Fretkell
Panfare
Nummer 322. Jahrgang
Einzige unabhängige Tageszeitung Deutschlands
Saarbrücken, Donnerstag, 8. Februar 1934 Chefredakteur: M. Braun
26 spi
Aus dem Inhalt
Nacht des Bürgerkriegs
Seite 2
Herren und Sklaven
Seite 3
Defizit und
Arbeitsbeschaffung
Seite 4
Ehrenrechte statt Brot Seite 5
Saackampf und Kulturkampf
Seite 7
Der verunglückte Sturm gegen aie französische Kammer Kugeln gegen die randalierenden Faschisten-Tote und viele Verletzte
H. W. Dreimal hat Daladier am Dienstag bei seinem Auftreten vor der Kammer eine Mehrheit gefunden. Einmal mit 300 gegen 217 Stimmen, das andre Mal mit 302 gegen 204 Stimmen und das dritte Mal mit 360 gegen 220 Stim men wurden Vertagungsanträge, mit denen die Vertrauensfrage für die Regierung verbunden war, angenommen. Der frühere Ministerpräsident Tardieu, Führer der Rechten, sprach von faschistischen Methoden, weil man die Kammer nicht reden lassen molle. Er, der Antidemokrat, trat mit flammenden Worten für die Kammer des allgemeinen Wahlrechts ein. Es ist dasselbe Spiel mit denselben Worten, das wir aus Deutschland hinreichend kennen. Daß die Kommunisten die faschistischen Vorstöße der Rechten mit dem Ruf nach Sowjet- Frankreich und dem Gesang der Internationale begleiteten, rundet das Bild.
Daladiers Programm läßt sich wie folgt zusammenfassen: Autorität und Sparsamkeit des Staates, Säuberung der Beamtenschaft, Untersuchungsausschuß zur Ermittlung der
vollen Wahrheit in der Stavisty- Affäre, Schuß des Spar
tapitals, Ausgleich und Verabschiedung des Haushalts noch vor dem 31. März, Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und Be Iebung der Wirtschaft, nationale Verteidigung und Treue dem Völkerbund und den Verbündeten, Wink über den Rhein : Der Friede ist ein Jdeal. Es genügt nicht, dieses Ideal nur zu wünschen, sondern man muß es in ehrlicher Arbeit verwirklichen."
Bevor der Ministerpräsident an die Tätigkeit für die Verwirklichung dieser Programmforderungen herangehen fann, ist ihm aber noch eine Aufgabe, die dringlichste von allen, gestellt: er muß die Bewegung niederschlagen, die gewaltjame Aftionen gegen das parlametarische Regime unternimmt. Daladier hat sich zur Aufrechterhaltung der demokratischen Methoden bekannt und sich dahin ausgesprochen, daß Frankreich eines der wenigen freiheitlich regierten Länder bleiben will, die es in der Welt noch gibt.
Diesen Worten hat die Regierung durch die Staatswaffe blutigen Nachdruck verliehen. Seit Jahrzehnten, vielleicht seit den Kommunefämpfen im Frühling 1871 hat Paris einen folchen Tag nicht mehr erlebt. Es waren nicht nur Demonstranten, die gegen die Kammer vorrückten. Es waren Kämpfer, die der Polizei eine Straßenschlacht lieferten. Unter den zehntausenden Demonstranten müssen viele Bewaffnete gewesen sein, denn nicht nur die Zahl der verwundeten Zivilisten, sondern auch die der verletzten Polizeibeamten, von denen viele in Krankenhäuser eingeliefert werden mußten, ist groß. Eine Erklärung des Ministerpräsidenten spricht von einem„ Gewaltstreich gegen das republikanische Regime" und beschuldigt die Kundgeber, mit Revolvern und Messern über die Polizei und die republikanische Garde hergefallen zu sein.
Die französische Regierung hat nicht nur zum Gegenschlag gegen verheizte und aus mancherlei Geldquellen bewaffnete Banden ausgeholt, sie ist auch gewillt, die treibenden Hintermänner zu fassen. Sie beschloß ein Strafverfahren gegen Unbekannt wegen Aufhebung zum Morde und zum Komplott gegen die Sicherheit des Staates einzuleiten. Nach einer nächtlichen Konferenz zwischen dem Justiz- und Innenminister und dem Generalstaatsanwalt wurde bekannt gegeben, daß der Direktor der royalistischen„ Action francaise", Maurras , wegen Aufhetzung zum Morde angeklagt
werden soll. Das sind Zeichen starker Energie, die Wunder wirken fann, wenn sie durchhält und durchhalten kann sie nur, wenn fie von einer Regierung dauernder und wachsender Autorität getragen wird, aljo zugleich von einer gefchloffenen Mehrheit der republikanischen und sozialistischen Zinken. Die Hauptgefahr liegt nicht in den Straßenrevolten, sondern bei einer entschlußlosen Regierung und bei einer Kammermehrheit, die desertiert, wenn Forderungen an sie gestellt werden, die feder für unvermeidlich hält, aber zu denen zu stehen vielen der Mut fehlt. Wir fühlen uns sehr wenig berufen, den französischen Sozialisten Ratschläge zu erteilen, aber der Wunsch ist wohl berechtigt. man möge in Paris recht eifrig und vorurteilsfrei die Geschichte der deutschen Parteien auf der Linken und in der Mitte des Deutschen Reichstags studieren. " Deutschland tit nicht Italien ," hieß bei uns das Troftmort. Die franzöfliche Demokratie hat gewiß viele Gründe, fich nicht mit der weiland deutschen Republik ohne Republifaner und ohne demokratische Tradition vergleichen zu lassen, aber die Entwicklung der letzten Jahre lehrt, daß die faschistische Diftatur in jedem Lande nach anderen Methoden
zu modifizierten Verfassungszielen strebt. Ihrem Siege jedoch geht stets das Schwinden des Vertrauens der Volksmassen zur demokratischen Führerwahl voraus, und in der dema gogischen Ausnutzung politischer Korruption, parteiiichen Doftrinarismus und eines den Volksinstinkten sich entfremdenden Parlamentarismus sind die faschistischen Gruppen
in allen Ländern Meister.
Von den Männern der Linken im Palais Bourbon müssen die Entschlüsse und die festen Fronten nach innen und nach außen kommen, gegen die der Faschismus französischer Prägung vergeblich anrennen wird. Die republikanische Garde vor der Kammer fann auf die Dauer die Massenbewegung, die von großem Ernste ist, nur niederhalten, wenn die französischen Deputierten der Linken in der Kammer als eine wohlgeordnete und disziplinierte Garde zur Erneuerung des französischen Staats- und Wirtschaftslebens zusammenstehen.
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Bewaffneter Anschlag"
Paris , 7. Febr. Auf dem Place de la Concorde , vor der Kammer und den umliegenden Straßen fam es am Dienstag: abend zu schweren Ausschreitungen, die fich allmählich zu einer Straßenschlacht entwidelten. Mitternachts wurden amtlich drei Tote, 200 verlegte Demonstranten und 90 vers legte Polizisten gemeldet. Verschiedentlich wurden auf den Auch im Marineminifterium wurde mit Hilfe von Zeitungen Straßen von den Demonstranten Kraftomnibusse angezündet. ein Feuer angelegt, das jedoch von der Feuerwehr nieder: gefämpft werden konnte. Nach Schluß der Kammerfißung wurde ein Kabinettsrat abgehalten, der sich mit der Lage beschäftigte. In einer Erklärung an die Presse sagte Minister: präsident Daladier , es sei der Beweis erbracht, daß es fich bei den Unruhen um einen bewaffneten Anschlag gegen die Sicherheit des Staates gehandelt habe. Auch die Kammers fizung verlief sehr stürmisch. Trotzdem konnte das Kabinett bei drei Abstimmungen über die Vertrauensfrage Mehr heiten von 300 gegen 217 bzw. 802 gegen 204 bzw. 360 gegen
220 Stimmen erreichen.
Geist und Bewegung
Zur Programmatik der kommenden deutschen Revolution
Im ,, Neuen Vorwärts" schreibt Max Klinger ein Vorwort zur Debatte über das von uns veröffentlichte revolutionär- sozialistische Programm. Klinger beschäftigt sich mit der geistigen Vorbereitung und Durchdringung des werdenden großen Umsturzes.
Unser Kampf muß in der Enthüllung des grauenvollen Unsinns der sogenannten nationalsozialistischen Theorie bestehen. Es wäre verständlich, wenn man diesem Unsinn gegenübertreten würde mit dem geistigen Hochmut des Denkenden, daß man eine Auseinandersetzung mit ihm abmeisen würde mit der Erklärung: zwischen einem Menschen aus einem barbarischen Zeitalter und einent denkenden Menschen von heute gibt es keine Diskussionsbasis. Aber die Macht des Unfinns über die Gehirne erfordert Aufräumungsarbeit auch wenn man dabei in den Müllhaufen der europäischen Zivilisation hineingreifen müßte.
Der geistige Kampf des Sozialismus ist immer ein Kampf um wissenschaftliches Denken gewesen, ein Kampf um Befreiung von allen Schlacken politisch- sozialen Revolution gegen Hitler muß eine neue mittelalterlichen Denkens und allem Denkspuk. Der geistige Revolution vorangehen, so wie der großen franzö fischen Revolution die Denkarbeit der Voltaire und Rousseau vorangegangen ist. Es gilt wieder aufzuklären, Spuk zu bannen, reaktionäre Denkformen zu zerschlagen. Der Mensch muß gereinigt werden vom Wust des Rassenwahnes und vom Spuk des neuen Blutmythos. Das ist eine Arbeit, in der wissenschaftliches Denken gegen pseudowissenschaftliche Schundliteratur. Ohne die moralisch wissenschaftliches Denken steht, ernste Forschung gegen geistige Verlotterung eines großen Teiles der deutschen Hochschullehrer hätten die abermißigen und barbarischen Lehren des Nationalsozialismus niemals mit solcher Kühnheit sich ans Tageslicht gewagt. Grauenhafte Geschichtss
DNB. Paris, 7. Febr. Bei den Unruhen sind nach den klitterungen, Fälschungen, Auslassungen, offenkundige lezten Angaben 300 Personen festgenommen worden.
600 Verletzte
Paris , 7. Febr. Nach der letzten von der Polizeipräfeftur ausgegebenen Meldung sind bei den nächtlichen Kundgebungen 600 Personen verlegt worden. Die Zahl der Toten wird erneut mit sechs angegeben.
Wie Le Jour" berichtet, wurde Herriot , als er am Diens-= tagabend das Kammergebäude verließ, von einer Gruppe von Manifestanten erkannt, sofort umringt und mit Fausthieben und Fußtritten bearbeitet. Erst einige Augenblicke später konnte er von Polizeibeamten befreit werden.
Demonstrationen verboten! Paris , 7. Febr. Die Straßenkundgebungen in Paris waren etwa gegen 1 Uhr morgens beendet. Als die Polizei auf den Place de la Concorde Schreckschüsse abgab, wurde ein amerikanisches Dienstmädchen am Kopf getroffen. Es war auf der Stelle tot. 300 Personen sind festgenommen worden. Der Bolizeipräfeft von Varis hat alle Ansammlungen auf offener Straße verboten. Auch in der Provinz ist es in einigen Städten zu Ausschreitungen gekommen. Bisher sind Kundgebungen aus Nantes , Nancy , Marseille und sogar Algier
gemeldet.
Anzeichen
Wenn auch vielleicht nur Gerüchte
Paris , 7. Febr. Der frühere Präsident der Republik Doumergue hat bekantlich den Antrag des Staatschefs nach dem Rücktritt der Regierung Chautemps, die Regierungsbildung zu übernehmen, mit dem Hinweis auf fein hohes Alter abgelehnt. Das„ Echo de Paris" behauptet, daß diese Version nicht zutreffe. Doumerque sei zur Uebernahme der Regierung bereit gewesen, aber er habe folgende amei Bedinungen gestellt: 1. fofortige Auflösung der Kammer, 2. Abhaltung von Neuwahlen, aber erst in sechs Monaten.- Präsident Lebrun habe nicht geglaubt, diese Bedingungen annehmen zu können.
Mißdeutungen und Verdrehungen auf allen Gebieten des Wissens, Vergewaltigung der Forschung und der Erkenntnis zu politischen Zwecken, Verleugnung jeder Ehrlichkeit des Denkens und der Erkenntnis das ist heute das Bild der Wissenschaft in Deutschland . Der Kampf gegen den Faschismus erfordert deshalb die rücksichtsloseste Entlarvung und Brandmarkung dessen, was heute in Deutsch land als Pseudowissenschaft lebt. Abermals wird die Arbeiterbewegung im Bunde mit der wahren Wissenschaft um die Wahrheit kämpfen!
Wenn größenwahnsinnige Narren uns den Gedanken der Humanität als ein Zerfallsprodukt einer untergehenden Welt hinstellen, wenn sie dagegen den ältesten Gruppen- und Sippenegoismus, der jeden, der nicht zur Gruppe gehört, totschlagen will, als glänzende Neugeburt des deutschen Geistes anpreisen und mit dem Begriff der Ehre etikettieren, so muß die Wissenschaft die barbarische Herkunft und die Stellung dieser Barbarei in der Geschichte der menschlichen Entwicklung aufzeigen, ihre Unvereinbarkeit mit den Jdeen, die die moderne Kultur tragen, mit der Geisteswelt und der moralischen Gesinnung, die die großen Denker und Lehrer erfüllte, auf die der Nationalsozialismus fich fälschend beruft. Wenn das moderne Barbarentum, unfähig, durch geistige Anspannung Wege zur Ordnung des wirtschaftlichen Chaos zu finden, den Totschlag anderer Völker und den Raub predigt, wenn es zurückfällt in die Primitivität von Nomadenvölkern, die sich die Köpfe einschlagen um den Weideboden, so stellen wir ihm die große geistige Konzeption des Sozialismus entgegen, dessen Grundgedanke die geistige Ueberwindung des wirtschaftlichen Chaos, die Ueberwältigung blindwirkender Wirtschaftsgesetze durch den menschlichen Intellekt ist.
Aber es geht nicht nur um den geistigen Kampf im großen! Es muß der tägliche Kampf geführt werden gegen die täglichen Schamlosigkeiten sogenannter Wissenschaftler und Pseudowissenschaftler in Deutschland , die vor der Macht wie vor dem Unsinn auf dem Bauche rutschen und