Freiheil

Nummer 127-1. Jahrgang

Einzige unabhängige Tageszeitung Deutschlands

Saarbrücken, Freitag, 17. November 1933

Chefredakteur: M. Braun

Jllegale Schwarzweißrote

Stahlhelm- Flugschriften gegen Hitler und Seldte

In Deutschland ist eine illegale Stahlhelm: Titeratur entstanden. Die hektografierten Briefe und Auffäge wandern von Hand zu Hand. Die illegale Lite: ratur der Schwarzweißroten gibt der Empörung der unterdrüdten Ronservativen Ausdrud, gleichzeitig beginnt fie ein Werkzeug zur Schaffung einer illegalen Organisa­tion zu werden. Unzufriedenheit und Auflehnung gegen das dritte Reich" verbreiten sich allmählich bis tief nach der Rechten. Wir bringen heute einen Brief an die Stahls helmkameraden", der den Verlauf der Stahlhelmtagung in Hannover schildert. Andere Veröffentlichungen dieser Art werden folgen.

die besten Stahlhelmer durchgemacht haben und was in ihrem Innern in dieser Stunde vorging, ihn würde es gewiß ihrem Innern in dieser Stunde vorging, ihn würde es gewiß in feiner Weise irritiert haben, er würde sich über alles hin­weggesetzt haben. Was ist denn der Stahlhelm seit der Stunde der Machtergreifung anders, als das Postament für den Ministersessel? Seldtes Rede anzuhören, war für jeden den Ministersessel? Seldtes Rede anzuhören, war für jeden echten Stahlhelmer eine peinliche Qual. Das hat man der Zuhörerschaft ringsum angemerkt und von allen bestätigt bekommen, die man hinterher sprach. Ueberall ver bissene Wut, geballte Fäuste, Kopfschütteln, mühsam unterdrüdte Tränen. Jeder empfand, eine Unterwerfung, wie sie hier bewußt vorgeführt wurde, fann unvermeidlich geworden, durch die Machtverhältnisse er­unterwerfen, aber es kann doch mit Würde geschehen. Dieser Verräter am Stahlhelm ist hingegen nicht einmal hierzu fähig. In speichelleckerischer Unterwürfigkeit über­hierzu fähig. In speichelleckerischer Unterwürfigfeit über gibt er eine Festung, die zum Wohl von Volk und Vaterland

Stahlhelmtagung in Hannover 23. 24. Oktober awungen sein. 1918 mußte ja auch ganz Deutschland sich

Sehr geehrter Herr Kamerad!

Die an drei verschiedenen Stellen getrennt gehaltenen Veranstaltungen in Hannover waren: 1. der Stahlhelm führer bis hinab zum Kreisführer im Kuppelsaal 2. der übrige Kernstahlhelm im Hindenburg- Stadion, 3. schon völlig abgetrennt der Wehrstahlhelm an anderer Stelle. Die Am putation des Wehrstahlhelms sollte augenfällig durch das Nebeneinander der einzelnen Teile möglichst unbeachtet bleiben. Aufmerksame Stahlhelmpresseleute stellten aber überall schwerste Bedrückung der Stahlhelm­fameraden fest, die sich in den ununterbrochenen spon= tanen Ovationen großer Haufen vor dem Hotel des Kronprinzen symptomatisch Luft machten. Die außerordentliche Regie- Kunst der Veranstalter beein­bruckte wiederum die Stahlhelmkameraden günstig im Sinne der Regisseure. Seitdem nun einige Tage seit Hannover verflossen sind, wirkt sich der Widerstreit zwischen Aner­fennung und Unwillen in Stepsis und Niederge­ichlagenheit aus.

Regie für Hitlers Auftreten

Die Veranstaltung selbst war ein äußerst geschickt in Szene gesetztes Schauspiel, etwa mit dem Titel: die Aus­lieferung des Stahlhelms an Hitler . Es war auf einen gewollten Effekt abgestimmte Vorführung, ein Schauspiel mit allen Finessen der neueren politischen Regie funst, wie sie sich für Massenveranstaltungen bewährt und eingebürgert hat. Die Anwendung dieses auf Massen psychologie eingestellten Rezeptes auf eine Stahlhelmver­jammlung, noch dazu auf eine solche der Führerauslese, tit das erste, was bedenklich und bedauerlich erscheint. Der hier gewollte Effekt aber war, die Führerschaft des Stahl helms für Hitler einzufangen.

3u diesem Zwed wurde folgendes recht wirkungsvolle Theater vorgeführt: unter Fanfarenruf betraten langsamen, gemessenen Schrittes die Hauptatteure Hitler und Seldte mit den beiden Hauptnebenspielern Röhm und Blom berg und den nächsten persönlichen Begleitern Heß und Stefani und mit einem großen und glanzvollen Gefolge ( prächtig Uniformierte der S., der SA., des Stahlhelms, hohe und höchste Personen wie der Vizekanzler von Papen und mancher andere) über eine aufs Podium führende Treppe die Bühne. Feierliche Begrüßung- Berneigung- Führer­gruß nach allen Seiten. In Mitten all dieses Glanzes der in großen Uniformen Erschienenen bleibt Hitler einfach und schlicht. Die Kontrastwirkung ist ja ein erprobtes und be­währtes Mittel. So fizzt da ein nach seinem Aeußeren etwas unscheinbarer Mann in auffallend einfacher, fast dürftiger Bekleidung in einfachem braunen Hemd, in brauner Hose, ohne Kopfbedeckung, fast rührend, in Mitten eines glanz vollen Parketts, prächtig braun- schwarz, in Mitten grau­uniformierter und betreßter oder elegant weltmännisch an­gezogener Männer. Das gibt die gewünschte, raffiniert aus­geflügelte Wirkung.

Seldtes Kapitulation vor Hitler

Ueber Seldtes Ansprache ist nicht viel zu sagen. Er über­schlug sich unterwürfig in Ergebenheit und Dankes­erflärungen gegenüber seinem Führer und Volkstanzler" in einer Art, die jeden Menschen abstoßen mußte. Welch tiefe Kränkung diese Rede für die Zuhörer und Zuschauer aus den Stahlhelmführern( die ja überwiegend die Entwidlung des Stahlhelms seit dem Januar 1933 als eine faum faßbare Tragödie erlebt und dieser Stunde mit Bangen und fast mit Berzweiflung entgegengesehen batten), bedeutete, dafür follte Herrn Seldte jedes Verständnis fehlen. Er bat ja längst jede innere Fühlung mit der Stahlhelmgefolgschaft verloren. Aber auch, wenn er ahnte, was in diesen. Monaten

hätte gehalten werden können.

Hitlers Rede

Seldte sprach mit gefünsteltem Pathos, Hitler mit gefün­stelter Ruhe. Inhaltlich enthielt die Rede nichts, was Hitler nicht schon tausendmal gesagt hätte. Sie enthielt zahlreiche Widersprüche und war voll logischer Entgleisungen. Aber Hitler weiß ja, daß ihm nicht die Aufgabe zufällt, denkende Menschen zu überzeugen, son­dern nur die Aufgabe, eine in ihrer Zusammenseßung immerfort wechselnde Maffe zu gewinnen und zu erhalten. Hierfür bedarf er feiner Gedanken, feines Sinnes, feines logischen Zusammenhanges, hierzu genügen Worte, Gesten, Stimmwirkungen, Behauptungen und ihre dauernde Wieder holung, also all die Mittel, die Hitler meisterhaft beherrscht. Daß er gleichzeitig, eingerahmt in das narkotisierende Bob, die Notwendigkeit des Zwanges gegenüber jeder freiheit lichen Regung, der Unterdrückung aller Geistes- und Mei­nungsfreiheit nicht etwa zu beweisen und zu begründen suchte, sondern apodiftisch behauptet, war für diese Zuhörer gänzlich unerheblich und wurde als eine sie als Soldaten gar nicht angehende Angelegenheit hingenommen. Aber dieses Genie der Masseneinwirkung wird von anderen raffiniert benutzt, um Macht um ihrer selbst willen zu begründen und die geschichtlich gewordene Kultur Deutsch­ lands zu zertrümmern, um eine neue un= deutsche Welt aus den Trümmern aufzu bauen. Das ist aber der entscheidende Sinn der Stunde von Hannover , wo die vereinigte Führerschaft des Stahl­helms durch die Hitlerrede gewonnen und damit auch dem Machtinstrument des Nationalsozialismus ' gewonnen wurde. Ob hiernach der Stahlhelm noch ein Faktor ist, für den in dem Bestreben nach einer politischen Neuordnung, etwa im Sinne der Monarchie werden kann, ist eine offene Frage. Gladiatoren und Soldaten

onl

Mancher verließ den Saal mit dem Gedanken, daß er als ehrlicher Mensch nun austreten müßte. Von manchem hörte man, daß er dem Stahlhelm nicht mehr angehören könnte, ohne ein Lügner zu werden. Aber solange noch der Schimmer einer Möglichkeit besteht, daß der gesunde Deutsche einen Ausweg aus der unerträglichen Situation der Gegenwart findet, würde man diese Lüge auf sich nehmen müssen, solange bis überhaupt kein Ausweg mehr, da ist.

Denn daß der Stahlhelm etwas von Grund auf anderes ist als die Anhängerschaft des Nationalsozialismus, das hat jeder beim späteren Aufmarsch gesehen und empfunden. Vor dem Stahlhelm marschierte eine" Standarte" der SA . Jeder einzelne mit erhobenem Arm, dann kam der Stahlhelm im soldatischen Ererziermarsch. Nur unsere Bataillonsführer und aufwärts waren gezwungen, mit sogenanntem deutschen Gruß statt soldatisch zu grüßen. Jeder sah den Unterschied zwischen SA. und Stahlhelm. Die Standarte" wirfte wie eine Schar Gladiatoren, die zum Plaß ihrer Schaufämpfe rüden, und der Stahlhelm Stahlhelm dagegen wie das schweigende verbissene Heer, das aum Rampfe für das Vaterland jederzeit bereit ist. Diese sind Sol daten, freiwillige Soldaten, die anderen eine Partei­truppe für innerpolitische Propagandazwede. Hier wurde truppe für innerpolitische Propagandazwede. Hier wurde finnfällig flar, wie völlig unwahr die vom Nationalsozialis mus beanspruchte Identität von Partei und Staat, wie ungerechtfertigt mithin der Totalitätsanspruch der National. sozialisten sind.

Aus dem Inhalt

Hintergründe

von Hendersons Ultimatum Seite 2

Stimmen oder schaufeln

Seite 4

Gold der Bank von Frankreich

Seite 5

Hitlerjude

Hauptmann Löwenstein

Seite 7

Englands Weg

ano London, 15. November. Dr. G. Nach der lang ausgedehnten Sommerpause, die freilich auch nicht gerade ereignislos war, beginnt die eng lische Politik sich wieder neu zu beleben. Der Zusammen tritt des Unterhauses ist das Symbol dafür. Das Unter haus begann mit einer großen außenpolitischen Debatte, in den verschiedenen Wahlkämpfen der letzten Zeit stand ebenfalls die Außenpolitik stark im Vordergrund- und doch wird sich der, der die Dinge scharf beobachtet, schwer dem Eindruck entziehen können, daß hinter all diesen außenpolitischen Debatten der Kampf um die Innen. politik steht.

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Die britische Labour Party ist in vollster Offensive. Nicht um Beteiligung an der Macht, sondern um die ganze Macht; nicht für einzelne soziale Reformen, sondern für den Sozialismus. Wer hätte das vor zwei Jahren gedacht? Damals gab es zahlreiche politische Propheten, die für die Zukunft der Labour Party keinen Heller geben wollten. Die bekanntesten Führer waren desertiert, die Partei im Wahlkampf vernichtend geschlagen. Fast alle der verbliebenen Führer hatten ihre Mandate auch in den scheinbar sichersten Wahlkreisen verloren. Von über 280 Mandaten im Unterhaus verblieben ihr nur knappe 50. Bei den wenige Wochen später erfolgenden Kommunals wahlen jedes Jahr wird ein Drittel der Kommunal mandate erneuert büßte die Labour Party über 400 Mandate ein. Allerdings darf man nicht vergessen, daß das englische Wahlsystem den Umfang der Niederlage noch größer erscheinen ließ, als sie tatsächlich war. Trotzdem glaubten viele, die Labour Party könne sich, wenn über. haupt, nur nach vielen Jahren erholen. Nun, diese Propheten sind durch die Ereignisse Lügen gestraft worden. Schon 1932 hatte die Labour Party ihre Front wieder ges sammelt. In den Nachwahlen wurden drei der verlorenen Mandate zurückerobert. Die Kommunalwahlen brachten einen leichten Gewinn von etwa 40 Mandaten. Und heute ist die Partei in voller Offensive. Der Parteitag von Hastings gab das Signal. Dort stritt man nicht über die Vergangenheit, dort unterhielt man sich auch nicht darüber, ob und wie man die Macht erobern würde, dort debattierte man nur über die Politik, die man nach der Machteroberung führen wolle. Daß die Macht erobert wird, gilt als feststehend, und die Meinungen gehen nur noch darüber auseinander, ob es bereits bei der nächsten Wahl oder erst bei der übernächsten erfolgen wird.

Seit einiger Zeit beschäftigen sich auch die Regierungs. parteien wieder mit der Labour Party , die sie einst vera nachlässigen zu können glaubten. Jetzt nehmen sie jede Aeußerung aus Labour- Kreisen bitter ernst, sie diskus tieren darüber, sie polemisieren dagegen, sie beschwören die Labour Party als die kommende Regierungs­partei, doch Vernunft anzunehmen.

Die Nachwahl in East Fulham hat der Labour - Offen sive neue Impulse verliehen und den Konservativen Schrecken eingejagt. Hier wurde ein alter konservativer Wahlkreis zum ersten Male von der Labour Party er obert. Der Labour- Kandidat konnte seine Stimmenzahl verdoppeln, während der Konservative über 10 000 Stimmen verlor. Die Erneuerungswahlen für das fällige Drittel der Kommunalparlamente brachten einen neuen gewaltigen Sieg der Labour Party . Während im Vers gleichsjahr in England und Wales( also 1930) etwa 70 Mandate verloren wurden, wurden diesmal 240 Man= date gewonnen in Schottland wurden 50 Mandate gewonnen und 25 Gemeinden haben eine absolute Labour- Mehrheit( wenn es nicht noch mehr sind, so liegt das daran, daß die Verluste von 1931 erst im nächsten Jahr wettgemacht werden können). So ist die Labour Party im stürmischen Angriff auf die Hauptstellung der Reaktion. Gewiß, noch reifen nicht alle Blütenträume. Jn zwei weiteren Unterhausnachwahlen, in Kilmar nock( Schottland ) und in Skipton ( Mittelengland ) hielt die Regierung den Wahlkreis, freilich in beiden Fällen mit einer um etwa 10 000 Stimmen verringerten von dem Stimmenzahl. Kilmarnock wurde sogar Regierungskandidaten einem von den Konservativen unterstützten Anhänger der kleinen Macdonald- Gruppe- nur dadurch gehalten, daß die Arbeiterfront gespalten war. Neben dem offiziellen Labour- Kandidaten stand noch ein Kandidat der in Schottland ziemlich starken radika leren Unabhängigen Arbeiterpartei( 32P.) zur Wahl. Beide Arbeiterkandidaten zusammen hatten mehr Stim men als der Regierungskandidat, die Spaltung führte zur Niederlage.

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Die Außenpolitik spielte bei all diesen Wahl. kämpfen eine große Rolle. Die Labour Party kämpft als die Friedenspartel, gegen Kriegsgeschrei und Rüstungs wahn. Der Friedenswille im Bolk ist so stark, daß die Regierung fich gezwungen sah, auch ihren Friedens- und