Fretheil

Einzige unabhängige Tageszeitung Deutschlands

Nummer 76-1. Jahrgang Saarbrücken , Samstag, den 16. September 1933 Chefredakteur: M. Braun

Es ist die erste Pflicht des Wahrheitsforschers, direkt auf

die Wahrheit loszugehen, ohne rechts oder links zu sehen? Ver­gesse ich nicht die Sache zu sagen, wenn ich noch weniger vergessen darf, sie in der vorgeschriebenen Form zu sagen? Die Wahrheit ist so wenig bescheiden als das Licht. Marx.

Reichstagsprozeß in London

Die englische Regierung lehnt deutsche Einmischung ab

milf is dy London , 14. September. Die von der gesamten Oeffentlichkeit mit äußerster Spannung erwartete Haupttagung des Internationalen Untersuchungsausschusses zur Aufklärung des Reichstags= brandes, dem eine Reihe der bedeutendsten juristischen Kapa: zitäten aus England, Frankreich , Amerika , Holland , Schwe: den, Dänemark , Belgien , Spanien , Italien und der Schweiz angehören, hat heute begonnen. Am Donnerstag um 10 Uhr eröffnete im Verhandlungsfaal der Law Society, der bes deutendsten juristischen Vereinigung Englands, der ehe: malige englische Oberreichsanwalt Cripps die Plenars tagung . Hente abend findet bei Lady Marley zu Ehren des Untersuchungsausschusses ein Empfang statt, an dem viele führende englische Politiker, Juristen, Journalisten und die Spigen der Gesellschaft teilnehmen.

Dem Untersuchungsausschuß gehören n. a. an für Engs land: der Kings Councel M. Pritt; der ehemalige oberste Reichsanwalt Sir S. Cripps . Für Frankreich : Moro

Die Presse

Die große englische Presse beschäftigt sich in langen Ars tikeln mit dem Gegenprozeß". Seit Tagen berichten die Blätter spaltenlang über die zu erwartende Aufklärung des Reichstagsbrandes, über die Persönlichkeiten, die dem Unters Reichstagsbrandes, über die Persönlichkeiten, die dem Unter: fuchungsausschuß angehören und über die Zeugen. Die Fests fuchungsausschuß angehören und über die Zeugen. Die Fest: stellung kehrt immer wieder, daß die Wahrheit über den Reichstagsbrand nicht in Leipzig , sondern in London fests gestellt werden wird. Selbst ein so rechtsstehendes und hitler: freundliches Blatt wie die Daily Expreß " überschreibt ihre Nachrichten über den Gegenprozeß":" Das Weltgericht bes ginnt morgen".

Die Nachfrage nach Karten zu dem Presseempfang anläßlich des Gegenprozesses" ist außerordentlich groß. Hunderte von Journalisten mußten abgewiesen werden, da keine Karten mehr vorrätig sind.

Giafferi, einer der bedeutendsten und sicher der bekannteste Das Weltgericht beginnt at

Pariser Anwalt; Gaston Bergery , Mitglied der Kammer, führender Politiker der französischen Linken. Für Ames rifa: Arthur Garfield Hays , einer der bekanntesten Anwälte der Vereinigten Staaten , der in den meisten großen Pro zessen in den legten Jahren, u. a. auch im Prozeß Saccos Vanzetti aufgetreten ist; Glarence Darrow, ebenfalls einer der hervorragendften amerikanischen Anwälte. Für Italien : der ehemalige Ministerpräsident und bedeutende Jurist Francesco Nitti . Für Schweden : Senator Dr. Branting, der Sohn des verstorbenen Ministerpräsidenten, einer der bes kanntesten Anwälte der nordischen Länder. Für Holland : die Abgeordnete Frau Dr. Batter- Nort. Für Belgien : Pierre Vermeylen. Für die Schweiz : Johannes Huber, Vizepräs fident des Schweizer Nationalrates. Für Bulgarien : Dets scheff, einer der bevorzugtesten bulgarischen Anwälte. 3 Voruntersuchungen

Der Untersuchungsausschuß zur Aufklärung des Reichs tagsbrandes hat bereits zwei Sigungen abgehalten. Er hat in Paris unter dem Vorsitz von Moro Giafferi eine Tagung gehabt, in der zu den bisherigen Ergebnissen der Boruntersuchung Stellung genommen und festgestellt wurde, daß an eine wirksame Verteidigung der Angeklagten vor dem Leipziger Reichsgerichtshof nicht zu denken sei, weil die deutsche Regierung und in ihrem Namen der Oberreichss anwalt und die Reichsrichter sich weigern, jene selbstverständ lichen Rechtsgarantien zu geben, die für die Wahrheits­findung in allen Staaten der Welt die erfte, unerläßliche Borauslegung ist.

Auf Grund dieser Sigung begab sich eine Untersuchungs tommission unter der Führung von Dr. Branting und Fran Dr. Bakter- Nort nach Holland , nm an Ort und Stelle zahl: reiche Zeugen über van der Lubbe zu vernehmen. Es wurden zu den bisherigen neue Dokumente beigebracht und zahlreiche neue Feststellungen erhoben, die dem Plenum des Untersuchungsausschuß in London vorgelegt werden. Die Zeugen

Zu den Zeugen, die den Morddrohungen des Hitlerregimes zum Trog im Londoner Gegenprozeß aussagen werden, ge= hören u. a. Professor Georg Bernhardt, der ehemalige Chefredakteur der Vossischen Zeitung" und führender demo= fratischer Politiker; Dr. Rudolf Breitscheid , Reichss tagsabgeordneter, einer der Führer der sozialdemokratischen Partei Deutschlands ; Grzesinsti, ehemaliger preußischer Minister des Innern und Polizeipräsident von Berlin ; Dr. Kurt Rosenfeld, ehemaliger preußischer Justizminister und Mitglied des Reichstages; Dr. Her ß, der Sekretär der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion; der deutsche Schrift: steller Ernst Toller ; die Schwester des Mitangeklagten bulgarischen Politikers Dimitroff ; der Journalist Philippsborn, der am Tage vor dem Reichstagsbrande ein ausführliches Interview mit Torgler gehabt hat; ferner Zeugen aus Holland , Desterreich usw.

Die Weltöffentlichkeit zum Gegenprozeß

Dieser Prozeß hat seinesgleichen in der Geschichte nicht. Diese Richter stellen das Rechtsgewissen der Welt dar. Die Weltöffentlichkeit selbst sitzt zu Gericht über den Täter. Die Weltöffentlichkeit will einen Justizmord an Unschuldigen vers hindern, einen Mord, in dem die Täter über die Unschuldigen zu Gericht sitzen. Die Nachfrage nach Eintrittskarten zu den öffentlichen Sigungen des Untersuchungsausschusses enorm. Die allgemeine Spannung, mit der die Verhandlung hier erwartet wird, ist nicht nur mit der Sensationslust der alarmierten Oeffentlichkeit zu erklären, sondern vor allem durch das in der englischen öffentlichen Meinung lebendige Gefühl für Gerechtigkeit.

ist

Die Eröffnungsrede hielt der Rechtsanwalt Sir Stafford Cripps . Er ist einer der angesehendsten Juristen und Ar­beiterabgeordneten Englands. Man tut überhaupt gut, in Deutschland zu beachten, daß es sich bei diesem Gegenprozeß nicht um obskures Unternehmen, mehr oder minder unbe­kannter Leute handelt. Hier sind Menschen am Wert, deren Name in ihrem Lande und weit darüber hinaus ausgezeich neten Klang hat. Außerhalb Deutschlands wird dieser Prozeß die höchste und die ernsteste Beachtung finden.

Das Londoner Gerichtsviertel stand am Donnerstag im Zeichen des Gegenprozesses. Mehrere Stunden vor seiner Er­öffnung war der Court Room, das Tagungslokal der an­gesehendsten Juristenvereinigung Englands von zahlreichen gesehendsten Juristenvereinigung Englands von zahlreichen Gruppen und Passanten belagert. Der Gegenprozeß findet unter dem Andrang der gesamten Weltpresse statt. Inmitten der alten traditionellen Gerichtsgebäude Londons liegt der Saal, in dem diese einzigartige Tagung, die von der Lon­doner Presse das Weltgericht über Hitler genannt wird, ihren Verlauf nimmt. Gegen 11.30 Uhr erschienen die Mitglieder des Untersuchungsausschusses: Frau Bakker Nort( Hol­ land ), Bergery( Frankreich ), Branting ( Schweden ), Garfield Hays( Vereinigte Staaten ), Vald Huidt ( Dänemark ), Pritt( England) und Vermenlen( Bel­ gien ) im Verhandlungssaal. Die Pressebänke und der Zu­schauerraum sind überfüllt. Man sieht zahlreiche bekannte Persönlichkeiten des englischen öffentlichen Lebens unter den Zuhörern, u. a. den bekannten englischen Schriftsteller H. G. Wells , Lansbury , Lady Marley, Professor Lasky.

Der englische Oberreichsanwalt

Der ehemalige Oberreichsanwalt der Labourregierung, Eir Stafford Cripps , nimmt das Wort zur Eröffnungsrede. Er verweist darauf, daß seit der Zeit des Reichstagsbrandes viele Gerüchte über den Ursprung des Feuers aufgetaucht feien. Der deutsche Oberreichsanwalt habe eigent­lich die Aufgabe gehabt, alle diese Gerüchte und Spuren zu prüfen, aber die aktive Propaganda gegen die Kommunisten habe eine solche objektive Prüfung unmöglich gemacht. Des­halb müsse sie von Juristen aus fremden Ländern vorgenom­men werden. Es sei einer großen Anzahl Zeugen unmöglich, in Leipzig zu erscheinen. Cripps verweist auf die Todes­drohung des Dortmunder Naziblattes gegen alle Zeugen, die im Sinne der Verteidigung der Angeklagten in Leipzig aussagen werden. Der Untersuchungsausschuß würde auch die Gerüchte prüfen, daß der Brand im Reichstag von natio­nalsozialistischer Seite gelegt worden sei. Er glaube jeden falls, daß der Versuch in Leipzig , die Angeklagten zu be­lasten, nach den Erhebungen des Untersuchungsausschusses mißglücken werde. Was der Untersuchungsausschuß feststellen werde, sei von großer Bedeutung, da viele Feststellun­gen innerhalb Deutschlands bei den gegen wärtigen politischen Verhältnissen dort un­möglich seien. Die Tagung des Untersuchungsausschusses stelle kein Gericht im eigentlichen Sinne dar, denn ein solches sei außerhalb Deutschlands nicht möglich. Es sei die Aufgabe dieser Tagung, so viel wie möglich Material zur Aufklä= rung des Reichstagsbrandes zusammenzutragen und es in wohlerwogener Weise der Welt mitzuteilen. Cripps stellte gegenüber bestimmten Behauptungen der deutschen Presse fest, daß feiner der Anwälte zur politischen Parteider Leipziger Angeklagten gehöre. Die Juristen aus allen Ländern, die hier zusammenkamen, wollen der Wahrheit helfen. Das Braunbuch" wurde nicht von der Kommission verfaßt, aber so wie die Kommission alles Material objektiverweise prüft, wird sie auch das Material des Braunbuches" untersuchen. Die Welt soll aus dem Ver­lauf dieser Tagung sehen, daß hier allein die Wahrheit ge­sucht wird. ( Fortsetzung siehe nächste Seite.)

Der Gegenprozeß

Die Prozesse um den Reichstagsbrand, der offizielle in Leipzig wie der" private" in London , können über den guten Ruf" der Reichsregierung gewiß nicht entscheiden. Dieser steht bereits seit langem fest, und eine Brandstiftung, selbst wenn sie den geheiligten Tempel des deutschen Parla­mentarismus in Gefahr gebracht hat, ist sicherlich nicht die schlimmste aller Untaten, die das dritte Reich" zu verantworten hat. Trotzdem hat die Welt ihre guten Gründe, gerade dieser Angelegenheit eine besondere Aufmerksamkeit zu widmen.

Eine gewisse Rolle spielt, daß der Reichstagsbrand das Signal für den Ausbruch der nationalen Revolution" ge­wesen ist. Er hat den Vorwand gebildet, um einen völlig gefeßlosen Kampf gegen die politischen Gegner zu beginnen. Das deutsche Volk in seiner Mehrheit glaubte und glaubt tatsächlich, daß mit der Brandstiftung eine fommu­nistische Aftion größten Umfanges beginnen sollte. Aber das Ausland, das unendlich besser unterrichtet wurde, durch­schaute sofort die plumpe Machenschaft. Wenn sich die nationalsozialistischen Führer auch weniger technische Fehler" bet der Durchführung ihres Verbrechens hätten zu= schulden kommen lassen, so wäre dennoch der Verdacht auf sie gefallen, weil sie allzu schnell und allzu uner­fättlich politisches Kapital aus dem glückhaften" Er­eignis zu schlagen suchten.

Der Reichstagsbrand als Bastille sturm" der nationalen Revolution ist zwar ein hochinteressanter Witz der Weltgeschichte, aber diese Seite der Angelegenheit war es nicht, welche das Weltgewissen so erschüttert hat. Denn irgendeinen Anlaß, sich von Gesez und Sitte zu befreien, hätten Hitler , Göring und Göbbels immer gefunden. In erster Linie sind es rein menschliche Gründe, welche eine ganze Anzahl hervorragender Juristen aus allen Ländern bestimmen, der Wahrheit über den Reichs­tagsbrand zum Siege zu verhelfen. Sie fürchten, daß die Hitlerregierung die unschuldig Angeklagten opfern wird, um sich von dem schweren Verdacht zu reinigen, der auf ihr lastet. Glücklicherweise gibt es noch Millionen von Menschen, deren Gewissen es nicht zuläßt, widerspruchslos eine der­artige Verhöhnung der Gerechtigkeit hinzu­nehmen.

Vergeblich spielt der Propagandachef des britten Reiches" den Harmlosen. In Deutschland fann er mit einer solchen Haltung vielleicht einigen Eindruck machen, dafür wird es in der ganzen Welt den Verdacht gegen ihn bestärken, wenn er auf die schwerste Anklage nicht anders, als mit ausweichen­den Redensarten zu antworten vermag, wie er es gestern in einer Berliner Gauversammlung tat. 910

,, Schlimmer ist es schon," sagte er, was die kommunistis schen Hezer betreiben, die außerhalb unserer Landes­grenzen sich befinden. Wenn ich mir das vor einigen Tagen in die Hände gefallene(!) Braunbuch durchblättere, und wenn ich da haarscharf bewiesen sehe, daß in meinem Kopf der Plan zum Reichstagsbrand entstanden wäre, und daß der preußische Ministerpräsident Göring , ihn praf­tisch durchgeführt habe, so fann ich nur sagen: Herr ver­gib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun. Ich glaube auch nicht, daß das Ausland diese Dinge ernst nimmt, ebenso wenig wie das deutsche Volt sie ernst nimmt. Die arbeitenden Menschen in Deutschland sehen unsere Er­folge(?) und sie messen daran die Richtigkeit unseres Kurses."

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Mit solchem Geschwäß fann er selbst auf die gehorsamen SA.- Leute, die ihm zugehört haben, feinen großen Eindruck gemacht haben. Und diese wissen nicht einmal, wie blutig ernst das Ausland diese Dinge" nimmt. Daß nämlich noch keine einzige angesehene ausländische Zeitung für die Unschuld der nationalsozialistischen Führer eine Lanze gebrochen hat, daß vielmehr fast allen ihre Schuld als eine unbestreitbare Tatsache gilt, über die eine Diskussion sich taum mehr lohnt.

Viele Einzelheiten des Reichstagsbrandes sind noch un­geklärt. Trotzdem traut die Welt nur den National­sozialisten ein derartiges Verbrechen zu. Und eine solche Meinung hat sich nicht ohne Ursachen über sie gebildet. Wir sagten in der Einleitung dieses Artikels, daß eine Brand­stiftung nicht das schlimmste unter den nationalsozialistischen Verbrechen sein würde. Viel erschütternder erscheint uns z. B. die Behandlung der Mörder von Potempa durch Adolf Hitler . Wenn sich die Welt an dieses Ereignis nicht mehr genau erinnert, so ist doch das Gefühl des Abscheus, das es erregt hat, geblieben. Damals, als eine Bande von Nationalsozialisten den Arbeiter Pietrzuch in seiner Woh