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Panjale

39ginis

Freihei

Nummer 45-1. Jahrgang

Einzige unabhängige Tageszeitung Deutschlands

Saarbrücken, Freitag, 11. August 1933

Chefredakteur: M. Braun

,, Das Proletariat aber ist die Hauptproduktivkraft der Gesell­schaft. Man kann es für einige Zeit niederschlagen, es für immer zu versklaven ist unmöglich. Hitler verspricht, die Arbeiter um­zuerziehen. Aber er ist gezwun­gen, pädagogische Kunstgriffe anzuwenden, die nicht einmal für die Dressur von Hunden taugen.' Leo Trotzki .

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Brandherd und Brandstifter

Das gefährliche Doppelspiel

Hitler unter Zensur- Waffendrohung

in der französischen Presse- Der Kampf um Oesterreich

Die europäische Sorge

Berlin, 10. Aug.( Eigener Draht.) Vielleicht ist nichts so kennzeichnend für die schwankende und unwahrhaftige Außenpolitik der jetzigen Reichs regierung als die Tatsache daß nun auch der Reichs kanzler Hitler allerhöchstselbst unter Pressezensur gestellt wird. Den deutschen Redaktionen wird folgende Notiz zugestellt:

Das vom preußischen Presedienst der NSDAP . gestern abend verbreitete Interview des Reichskanzlers mit einem amerikanischen Blatt darf nicht abgedruckt werden. In den letzten Wochen ist eine solche Unterredung nicht gewährt worden.

Vizekanzler von Papen verleugnete, was er auf seinem Schlosse im Saargebiet einem englischen Journalisten ge­Jagt hat. Dem Reichskanzler selbst aber wird untersagt. ein Interview zu verbreiten, das er, wenn auch schon vor einiger Zeit, einem Amerikaner gewährt hat. Die Außen­politik der jetzigen Machthaber ist so verlogen, daß die Herren selbst in dem Jergarten ihrer Winkelzüge sich nicht mehr zurechtfinden. Insbesondere wissen sie nicht mehr, was sie von ihren außenpolitischen Niederlagen dem deut­ schen Volke glauben zumuten zu dürfen und was nicht.

Die unangebrachten Jubeltöne der deutschen Presse über bie Ablehnung des englisch - französischen Schrittes in Berlin haben nun prompt die Wirkung gehabt, daß auch Mussolini einen deutlichen öffentlichen Wink nach Berlin gibt. Die italienische Regierungsagentur Stefani teilt mit, daß tatsächlich auch Italien , wie wir stets be hauptet haben, einen Schritt gegen die antiösterreichische Politik der Reichs regierung in Berlin unternommen hat. Daß diese Warnung, die Mussolini selbst an den Vizekanzler von Papen richtete, sehr diskreten und privaten Charakter hatte, schwächt sie nicht ab und ändert an ihrem großen Ernste nichts.

Die Beteiligung der italienischen Regierung an der eng lisch- französischen Demarche in Berlin ist nur deshalb nicht erfolgt, weil die deutsche Reichsregierung dem italienischen Botschafter die feste Zusicherung gegeben hat, daß sie alles tun will, um die Ueberfliegung österreichischen Gebietes durch Propagandaflugzeuge und die Verlegung der öster reichischen Regierung durch Rundfunkreden zu verhindern. Die Reichsregierung hat ferner auch der englischen Regierung das feste Versprechen gegeben, daß sie alles tun werde, um die deutschen Fliegereinfälle nach Oesterreich zu ver bieten und der Heze gegen die österreichische Regierung ein Ende zu machen. Der östers reichische Geschäftsträger in London ist am 8. August durch das britische Auswärtige Amt über diese Zusicherungen der Die deutschen Reichsregierung unterrichtet worden. deutsche Presse darf von diesem eindeutigen Nachgeben der Reichsregierung, obwohl es das Vernünftigste war, was sie tun konnte, nichts mitteilen. Die deutsche Deffentlichkeit muß in dem gefährlichen Glauben gehalten werden, als fuhrwerke Hitler mit der eisernen Faust in der euro­ päischen Politik herum.

Die britische Regierung hat dem österreichischen Geschäftsträger in London mitgeteilt, daß sie nach den ents gegenkommenden Erklärungen der Reichsregierung das Ziel der Demarche in Berlin für erreicht halte. Allerdings wurde dem österreichischen Diplomaten auch kein Zweifel darüber gelassen, daß die englische Regierung die offiziösen Berliner Verlautbarungen über den Ausgang der De­marche als eine Verlegung der diplomati ichen Etikette betrachte. Diese herausfordernden Diese herausfordernden offiziösen deutschen Erklärungen seien allerdings nur zu innerpolitischen Zwecken erfolgt. England erwarte, daß die Reichsregierung ihre Zusicherungen halte. Geschehe dies nicht, so dürfe Oesterreich auf den

Schutz nicht nur Englands und Frankreichs , sondern auch Italiensrechnen.

Nichtsdestoweniger bleibt Desterreich beunruhigt. Die Neue Freie Presse" in Wien stellt die Meinungs­verschiedenheiten über die Auslegung des Viermächte­paktes heraus und spricht davon, daß die Enttäuschung dem Vertragsabschluß auf dem Fuße folge. Der Viererpakt habe eine sehr ernste Lücke, insbesondere was Desterreich betrifft.

Aus alledem ist zu schließen, daß die österreichische Frage ein gefährlicher Unruheherd für Europa bleibt. Es ist schwer abzusehen, wie die deutsche Reichsregierung zu einer für Europa erträglichen Lösung des deutsch - öster­reichischen Konfliktes kommen will, wenn sie hinter den Kulissen den fremden Regierungen nachgiebige Zusicherun gen übermittelt, und in der Oeffentlichkeit durch tausende Zeitungen die Aktivität der nationalsozialistischen Feinde des jetzigen österreichischen Regimes sowohl im Reiche wie in Desterreich selbst schüren und steigern läßt.

Aus der französischen Presse dringen Rufe nach bewaffneter Jntenvention zu uns. Echo de Paris" schreibt, es bleibe die einzige Möglichkeit, den Berliner Herren klipp und klar zu sagen, daß wir den Anschluß nötigenfalls mit Ge­walt verhindern werden".

Auch der ruhigere Temps " befürchtet seit Tagen in jeder Ausgabe eine Störung des europäischen Friedens.

Dieser Alarm ist freilich nur als drohendes Stimmungs­zeichen und glücklicherweise nicht als nahe bevorstehende Mobilmachung zu bewerten. Wie insbesondere die sehr vorsichtige Haltung der britischen Regierung beweist, ist die Scheu vor jeder Verschärfung der Kon flikte sehr groß. Man würde sich aber bedenklich täuschen, wenn man die Festigkeit insbesondere auch in England, zum Schuße der Selbständigkeit Desterreichs unterschätzte.

Allerdings ist Zwiespalt in der öffentlichen Meinung Englands unverkennbar. Die pazifistische Grundströmung ist deutlich und stark, Man sollte sich aber daran erinnern, daß diese Mäßigung auch in den Wochen der Hochspannung im Sommer 1914 in England vorhanden war. Sie war so

schen Handlungen anbeträfe, so beklage die deutsche Regierung fie, aber sie lehne die Verantwortung ab. Die deutsche Regierung anerkennt schließlich die Notwendigkeit, allen 3wischenfällen

ein Ende zubereiten.

Das offizielle deutsche Telegrafenbüro ist offenbar der Meinung, den Sinn der oben wiedergegebenen italienischen Ausführungen in dem folgenden Satz mit genügen. der Treue" wiedergegeben zu haben. Er lautet:

" In Verfolg dieser Unterhaltung hat die deutsche Res gierung dem italienischen Botschafter beruhigende Versicherungen über die Radiopropaganda und die Ueberfliegung österreichischen Gebiets abgegeben." Solche kleinen Fälscherkunststücke werden ange­wandt, um dem deutschen Volke die Wahrheit uent­halten, daß Mussolini mit Erfolg die deutsche Regie­rung von ihrem Propagandafeldzug gegen Desterreich zu. rückgepfiffen hat.

Sehr beunruhig

England beginnt klar zu senen

Paris , 10. Aug.( Eig. Draht). Le Rempart", läßt sich unter der Ueberschrift England beginnt klar zu sehen" aus London berichten:

Die gestern durch eine deutsche Agentur veröffentlichte Verlautbarung und die Erklärung des Herrn von Bülow, die unmittelbar nach dem Besuch des französischen Botschaf ters und des englischen Geschäftsträgers erfolgte und sich mit der nationalsozialistischen Propaganda in Oesterreich bes faßte, hat nach der Meinung offizieller englischer Kreise eine wirklich ernste Situation heraufbeschworen.

Uebrigens erfährt man aus maßgeblicher Quelle, daß es möglich ist, daß diese Angelegenheit im Ministerrat bespro= chen wird, der besonders zu diesem Zwede zusammentreten würde. Man spricht von gemeinsamen neuen Vorstellungen Frankreichs und Großbritanniens in Berlin , die zum Ziele haben sollen, daß die antiösterreichische Propaganda in kürs zester Frist aufhöre.

Herr Ramsay MacDonald , der sich gegenwärtig in Ferien befindet, ist telefonisch von der Lage unterrichtet worden, die von ihm als sehr beunruhigend angesehen werden soll.

*

groß, daß der deutsche Reichskanzler von Bethmann- Holl. Ernste englische Stimmen weg an eine Einmischung der englischen Waffe in den mit­teleuropäischen Konflikt bis zur letzten Stunde nicht glauben konnte und zusammenbrach, als die britische Kriegserklärung seine Politik vernichtete.

Soweit sind wir jetzt nicht. Aber man darf sich auch nicht verhehlen, daß in Berlin im Sommer 1933 ganz andere Temperamente am Werke sind, als der beschauliche Philo­soph von Bethmann- Hollweg . Nicht in London und Paris oder in Rom , sondern in Berlin fallen die Entscheidungen über Krieg und Frieden Europas . Alles hängt davon ab, ob es gelingt, die gefährlichen und verantwortlichen Aben­teurer rechtzeitig zu stürzen, ehe sie Europa in Brand stecken, wie sie Feuer an das deutsche Reichstagsgebäude gelegt haben.

Deutschlands Größe und Zukunft und der Frieden Europas erfordern gleichermaßen den rücksichtslosen Kampf gegen die politischen Brandstifter.

Zurückgepfiffen!

Fälschung und Wahrheit

Die Uebersetzung der offiziellen italienischen Note durch das Wolff'sche Telegrafenbüro zeigt bemerkenswerte Ab­weichungen und Auslassungen. Die entscheidende Stelle des Originals lautet:

In der Folge der Besprechungen hat die deutsche Re gierung dem italienischen Botschafter letzten Samstag zu gesichert, daß die Radiopropaganda und die Ueberfliegun­gen verhindert werden würden. Was die terroristis

Nach dem News Chronicle" schafft die arrogante Antwort der deutschen Regierung an die Vertreter Englands und Frankreichs eine ernste Lage, die in Gefahr ist, sich zu verschärfen angesichts der Montag erfolgten Ermordung eines österreichischen Grenzpostens an der österreichisch­bayerischen Grenze

Die gegenwärtige Lage an der österreichischen Grenze bes deutet ohne Zweifel eine schwere Bedrohung des europäischen Friedens. Der Biererpakt rechtfertigt also die freundschaftlichen Vorstellungen Englands und Frankreichs . Was die vom Reich versuchte Einrede( Sugges stion) angeht, daß die beiden Mächte sich in die deutsch - öster­reichischen Beziehungen nicht einzumischen hätten, so bedeutet das nicht mehr und nicht weniger, als öffent lich den Friedensvertrag zu zerreißen. Wenn Deutschland wünscht, daß dieser Ver: trag revidiert werden soll, dann muß es da= mit beginnen, ihn zu beachten.

Die Time 8" meinen, daß der Ton der deutschen Vers öffentlichung ganz flar zeigt, daß die Reichsregierung nicht darauf eingestellt ist, irgend etwas zu tun, um die gegenwärtige Spannung zu mildern.

Der Daily Herald" ist der Ansicht, daß es sich nur um ein innerpolitisches Manöver der deutschen Regierung handele, um ihr Gesicht vor der deutschen öffent lichen Meinung zu retten. Das Organ der Arbeiterpartei versichert sogar, daß vertraulich den beiden Regierungen die Garantie gegeben worden sein soll,

daß der Kanzler Hitler hofft(!), den Eifer seiner Gefolgichaft zügeln und dem Feld= zug gegen den Kanzler Dollfuß ein Ende bes reiten zu können.

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