BUNTE WELT
Nr. 5
Max Barth:
Unterhaltungsbeilage
Es handelt sich darum, eine Geschichte zu kommen fönne. Sie nennen ihm ein Hotel, beschreiben, eine Prager Geschichte, in der natür- Schreiben ihm den Weg. Man kann dort schon für lich auch der Hradschin borkommen muß. dreißig Kronen ein Zimmer haben. Es ist gut: er hat noch fünfzig und will nicht nur schlafen, sondern morgen auch essen. Verschiedene Maßstäbe, denkt er: dreißig Kronen, das ist bei ihnen billig. Er geht.
Der Zug läuft gegen neun Uhr abends ein. Es ist eine milde, aber nasse Herbstnacht; die Laris vor dem Bahnhofsportal glänzen unter dem strömenden Regen. Der Mann hat eine Adresse auswendig gelernt, und sein Geld ist ihm unterwegs eingewechselt worden; es sind rund sechzig Stronen. Er nimmt sich ein Tari, gibt die Adresse an und fährt durch eine lange, lange, gerade Straße zu einem erst halb bebauten Blaz. Dort zahlt. er seine Fahrt; sie macht sechs Stronen; er gibt ein Trinkgeld und verwechselt eines der ihm noch fremden Geldjtüde mit einem anderen: er gibt ein Fünffronenstüd für eine Krone. Der Schofför steckt alles ein und fährt ab. Der Mann springt rasch über die Straße zum Haustor, das eine Nummer über Zweitausend hattomisch, dieses hohe Nummern; aber er weiß schon, es sind die, unter denen das Haus im Grundbuch eingetragen ist. Er flin gelt die Hausmeisterin heraus und steigt eine Treppe hoch. Sein Freund macht ihm selbst auf; die Wirtin ist ausgegangen. ,, Da bist du! Hast es also geschafft!"- ,, Natürlich, tvenn ich sage, ich komme, so fomme ich. Das wäre gelacht!" Er schaut den Kameraden, der ihm vorausgega: gen ist und jetzt unter der offenen Tür seines Zimmers steht, prüfend an: man sieht ihm nichts mehr an vom Konzentrationslager; er hat es gottlob hinter sich und überstanden. Er hatte sich auf dem Herweg oft an das Bild erinnert, das der Freund ihm, bald nach seiner Entlassung aus dem Lager und der Flucht ins Ausland, hatte zukommen lassen. Es war kein schönes Bi: ein eingefallenes, hageres Gesicht, die Augen in großen, schwarzen Höhlen, ein gebezier Blid, der einem weh tat.
Nun, er ist darüber hinweggekommen; man fieht es. Man kommt über alles hinweg- wenn man lange genug lebt. Eine Zeitfrage, nichts
weiter.
Das Zimmer tut wohl; es atmet Ruhe, Geborgenheit, Sicherheit. Die letzte Zeit war für den Ankömmling nicht die rubigſte; er ist auf Umivegen hierhergekommen und hat feine Beit gehabt, irgendwo auszuruhen. Er hat Grenzen heimlich überschreiten müssen; einmal saß er zwei Stunden im Reger auf einem Fluß mit einem Kameraden aus dem Grenzgebiet und angelte, bis sie es wagten, sich mit dem Kahn allmählich; ans andere Ufer zu stehlen. Dann ist er auf eigene Faust an einer anderen Stelle durch einen Wald spaziert, sorgfältig refeg noizierend und die Grenzposten umschleichend. Aber nun ist er da und bereit, Fuß zu fassen.
Er bleibt drei Stunden. Um elf kommt der zweite Bewohner des Hauses nach Hause, ein Stamerad, der mit dem anderen im K3 war. Der Neuling erfährt, daß man in Prag oft, sehr oft ein Zimmer zu zweien nimmt, und das auffeimende Behagen bekommt einen falten Schauer. Um Mitternacht nimmt er an, die anderen wollten sich wohl schlafen legen. Sie wollen es, und er fragt, wo man billig unter
Der Regen ist etwas schwächer geworden. Der Mann ist für den Lebenskampf mit einem Regenschirm ausgestattet, einem Füllfederhalter und einer Karte von Prag , mit der er nichts anzufangen weiß, weil er sie im Regen nicht auseinanderfalten fann und auch, weil ihn die uns verständlichen Straßennamen ja doch durch einanderbringen würden.
Den Regenschirm hat ihm in jenem Dorf, in dem sie angeln gingen, die alte Mutter des Genossen geschenkt, der ihm über die Grenze half; er wollte ihn nicht nehmen, denn Regenschirme kamen ihm lächerlich vor. Jebt ist er froh, ihn zu haben. Die Starte hat er in einem anderen Ort bekommen; sie ist unrecht Gut: es steht der Stempel eines Prager Hotels darauf. Er hat ihn aber mit dicen Tintenstiftstrichen zugedeckt.
1937
binab, bleibt manchmal vor einem Schaufenster stehen, zwingt sich, gemächlich zu gehen, um die Beit totzuschlagen. Er muß bis zum Tagesanbruch herumtrotten.
Er biegt bald rechts, bald links in Straßen ein; manchmal gerät er auf einen anderen Plaz, manchmal erweist sich die Straße als enge Gasie mit Winkeln, dunklen Torbögen und Eden, hins ter denen der Schatten schwarz und fast greifbar steht. Er besieht sich Kinoplakate; sie sind alle da: Charlie, Lilian Harvey, Marlene und Jan Kiepura und wer weiß wer noch.
Er wandert und wandert; Gewinkel, halbs dunkle Schluchten, schmal und hoch wie Canons, breite Fassaden alter patrizischer Häuser, Kirchtürme und spiße Dächer. Die Erinnerung, daß er schon lange, lange von dieser Traumwelt getwußt, steigt auf. Ja, das ist die Stadt des Go lems. Er schließt die Augen und sieht die Zeich nung: n Steiners zu Mehrints Buch. Ein fleines Band 3. dieser Stadt, eine kleine Brüde zum neuen Milieu.
Straßen, Straßen, Gassen, Türme und Kirchen. Ein Plaz, plößlich, mit schönen alten Bauten; man spürt: das muß das Herz des alten Brag gewesen sein, Marktplatz und Rat haus.
wird von unten herauf feucht; unterhalb der Immer noch rinnt der Regen; sein Mantel Senie schlägt er ihm gegen die Beine, um Schienbein und Wade wird es unbehaglich falt und naß. Die Melodie der summenden Tropfen ist nicht unangenehm; sie durchrieselt ihn bernahe wohlig; wäre nicht das Gefühl der nassen Kälte um die Beine, so könnte man sich unter dem Regenschirm wie im behaglichen Daheim
Im Zug war er sich wie ein Taucher im Meer vorgekommen, durch seine Unkenntnis der Sprache wie durch eine dide, schwere Rüstung von der Welt um sich getrennt. Alle draußen waren lebendig und verstanden einander, aber er war eingesargt, taubſtumm, wie einer von jen seits, ein hilfloser Schatten. Es war eine absolute Einsamkeit, ein völliges Abgeschnitten. Leetrenntsein, ganz, ganz verschieden von der relativen Nähe, in der man sich in anderen. romanischen, germanischen Sprachgebieten doch immer zu den Menschen befand, wenn man fühlen. auch die Sprache noch nicht fannte. Man errier, ahnte, begriff- hier war man ganz allein und ohne Zugang.
Gepäck hat der Mann keines. Gepäd haben Leute mit Paß und Visum. Bei Auslandsreisen wie der seinen, heißt es mit leeren Händen gehen oder gar nicht.
Er geht die lange Straße, die ihn das Auto hergebracht hat, zurück zur Stadt. Er hat keinen Sut, aber das macht nichts; es ist warm. Auf seinen Schirm trommelt fröhlich und unermüdlich der Regen. Er beschließt, sich nicht nach dem billigen" Hotelzimmer umzusehen und sein Geld in der Tasche zu behalten. Daß es nicht viel wert ist, hat er schon begriffen. Er überlegt: man muß leben, und nimmt sich vor, eine Nacht lang spazieren zu gehen und sich dabei den Stoff zu einem fleinen Manuskript zusammenzubeobachten. Man muß leben, und um zu leben, muß man schreiben. Man muß also eine Geschichte schreiben, und in ihr muß der Hradschin vor fommen; das gehört sich so, denkt er.
Die Hauben und Kotflügel der Autos glitzern im Licht der Straßenlampen; unter dem rinnenden Regen ist ihre Oberfläche wie belebt. Er fommt in eine hellere Straße; es ist ein rich tiger Play, breit, etivas abfallend; ein Denkmal steht da. Es ist schon nach Zwölf, er ist schon den zweiten Tag in Prag . Er geht den Play
Wie sonderbar es ist, plöblich allein gelasfen zu sein in einer Stadt, die einem so fremd ist! Es gibt keine Beziehung zwischen dem, was man lieft, den Aufschriften der Häuser, den Zets tungen hinter den Schaufenstern und sich selbst. Man ist verstoßen. Man ist wie ein Kind unter Großen, die ihre eigenen Dinge und in ihrer Sprache bereden; nein, schlimmer, das Kind versteht die Worte, wenn auch nicht immer den Sinn, es weiß immerhin, daß es dazugehört, wenn es auch nicht mitreden darf.
Er versucht zu verstehen, überlegt, toas die Akzentzeichen auf den Buchstaben bedeuten mögen. Es gibt dreierlei„ e"; welches davon wird jotiert- denn sicher gibt es im Tschechtschen die Jotierung? Also, welches wird..je" gesprochen: das ohne Akzent, das mit., accent aigu" oder das mit dem aufgesetzten spizzen Keil? Er tippt auf das letztere, einfach seines Aussehens wegen. Monströs und bedrohlich wirken die langen Wörter mit den vielen Konsonanten, denen man selbst da, wo sie( unter mysteriöser Verkleidung) vorhanden sind, die Beziehungen zu romanischen nicht ansieht. Immerhin: nicht alles ich so unheimlich. Daß ,, Kava“„ Kaffee" beißt, erscheint ihm sicher, und„ Mléko " kommt ihm auf den ersten Blick schon als., Milch" vor.
Eine Brücke taucht auf, an der steht..Most Karluv", und wenn das„ Karlsbrüde heißt,