vor dem Spiegel eine weiße Bastenmüße auf und ist dabei furchtbar nervös. Diese Ner­vosität hat ihren Grund darin, daß im Vor­zimmer auch Statjas Mutter, Xenia Lotona, steht, eine fleine Greifin von spaßenhafter Ge­schäftigkeit. Im tragischen Flüsterton bittet sie Statja, fich zu besinnen, Vernunft anzunehmen und nicht an diesem eniseßlichen Sti- Marsch Mostau- Leningrad teilzunehmen.

,, lleberleg es dir doch. Katia!", stöhnt Xenia Lwowna und springt vor Aufregung so gar ein bißchen in die Höhe. Du willst sooo

1937

Schließlich bringt der Briefträger eine Boftfarte aus Ljubanj. ,, Liebe Mama," schreibt Statja, wir laufen gut, sind froher Dinge und lachen in einemfort. Ich laufe norwegisch und werden icht besonderz müde. Bald sind wir in Leningrad  . Wir hoffen, den Weltreford zu brechen. Ueber uns schreibt man bereits in den Zeitungen und bereitet uns einen feierlichen Empfang vor. Mache dir um mich keine Sor gen.

Zeit mehr. Ich komme ohnehin zu spät. Auf| Nein? Ei, ei, ei!" Bei diesen Worten schüts Wiedersehen, Muttchen. Alles Gute. Aus Le- telt er den grauen Kopf und schnalzt betrübt mit ningrad schreib ich dir". Katja Jermolajeva der Zunge. füßt die Mutter entschlossen auf die Bange, hebt die Stt auf die Schultern und geht auf die Treppe hinaus. Xenia Avotna hüpft ihr nach. Statjuichal Kehre um! Komm zurüd! Es fönnen euch doch unterwegs auch Wölfe über­fallen!"..Wer hat Angst bom bösen Wolf...", trällert Katja und geht weiter. Mein Gott! Mein Gott!" jammert die Mut­ter. Was sind das jekt für Mädchen?! Bor nichts haben sie Angst! Wenn du wenigstens diese 13 durch eine andere Zahl ersetzen wür­best! Das ist doch eine Unglüdszahl!" Aberglaube, Muttchen, aber... Wenn du un­

Ich effe so viel, daß es einfach schredlich ist. Ich füffe Dich vielmale. Katja." Abends kommt zu Xenia Lootona Buſehtij. Er füßt ihr galant die Hand und fragt wie ge­wöhnlich: haben Sie schon Nachrichten von Ihrer Artemis?" ,, Natürlic. Matjuscha hat mir eine Postfarte geschickt. Aus Ljubanj. Sie

weit zu Fuß laufen! Und dazu noch auf dieſen Menschheitsglaube geht norwegisch." Da haben Sie die mo

verdammten Hölzern! Du wirst doch unterwegs umfommen, mein Fräulein!"- Aber warum denn? Warum follte ich unterwegs um­kommen? Die anderen nicht, sondern gerade ich! Du weißt ja selber nicht, was du quasselit!"

,, Ach doch, ich weiß es genau! Du bist schwächlich, du hast als Kind die englische Krank­heit durchgemacht. Befinne dich, Katjenita, habe Mitleid mit der Mutter!" .., Englische

Es wandert eine schöne Sage Wie Veilchenduft auf Erden um, Wie sehnend eine Liebesklage Geht sie bei Tag und Nacht herum.

Das ist das Lied vom Bölferfrieden Und von der Menschheit letztem Glüd, Ben geldner Zeit, die einst hienieben, Der Traum als Wahrheit, kehrt zurück. Wo einig alle Wölfer beten

Zum einen König. Gott   und Hirt, Von jenem Tag, wo den Bropheten Ihr leuchtend Recht gesprochen wird. Dann wird's nur eine Schmach noch geben, Nur eine Sünde in der Welt: Des Eigenneides Widerstreben, Der es für Traum und Wahnsinn hält.

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derne Jugend!" ruft die, Libelle" aus. ,, Die Mutter ist hier nervös, bergeht vor Angst, und sie macht sich nichts daraus. Wenn sie schon unbedingt nach Leningrad   wollte, hätte sie ja bis zum Bahnhof laufen können und dort sagen, daß der Fuß weh tut, oder etwas Aehnliches, und dann eine Fahrkarte nehmen und ruhig und bernünftig hinreisen. Da hätte sie ihr Vers gnügen, und die Mutter brauchte sich auch nicht aufzuregen." ,, Was reden Sie da, mein Bester?! Sie wollen, daß meine Katja fahnen­flüchtig und eine Berräterin sei? So denten nur Menschewili, mein Bester!, erwidert Xenio Livotona. ,, Was haben damit die Mensche wifi zu tun? Nncht jeder fann zu Fuß nach Leningrad   trotten. Ihre Katjuicha ist ein ganz ichwaches Kind."-Meine Katja und schtvach? Was ist das heute mit Ihnen?! Ich bitte Sie! Meine Katja ist: Milch und Blut! Ein Sports mädel! Sie ist nie frank gewesen, und Sie sagen, sie sei schwach!" Meinetwegen. Aber es kann ihr doch unterivegs Gott weiß was zus stoßen! Sie tann von Wölfen überfallen wer den!" Diefe Mädels fürchten sich nicht vor dem bösen Wolf, mein Beiter. Sie haben vor nichts Angit." Die, Libelle" sieht die rot ges wordene Xenia Livotna erstaunt an, hebt eine bedingt willst... Schön, meinetwegen, ich Augenbraue und meint: Sie sprechen so, als werde die Nummer mit Ninta Chworostowa ob Sie demnächst selber auf Sfiern nach Les tauschen. Sie kommt nämlich bestimmt an, fie ningrad laufen wollten, der Tochter nach..." bat vor nichts Angst, sie ist bei uns Meisterin, Wäre ich jünger, mein Befter, so wäre ich und geht schon zum zweiten Male nach Lenin­ grad  ..."

Wer jene Hoffnung gab verloren Nnb böslich fie verloren gab, Der wäre beffer nageboren, Denn lebend wohut er schon im Grab.

Gottfried Keller  ( 1819-1890). ***** xxxxxxx

Krankheit! Sonderbar, daß du dich nicht gleich auch an meine Muttermale erinnerst. Alle Bur­schen und Mädchen waren schon mit den Bret­teln in Leningrad  . Buchstäblich alle. Und ich muß aus irgendeinem unerfindlichen Grunde daheim sitzen und die politisch zurüdgebliebene Mutter bemitleiden! Wenn du es wissen willst, tust du mir in der Tat leid: du bist schon übec 50 und haft noch immer die Bedeutung des Ski­sportes nicht eingesehen!" Die politisch zurüd­gebliebene Mutter verzieht sich rasch in ihr Zimmer und fommt eine Minute später mit einem Umschlag in der Hand zurück. Da nimm", sagt sie und reicht den Imschlag der Tochter. Das sind 150 Nubel. Ich habe sie mir für einen Mantel zurückgelegt. Wenn du schon unbedingt nach Leningrad   mußt, dann mach es fo: lauf mit deinen verrüdten Freun dinnen auf den Bretteln bis zum Bahnhof und haz dann, daß dir der Fuß web tut oder sonst was und fauf dir eine Fahrkarte meinet wegen auch für den Expreßzug. Die Bretter gibst du cis Gepäck auf. und in Leningrad  steigit du bei der Tante Sina ab."- Ich danke dir vielmals, Mamachen, daß du mich lehrst, eine fahnenflüchtige Verräterin zu sein. Es vergehen Tage. Xenia Lwowna sehnt Sehr schön von dir! Wenn ich bloß wüßte, nach sich nach der Tochter und nimmt sichtlich ab. wem du so menschewistisch geraien bist?! Ver- Benn Katja telephonisch angerufen wird, er­steh' ich wirklich nicht!"- ,, Da sieht man: die flärt Xenia Lwowna mit Grabesstimme: It moderne Irgend!", wendet sich Xenia Lwowna nicht zu Hause. Ist fortgegangen. Nach Le­an den Pelz des Mitgliedes des Verteidiger- ningrad. Ja, ja, zu Fuß. Auf diesen... auf follegiums Puiestij, an diesen oft betvunderten Stiern. Im Amte und im Hause haben Welz, der auf dem Kleiderständer hängt. Man alle Verständnis für ihre Sorgen. Besonders sagt ihnen, wie sie es sich leichter und besser das Mitglied des Verteidigerfollegiums, Abram einrichten können im Leben und sie schimpfen Michailowitsch Puseßtij, der Zimmernachbar, einen dafür mit solchen Worten wie Mensche- den Katja immer mit einer Libelle vergleichi, wit aus! Der verstorbene Vater hätte sich, wenn er das bören könnte, im Grabe umge­breht Genug, bitte! Ich habe feine

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ohne weiteres bingegangen. Ueber Katia schreis ben schon die Zeitungen. Sie tun mir leid. mein Bester. Sie sind immerbin ein Mann in Jahren, über 50 find Sie wohl bestimmt, und bis auf den beutigen Tag baben Sie die Be­deutung des Stisportes noch nicht erfaßt!"

Plöblich flingelt das Telephon. Xenia Lwowna hebt den Hörer ab. Katja? Katja ist nicht zu Hause. Sie ist nach Leningrad   ge= aangen. Was heißt das: Wieso gegangen?' Sehr einfach: wie alle Menschen nach Leningrad  gehen. Auf Bretteln natürlich."

Buseytij stebt vom Sofa auf, drückt seine fühlt mit Xenia Lotyna mit. Jeden Morgen, Zinaretie in Aschenbecher   aus, brummt ,, Auf wenn er ihr im Gang begegnet, fragt er: Ha-| Wiedersehen und geht fort. ben Sie schon Nachrichten von Ihrer Artemis? ( Deutsch   von Gregor Jarcho).