DAS BUNTE BLATT
NUMMER 87= 1. JAHRGANG
TAGLICHE UNTERHALTUNGS- BEILAGE
SAMSTAG, DEN 30. SEPTEMBER 1933
Zukunft und Gegenwart was es alles gibt
Ich fuhr neulich auf meinem Fahrrad.
Ich habe ein recht gutes Rad. Englische Marke- BCA. Es ist eine vortreffliche, höchst moderne Maschine. Schade nur die Räder sind nicht ganz. Das heißt die Räder sind zwar ganz, aber sie bestehen aus verschiedenen Teilen. Das eine ist BCA., das andere deutsch . Lenkstange und Rahmen sind aus der Ukraine . Immerhin man kann darauf fahren. Bei trockenem Wetter. Ich radle also. Ramenostrowski Prospekt, Boulevard. Ich biege in eine Seitenallee des Boulevards ein und gondle gemütlich dahin.
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Vögel zwitschern. Eine Krähe pickt im Baub. Am Weg bellt ein graues Hündchen. Ich betrachte dies herbstliche Bild. Mir wird plötzlich weich ums Herz, ich mag an nichts Böses mehr denken. Ich male mir ein herrliches Leben aus. Gleichheit und Brüderlichkeit. Und gütige, verständige Menschen. Und gegenseitige Achtung. Und milde Sitten. Und Nächstenliebe.
Ich möchte die ganze Welt umarmen, irgend jemand etwas Gutes sagen oder ihm eine Mahlzeit vorseßen lassen. Ich möchte an alle Unglücklichen Geld verteilen und von allen ihre Bürde nehmen.
Doch plößlich schrillt ein Pfiff.
Es hat sich jemand strafbar gemacht, sage ich mir, wahrscheinlich ist er vom Weg abgewichen. In der Zukunft wird so etwas voraussichtlich nicht mehr vorkommen. Es wird nicht mehr jene gellen, beleidigenden Pfiffe geben.
Wieder ertönt nicht weit von mir ein beunruhigender Pfiff, Geschrei und grobes Schimpfen.
Solche Grobheit und solches Gebrüll wird es später einmal nicht mehr geben. Nun, Geschrei wird vielleicht noch sein, aber nicht dieses rohe, beleidigende Schimpfen und diese Gemeinheit.
Ich höre jemand hinter mir laufen und mit heiserer Stimme schreien:
Du Hund, was reißt du aus, wart, ich werd' es dir geben! Auf der Stelle bleibst du stehen!"
Wozu diese Aufregung? sage ich zu mir selbst, und fahre ruhig, aber rüstig weiter.
„ Beschka!" brüllt jemand,„ komm dem Kerl von links zuvor! Verlier ihn nicht aus den Augen!"
Ich sehe von links einen Burschen kommen. Er schwingt einen Stock und droht mir mit der Faust.
Ich drehe mich um. Ein ehrwürdiger, grauhaariger Wächter rennt auf dem Weg und brüllt aus Leibesiiäften:
Packt ihn, Brüder! Packt ihn! Leschka, laß ihn nicht aus den Augen!"
Leschka zielt nach mir. Sein Stock saust auf ein Rad meines Fahrrades.
Ich beginne zu begreifen, daß die Sache mich angeht, springe ab und bleibe in Erwartung stehen.
Der Wächter stürzt heran. Er feucht. Ringt nach Luft. " Packt ihn! Packt ihn!" schrie er.
Diensteifrig werfen sich etwa zehn Leute auf mich, packen mich, quetschen mir die Hände und suchen sie mir auf den Rücken zu drehen.
Ich sage:
" Brüder, warum reißt ihr mich in Stücke? Ihr seid wohl nicht ganz bei Trost alle zusammen, ihr und dieser Narr da." Der Alte sagt:
" Du wirst gleich eine in die Fresse kriegen, wenn du die Vollziehung einer Amtshandlung herabwürdigen wirst. Haltet ihn fester! Laßt ihn nicht aus, den Hund!"
Sontamara
23
Das Viereck öffnete sich noch einmal für einen dritten. Haufen heimkehrender Cafoni. Es waren: Pontius Pilatus , Jacobo Losurdo, Michele Zompa, Giovanni Testone, Giovanni Oliva, Gasparone und einige Burschen. Diese sahen uns an, als wären wir schuld an alledem, aber in Gegenwart so vieler Bewaffneter wagten sie feinen Protest. Dann kamen und gesellten sich zu uns: Achille Piunzo, Alberto Saccone, Palummo, der Mann der Recchiuta, Gesidio Verdone und andere junge Leute, unter ihnen der Bräutigam der Maria Grazia.
Keiner begriff irgend etwas. Niemand sprach. Jeder sah den andern an. Jeder verstand, daß wir aus einem uns noch unbekannten Grund mit der Obrigkeit zu tun bekommen hatten und keiner wollte sich mehr als die andern bloßstellen. Jeder dachte zunächst an sich.
Bei Ankunft von Antonio Spaventa, Raffaele Scarpone, Luigi della Croce, Antonio Zappa und anderen öffnete sich das bewaffnete Viereck von neuem.
Es war schwer vorauszusehen, was der Dide im Sinn hatte. Wollte er uns alle ins Gefängnis führen?... Das schien unwahrscheinlich und praktisch unmöglich. Denn so lange es sich nur darum handelte, ein wenig auf dem Kirchplatz unseres eigenen Dorfes festgehalten zu werden, fonnte sich das jeder gefallen lassen. Aber um uns alle in die Hauptstadt zu schleppen und dort ins Gefängnis zu werfen, dazu hätten die anwesenden Milizen nicht genügt. Diese Leute in den schwarzen Hemden kannten wir. Die mußten in der Nacht kommen, um sich Mut zu machen. Die meisten von ihnen rochen nach Wein und wenn man ihnen aus der Nähe in die Augen schaute, konnten sie dem Blick nicht standhalten. Arme Leute auch sie, aber von besonderer Art: ohne Land, ohne Beruf oder mit vielen Berufen, was das gleiche ist; Feinde schwerer Arbeit, lösten sie von Woche zu Woche mit immer neuen Mitteln das Problem von Essen und Trinken.
Eine Menschenmenge sammelt sich an. Jemand fragt: " Was hat er denn getan?" Der Alte sagte:
" Dreiundfünfzig Jahre bin ich alt und dieser Hund jagt mich zuschanden. Er ist nicht auf der Fahrstraße gefahren. Auf diesem Weg hier darf mit Fahrrädern nicht gefahren werden. Es hängt außerdem eine Tafel da. Er aber fährt einfach drauflos. Ich pfeife ihm nach. Er tritt aus voller Kraft. Zum Glück trifft mein Gehilfe ihn mit dem Stock." Leschka zwängt sich durch die Menge, umklammert mit eiserner Faust meine Hand und sagt:
" Ich habe nach seiner Hand gezielt. Ich wollte, ich hätte ihm die Hand zerschmettert, damit er nicht mehr fahren kann. Der Teufel hol ihn!"
„ Brüder," sage ich, ich wußte nicht, daß man hier nicht fahren darf. Ich wollte ja gar nicht ausreißen."
Noch immer außer Atem, höhnt mich der Alte: „ Er wollte gar nicht ausreißen! Hat man so eine Frechheit schon gehört! Führ ihn zur Polizei. Halt ihn fester." Irgendwer sagt:
" Nicht die Hände zerbrechen. Zerbrecht ihm nicht die Hände."
Ich sage:
„ Brüder, ich werde die Strafe zahlen. Ich weigere mich nicht. Aber renkt mir nicht die Hände aus." Jemand sagt:
„ Laß dir seine Dokumente zeigen und nimm sein Strafgeld. Wozu ihn auf die Polizei schleppen?"
Der Alte und ein nicht sehr großes Häuschen Freiwilliger machen Miene, mich auf die Polizei zu schleppen, aber unter dem Druck der übrigen Menge nimmt der Alte schließlich doch, wüst schimpfend, von mir das Strafgeld und läßt mich mit offensichtlichem Bedauern laufen.
Schwankend gehe ich zu meinem Fahrrad. Es saust mir in den Ohren und vor den Augen tanzen mir feurige kleine Punkte. Ich bin wie benebelt.
Unterwegs reibe ich mir die Hände und sage mit Nachdruck:„ Pfui!"
Als ich die Straße erreicht habe, setze ich mich wieder auf
mein Rad und denke mir:
Also gut. Was ist schon dabei? Aussehen tut er wie ein Baron und dann zerbrecht ihm nicht die Hände. Gemütlich fahre ich auf der Straße dahin. Vergesse den rohen Auftritt. Male mir ein entzückendes Bild aus einer nicht mehr fernen Zukunft:
Ich fahre so stelle ich mir vor auf dem Rad. Die Räder gleichen einander wie zwei Wassertropfen.
Ich biege in jene unglückselige Allee ab. Irgendwo höre ich jemand lachen. Ich sehe den Alten kommen mit einem weichen Schlapphut. In den Händen hält er Blumen, Vergißmeinnicht oder irgendeine Herbstpflanze. Die Blümchen in seinen Händen drehend, sagte er lächelnd:.
,, Nun, wohin fährst du, Freundchen? Warum hast du dich törichterweise hierher verirrt? Was für ein Aeffchen du doch bist, mein Herzchen! Aber nun wende dich zurück, sonst bestrafe ich dich und schenke dir feine Blumen."
Dabei reicht er mir, mild lächelnd, ein Vergißmeinnicht. Und nachdem wir einander umarmt haben, trennen wir uns. Dieses anmutige Bild erquickt mein Gemüt. Ich fahre munter auf meinem Rad. Trete kräftig. Und sage mir: Was tut es! Man muß den Mut nicht verlieren. Ich bin noch jung. Ich kann warten.( Aus dem Russischen übersetzt.)
Zu schwach und zu feige, sich gegen die Reichen und den Staat aufzulehnen, zogen sie es vor, gegen das verbriefte Recht, die andern Armen, die Cafoni, Pächter und Kleingrundbesitzer zu berauben und zu unterdrücken, jenen zu dienen. Traf man sie am Tage und allein, so waren sie demütig und ehrerbietig, bei Nacht und in Gruppen aber waren sie böse und gefährlich. Immer waren sie auf seiten des Stärkeren und werden immer da bleiben. Aber ihre Rekrutierung zu einem SpezialHeer, mit eigener Uniform und Bewaffnung war eine Neuerung der letzten Jahre.
Ihr wißt, wie sie heute heißen.
Jeder von uns wog zwar körperlich drei von ihnen auf; aber von ihnen umzingelt, was waren wir da? Was gab es Gemeinsames zwischen uns Cafoni? Welches Band hielt uns zusammen?
Wir standen alle auf dem gleichen Kirchplatz und waren alle in Fontamara geboren. Das war die einzige Bindung zwischen uns und es gab keine andere. Hievon abgesehen, dachte jeder an sich, jeder daran, wie er aus dem bewaffneten Viereck entkommen und die andern darinnen lassen könnte. Jeder von uns war Familienvater und jeder dachte an seine Familie. Nur Berardo dachte vielleicht anders. Aber er besaß weder Frau noch Land...
Inzwischen waren wieder neue Gafoni aus dem Fucino heimgekommen, unter ihnen der Mann der Giammaruga, und auch sie kamen in unser Viereck.
Es war spät geworden.
Der Dickbauch sagte: „ Das Verhör fängt an." Das Verhör? Welches Verhör?
Sie machten im Viereck eine meterbreite Gasse, auf deren beiden Seiten sich der Dicke und Philippo der Schöne aufstellten.
Das Verhör begann.
Der erste, der aufgerufen wurd, war Teafilo, der Safristan.
„ Wer soll leben?," fragte ihn der Mann mit der dreifarbigen Schärpe.
Teofilo schien aus den Wolfen zu fallen.
Ardfie Moafi unserer Zeit
Glücklich sind die Einwohner von Floating Vil lage( Kanada ) zu preisen. Ihr Dorf besteht aus elf Häusern, dazu noch eine Kirche, eine Schule und ein Kaufmannsladen, in dem alles zu haben ist, was die Gemeindemitglieder für ihren Haushalt benötigen. All das ist fein säuberlich auf einem riesengroßen Floß aufmontiert, das aus den schönsten Stämmen aus den Urwäldern der Rocky Mountains zusammengebaut ist. Die Bewohner dieses schwimmenden Dorfes sind aber keineswegs Weltflüchtige, die fernab vom Getriebe der Zivilisation ein Einsiedlerleben zu führen sich entschlossen haben, sondern wohlbestallte Beamte des Kanadischen Küstenüberwachungs= dienstes samt ihren Familien, unter ihnen einunddreißig Kinder. Ihr Dienst erfordert es, daß sie an der kanadischen Küste, bald hinauf, bald hinunter entlang schwimmen, um dort Tiefenmessungen vorzunehmen und wertvolle Beiträge für die kartographischen Aufnahmen jenes Küstenstriches zu liefern. So schön und luftig und gesund das Leben auf dieser schwimmenden Insel im allgemeinen auch sein mag, hat es natürlich auch seine Schattenseiten. Besonders ungemütlich, sogar gefährlich wird das Leben auf dem Floß, wenn schlechtes Wetter herrscht und Stürme an der Küste wüten. Dann ist es oberstes Gesetz dieser kleinen Gemeinde, daß jeder, ob groß und klein, seinen Rettungsring bei der Hand hat, und so sitzen auch die Kinder an solchen Tagen mit umgegürtetem Rettungsring in ihren Schulbänken, jederzeit darauf gefaßt, schon im nächsten Augenblick ins Wasser springen und mit den Wellen um ihr Leben kämpfen zu müssen.
Kaltes Glas"
Eine französische Zeitung weiß von einem neuartigen Glas zu berichten, welches das Sonnenlicht fast ungeschwächt hindurchläßt, die Sonnenwärme jedoch aufhält. Dieses Glas läßt 65 Prozent von allem Licht hindurch. Von der Wärme, die durch ein normales Glas gleichzeitig hindurchgeht, werden 85 Prozent verschluckt. Die mit dem neuen Material versehenen Räume erleiden zwar eine geringe Lichteinbuße, bleiben dafür aber selbst bei stärkster Sonne angenehm fühl und erfrischend.
Lachen nicht verfernen
Göz von Berlichingen
Ein tschechischer Anwalt, der einen bäuerlichen Klienten wegen seiner Zahlung gemahnt hatte, erhielt von diesem auf offener Karte folgende Antwort:
„ Sehr geehrter Herr Doktor! Göz von Berlichingen, dritter Aft, Szene auf Jagthausen, Göz... Ihr ergebener N. N."
Vorm Gericht- sah man sich wieder.
Der Bauer hatte seinen Goethe dabei, schlug die fragliche Stelle auf und las vor:
„ Wir werden uns verteidigen, so gut wir können." Das Gericht lächelte, der Amtsanwalt lachte, das Publikum brüllte. Aber der klägerische Advokat führte aus, daß allein die Zitierung des„ Göz von Berlichingen", insbesondere auf offener Karte, derart eindeutig beleidigende Wirkung habe, daß eine Verurteilung auf jeden Fall am Plaze sei. Und das Gericht schloß sich, wenngleich lächelnd, den Ausführungen des Klägers an und verurteilte das schlaue Bäuerlein zu einer kleinen Strafe.
Teofilo wandte sich, wie um eine Eingebung bittend, angstvoll zu uns; aber keiner wußte mehr als er.
Da Teofilo keinerlei Anstalten zu einer Antwort machte, wandte sich der Knirps an Philippo den Schönen, der ein großes Register in den Händen hielt, und befahl ihm:
„ Schreib neben seinen Namen:„ Refraktär"." Teofilo trat ab. Der Zweite, der gerufen wurde, war Anacleto, der Schneider.
„ Wer soll leben?," fragte ihn der Dicke. Anacleto, der Zeit gehabt hatte, zu überlegen: „ Es lebe Maria!"
"
Welche Maria?," fragte ihn der schöne Philippo. Anacleto besann sich ein wenig, schien zu zögern und sagte dann:
„ Die von Loreto!"
„ Schreib„ Refraktär"," befahl der Kleine dem Straßenwärter.
Anacleto trat ab. Der Dritte, der gerufen wurde, war der alte Antonio Braciola. Auch er hatte eine Antwort bereit: „ Es lebe San Rocco!"
Aber auch dies befriedigte den Kleinen nicht und er befahl:
„ Schreib„ Refraftär"."
Der vierte, der drankam, war Pasquale Cizolla. „ Wer soll leben?," wurde er angeschrien. " Verzeihung, was heißt das eigentlich?," wagte er an fragen.
,, Sag deutlich, was du denkst," befahl ihm der Dide. Wer soll leben?"
„ Es lebe das Brot und der Wein!," war die ehrliche Antwort des Cipolla.
Auch er wurde als„ Refraktär" gebucht.
Jeder von uns wartete, bis die Reihe an ihn kam und feiner konnte erraten, was der Vertreter der Obrigkeit auf seine Frage hören wollte.
Was uns aber hauptsächlich beschäftigte, war etwas ganz anderes, nämlich: ob wir für eine falsche Antwort etwas be= zahlen mußten. Niemand von uns hatte natürlich eine Ahnung, was„ Refraktär" bedeuten sollte; aber es war doch
„ Wer soll leben?" wiederholte der Vertreter der Obrigkeit höchst wahrscheinlich, daß es hieß:„ Muß zahlen". gereizt.
( Fortsetzung folgt.