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Freiheit

Nummer 105-1. Jahrgang

Einzige unabhängige Tageszeitung Deutschlands

Saarbrücken, Samstag, den 21. Oktober 1933 Chefredakteur: M. Braun

Aus dem Inhalt: Großer Tag

im Reichstagsprozeß

Seite 2

Garvin

( Observer) gegen Hitler

Seite 3

Görings unterirdischer Gang

Seite 4

Wied Oesterreich militärisch besetzt?

Seite 8

Nur durch Waffengewalt"

I Was Hitler sagt, und was er wirklich will

14. Oktober geradezu überpazifistisch um Frankreich ge= Reichskanzler Hitler hat in seiner Rundfunkrede vom worben, ohne erhört zu werden. Nun hat er dem Sonder= korrespondenten der Daily Mail" auf gestellte Fragen geantwortet und ganz im Stile früherer wilhelminischer Phraseologie den stammverwandten germanischen" Eng­ländern gesagt, wie er sie liebt, und wie sehr sie das im Innern brüderlich geeinte und nach außen die Friedens palme schwingende Hitlerdeutschland verkennen. Wir mollen dem Reichskanzler nicht unrecht tun. Darum be­schränken wir uns darauf, seinen jetzigen Friedensreden

das

gegenüberzuhalten, was er und die Seinen sonst über Krieg und Frieden zu sagen pflegen. Hitler zu ,, Daily Mail":

Die Behauptung, daß das deutsche Bolt sich mit Be geisterung auf den Krieg vorbereite, ist eine uns einfach unfaßbare Verkennung des Sinnes der deutschen Revo­lution."

Professor Banse,

von der Regierung Hitler zum Professor der Wegr= willenschaft berufen, mithin für die entscheidende Er. ziehung der deutschen Jugend auserwählt, sagt in seinem Buche Wehrwissenschaft ", erschienen 1988: 3wischen unserer währenden Not und unserem kommenden Glück fteht der& rieg. Es muß ein hoher, ein unerschütterlicher Glaube an den hohen ethischen Wert und den tiesen Sinn des Krieges geschaffen werden." Hitler zu ,, Daily Mail":

" Glauben Sie, daß wir unsere Jugend, die unsere Zu­kunft ist, und an der wir alle hängen, nur erziehen, um sie dann auf dem Schlachtfelde zusammenschießen zu lassen?" Vizekanzler von Papen

in einer 1983 gehaltenen Rede: Aus dem Pazifismns ist eine unfämpferische Lebensanschauung erwachsen... Der Geist von Langemard und der Geist der nationalen Revolution ist ein und derselbe."

Hitler zu ,, Daily Mail":

" Die deutsche Jugend wird weder in den Arbeitslagern noch in der SA. und den unterstehenden Formationen mit militärischen Kenntnissen versehen, die sie anreizen könnten, diese einst auszunüßen."

Hitler ,, Mein Kampf ":

" Erst wenn dies in Deutschland begriffen sein wird, so daß man den Lebenswillen des deutschen Volkes nicht mehr in bloß passiver Abwehr verkümmern läßt, sondern zu einer endgültigen aktiven Auseinandersehung mit Frankreich zusammenrafft, und in einem letzten Ent: Scheidungskampf mit deutscherseits größten Schlußzielen hineinwirft: erst dann wird man imstande sein, das ewige und an sich unfruchtbare Ringen zwischen uns und Frank: reich zum Abschluß zu bringen; allerdings unter der Vors aussetzung, daß Deutschland in der Vernichtung Frankreichs wirklich nur ein Mittel sieht, um danach unserem Volke endlich an anderer Stelle die mögliche Aus: dehnung geben zu können."

Hitler zu ,, Daily Mail":

Niemand von uns denkt daran, mit Polen wegen des Korridors einen Krieg zu beginnen. Wir möchten aber alle hoffen, daß die beiden Nationen die sie betreffenden Fragen dereinst leidenschaftslos besprechen und ver handeln werden... Die Frage der Zuteilung folonialer Gebiete, ganz gleich wo, wird niemals für uns die Frage eines Arieges sein." Hitler ,, Mein Kampf ":

Darüber muß man sich doch wohl flar sein, daß die

Wiedergewinnung der verlorenen Gebiete nicht durch feier: liche Anrufungen des lieben Herrgotts erfolgt oder durch fromme Hoffnungen auf einen Bölkerbund, sondern nur durch Waffengewalt. Daß man verlorene Gebiete nicht durch die Zungenfertigkeit geschliffener parla: mentarischer Mäuler zurückgewinnt, sondern nur durch ein geschliffenes Schwert zu erobern hat, also durch eigenen Kampf." Hitler zu ,, Daily Mail":

" Deutschland hat zuviele Menschen auf seiner Boden­fläche. Es liegt im Interesse der Welt, einer großen

Nation die erforderlichen Lebensmöglichkeiten nicht vor Dr. Richard Kern: zuenthalten."

Nationalsozialistisches Parteiprogramm

Wir fordern den Zusammenschluß aller Deutschen zu einem Großdeutschland, Aufrichtung eines geschlossenen Nationalstaates, der alle deutschen Stämme umfaßt, alle, die deutschen Blutes find, ob sie heute unter dänischer, polnischer, tschechischer, italienischer oder französischer Oberhoheit leben, sollen in einem deutschen Reich vereinigt sein... Wir verzichten auf teinen Deutschen im Sudetendeutschland , in Elsaß : Lothringen , in Polen , in der Völkerbundskolonie Defter: reich und in den Nachfolgeftaaten des alten Desterreich." Hitler zu ,, Daily Mail":

und zwar auf die Frage, ob Deutschland von den bestehen den internationalen Verpflichtungen( zu denen auch der Versailler Vertrag gehört) sich für befreit halte: W8a 8 wir unterzeichnet haben, werden wir nach unserer besten Fähigkeit erfüllen."

Hitler ,, Mein Kampf ":"

Was konnte man aus dem Friedensvertrag von Ver failles machen! Wie konnte dieses Instrument einer maß= losen Erpressung und schmachvollsten Erniedrigung in den Händen einer wollenden Regierung zum Mittel werden, die nationalen Leidenschaften bis zur Siedehize aufzupeitschen! Wie tonnte bei einer

genialen propagandistischen Verwertung dieser sadistischen Grausamkeiten die Gleichgültigkeit eines Volkes zur Empörung und die Empörung zur hellsten But gesteigert werden! Wie tonnte man jeden einzelnen dieser Punkte dem Gehirn und der Empfindung dieses Boltes solange einbrennen, bis endlich in 60 Millionen Köpfen, bei Männern und Weibern , die gemeinsam emp: fundene Scham und der gemeinsame Haß zu jenem einzigen feurigen Flammenmeer geworden wäre, aus dessen Glut dann stahlhart ein Wille empor: steigt und ein Schrei sich herauspreßt: Wir wollen

wieder Waffen!"

Hitler zu ,, Daily Mail":

Sie werden verstehen, daß eine Regierung und ein Volf, die vor solchen Aufgaben stehen, gar keinen anderen Wunsch haben können als den nach Ruhe und Frieden." Hitler ,, Mein Kampf ":

Das wichtigste ist zunächst die Tatsache, daß eine Ans näherung an England und Italien in feiner Weise eine Kriegsgefahr an sich heraufbeschört. Damit aber würde der Bund Deutschland die Möglichkeit haben, in aller Ruhe diejenigen Vorbereitungen zu treffen, die im Rahmen einer solchen Koalition für eine Abrechnung mit Frankreich so oder so getroffen werden müßte."

Der Reichskanzler hat in diesem Interview nicht, wie Göbbels vor einigen Tagen in einer derartigen Unter­redung, die Haß- und Kriegspartien der Programm Bibel Mein Kampf " preisgegeben und den National fozialismus außenpolitisch als entwicklungsfähig be­zeichnet. Das kann er als päpstlicher Führer der Be wegung nicht magen. Sein Buch gilt in den national sozialistischen Massen als unumstößliche Wahrheit. Dieses Buch, dieser Leitfaden zum Bürgerkrieg nach innen und zum Befreiungskrieg nach außen ist ihr Glaube. Was der Reichskanzler den Ausländern erzählt, hält jeder deutsche Nationalsozialist für Täuschungskniffe, und darin hat er

recht.

Geschicktes Manöver"

Paris , 20. Okt. Das Interview Hitlers mit einem Mit arbeiter der Daily Mail wird von der französischen Presse ausführlich wiedergegeben, aber faum anders fommentiert, als die voraufgegangenen Erklärungen des Reichskanzlers. Nur das fatholische Blatt L'Aube zieht daraus den Schluß, daß Deutschland nichts anderes als den Frieden suche, und fragt, warum also nicht eine direkte Aussprache annehmen?

Die übrigen Blätteres find in der Hauptsache rechts­stehende wollen in den neuen Erklärungen nichts anderes erblicken, als ein geschicktes Manöver, durch das entweder das ganze Problem auf das Biermächteabkommen abge­schoben oder Frankreich isoliert werden solle.

Brauner Bettelstaat

Zum erstenmal ist der Auguftausweis über die Steuer­einnahmen des Reichs auf einen weniger zuversichtlichen Ton gestimmt. Freilich wird noch immer nicht offen zuge geben, daß die Einnahmen Monat für Monat hinter den Erwartungen zurückgeblieben sind. Aber die Erklärungen, die für diese Rückgänge gegeben werden, sind so offen­kundig falsch, kindisch oder an den Haaren herbeigezogen, daß selbst dem Leichtgläubigsten die Wahrheit kaum ver­borgen bleiben kann.

Charakteristisch ist und für die Wirtschaftslage besonders bezeichnend, daß die Zölle und Verbrauchssteuern in ihrem Ergebnis noch stärker zurückgeblieben sind als die Besitz­und Verkehrssteuern. Sie lieferten im Auguſt nur 533,2 Millionen gegen 538,6 im Vorjahr. In den ersten fünf Monaten des Etatsjahrs brachten gegenüber dem gleichen Zeitraum im Vorjahr weniger: 3ölle 67,1, Tabak 13, Bier­Steuer 15,7 Millionen Mark. Die Salzsteuer brachte erst 19 Millionen gegenüber einem Jahres- Soll von 65 Milli

onen.

der anhaltenden Schrumpfung des deutschen Außen­Der Rückgang bei den Zöllen ist einerseits eine Folge handels, andererseits der Beweis, daß die deutschen 3ölle schon so unsinnig hoch geworden sind, infolgedessen keine Erträge mehr liefern. Die Uebersteige daß sie die Einfuhr zum Teil vollständig verhindern und rung des Protektionismus führt so zu einer direkten Ge fährdung des Gleichgewichts im Etat. Den Rückgang bei der Tabak steuer erklärt das Finanzministerium wohl zutreffend aus dem Uebergang des Verbrauchs zu billige­ren Sorten, was ja nur der Ausdruck der Verschlechterung der allgemeinen Lebenshaltung ist. Kindisch ist es dagegen, den Rückgang bei der Biersteuer auf Verbrauchs­wandlungen zurückzuführen, da diese doch nicht gerade in den letzten fünf Monaten eingetreten sind oder sich ver­schärft haben. Vielmehr geht aus einem Bericht der rheinisch- westfälischen Brauindustrie, der auch schon das dritte Quartal dieses Jahres umfaßt, sehr deut lich hervor, daß der Bierabsatz noch eine weitere Vermin­derung gegenüber dem schon sehr schlechten Vorjahr er­fahren hat. Am merkwürdigsten ist das 3urück. bleiben der Salzsteuer, da ja am Salz nur bei äußerster Armut gespart wird.

Bei den Besiz- und Verkehrssteuern ergaben sich im August 315,6 gegen 321,9 millionen, in den ersten fünf Monaten 1608,4 gegen 1660,4 Millionen. Die Lohn­steuer, die bereits in der Zeit vom 1. April bis 31. Juli um 18,8 Millionen Mark gegenüber dem Vorjahr zurückge blieben war, ist auch im August weiter gesunken, ohne daß charakteristischer Weise die genaue Zahl angegeben wird.

Aus dem Ausweis erfährt man auch ein interessantes Detail. Die neu eingeführte Ehestandshilfe wird nicht, wie bei ihrer Einführung angegeben wurde, etwa ganz für Ehestandsdarlehen verwendet, sondern ein Teil, bisher im ganzen 9 Millionen, wird dem Haushalt zuge­führt. Zusammenfassend ergibt sich, daß in den ersten fünf Monaten die Einnahmen um rund 165 milli­onen hinter den Einnahmen des Vorjahres zurückgeblieben sind. In diesem Etat hat aber der Finanzminister die Einnahmen noch um 233 Millionen höher angesezt als die vorjährigen. So bestätigt sich immer wieder, daß der laufende Etat, weit davon entfernt im Gleichgewicht zu sein, mit einem um so größeren Defizitenden muß, als ja durch neue Steuerermäßi gungen, durch die erzwungene Uebernahme eines Teiles der Wohlfahrtslasten der Gemeinden und die unkon trollierten Ausgaben die Belastung immer größer wird.. Deshalb wird auch die Finanzwirtschaft immer anar. chischer. Dringende Aufgaben, die aus Etatmitteln zu erfüllen des Staates Pflicht wäre, werden in immer größe rem Umfange durch die sogenannten Spenden und Opfer notdürftig und unvollständig erfüllt. Diese Spenden sind in Wirklichkeit genau so 3 wangsweise Abgaben, mie echte Steuern. Aber die Diktatur scheut sich zuzuge­stehen, daß sie neue Steuern erheben muß und deswegen diese Spenden, die sich dadurch auch zu ihrem Nachteil von Steuern unterscheiden, daß sie der Forderung sozialer Ge­rechtigkeit in keiner Weise genügen, in der Hauptsache