Deutsche   Stimmen Beilage zur Deutschen Freifieit" Ereignisse und Geschichten

Mittwoch, den 14. März 1934

Ruhm am Fließband

Die Horst Wessel  - Industrie

Wirklich: wenn man die Nazipresse liest, gerät man mit­unter in Versuchung, Wilhelm den Zwoten um Entschuldigung zu bitten. Man hat den Ordensfimmel dieses theatralischen Monarchen bespöttelt, man hat die unter seinem Regiment grassierende Sucht nach Titeln und Auszeichnungen verlacht, der Wilhelm wacker Vorschub leistete. Aber gegen Hitler   war Wilhelm doch ein Waisenknabe, was öffentliche Ehrungen anbetrifft. Unter ihm mußte ein Beamter immerhin seine fünfundzwanzig Jahre redlich abdienen, ehe er ,, Rat" wurde oder einen Pliepmats vierter Güte ins Knopfloch geheftet bekam. Die Hitler- Gesellschaft regiert gerade ein Jahr und hat schon dem Kleinsten in ihren Reihen mehr Auszeichnungen verliehen, als etwa Bismarck  , Moltke   und Roon zusammen im ganzen Leben aufzuweisen hatten!

Kein Tag vergeht, ohne daß nicht einer von ihnen Ehren­bürger wird. So prangt z. B. der preußische Justizminister Kerrl  , ein dummer August, über den man noch kurz vor Etablierung des dritten Reiches" in seiner Vaterstadt Peine

erscheinungen ,, zum Todestag des deutschen   Freiheitshelden" an: Horst Wessel   in Bild mit 150(!!!) Kupfertiefdruckbildern ( wie oft hat der im Alter von 24 Jahren Gestorbene sich danach wohl fotografieren lassen?!), außerdem ein von Jngeborg Wessel, der Schwester, geschriebenes Buch: ,, Mein Bruder Horst".

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Horst Wessel   ist danach eine Industrie geworden, einträg­lich für viele, einschließlich seine nächste Verwandtschaft. Doch warum sollen sie sich ausschließen vom Zug der Zeit, der dahin geht, die rechtzeitige Begeisterung für Hitler nun in wirtschaftliche Vorteile umzusetzen? Nein, wir denken an etwas anderes: Jahrzehnte hat es gedauert, ehe dem toten Schiller sein erster Biograf erstand. Heinrich von Kleist   zählte fast ein Vierteljahrhundert nach seinem Tode zu den Vergessenen, ehe er für die deutsche   Oeffentlich­keit wieder entdeckt wurde. Hans von Marées  , der bedeu­tendste deutsche   Maler des 20. Jahrhunderts, war bei seinem Tode nur einem ganz kleinen Kreise bekannt und fand erst Mayer, dem genialen Entdecker physikalischer Grund­gesetze wußte jahrzehntelang kein Mensch etwas, die umwäl­zenden Entdeckungen, die Mayer in den Jahren 1842 bis 1851 machte, blieben bis 1862 verschollen, erst kurz vor seinem Tode begann Mayer berühmt zu werden.

die saftigsten Geschichten hören konnte, jetzt als Ehrenbürger zwanzig Jahre später einen Biografen. Von Robert

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der Nachbarstadt Hildesheim   in der Zeitung. Ganze Spalten des Völkischen Beobachters" sind gefüllt, weil irgendein brauner Bonze gerade seinen 33., ein anderer seinen 28. Geburtstag feiert.

Am tollsten ist es mit denen, deren ,, Unsterblichkeit" parteiamtlich festgestellt ist. Ueber den in den Freiheits­kriegen gefallenen Theodor Körner  , der immerhin ein Dichter von einigem Rang und freiwilliger Lützower Jäger  war, ist nicht halb soviel hergemacht worden wie über jenen zweifelhaften Horst Wessel  , dessen geistige" Leistun­gen ein paar stümperhaft gereimte Nachdichtungen sind, und dessen ,, Märtyrertum  " darin besteht, daß er ein Opfer der dunklen Kreise wurde, in denen er verkehrte. Die Bücher, Dramen und Gesänge, die auf seinen Namen gehen, sind Legion, aber sie genügen anscheinend nicht, um diesen ,, Helden" der Volksseele nahezubringen. Schon kündet der betriebsame Verlag Franz Eher  , der das Bombengeschäft mit Hitlers   Mein Kampf  " gemacht hat, gleich zwei Neu­

So sieht das Schicksal wirklicher Leistung, wirk­lichen Genies aus. Ein 24jähriger unreifer Jüngling aber, dessen ganze Leistung ein paar Saalschlachten und ein paar Holperverse sind, steigt empor auf Fittichen des Ruhmes, sein inhalt- und bedeutungsloses Leben wird erforscht bis in die kleinsten Winkel, jede Belanglosigkeit dieses Daseins wird auf Seiten und aber Seiten Druckerschwärze festge. halten, am laufenden Band entsteht eine Horst- Wessel­Forschung, eine Horst- Wessel- Literatur, alles skrupellos zurechtgefälscht und zurechtgebogen durch das Göbbelssche Propagandasystem!

Zeichen des geistigen Tiefstandes einer Zeit und eines Systems!

In ihren Gefühlen verletzt"

Mein Leipzig   lob' ich mic

,, Salander" schreibt in der Basler ,, National- Zeitung":

Eine Berliner Zeitung   berichtet, daß der Hauptausschuß der Leipziger   Stadtverordneten die Einleitung des Dienst­entlassungsverfahrens gegen den Oberstudiendirektor Dr. Behrends und gegen die Lehrerin Fräulein Vorwerk beschlossen habe wegen einer Handlungsweise, die im neuen Staat unter gar keinen Umständen mehr geduldet werden könne".

Worin bestand die staatsbedrohende Handlungsweise? Sie bestand in folgendem: In der Mädchenschule, an der die beiden Lehrkräfte angestellt waren, sollten Gedichte nach freier Wahl aufgesagt werden. Eine Schülerin wählte dazu ein rassenstrammes Gedicht des verstorbenen Dietrich Eckart  , dem die deutsche   Literatur bekanntlich die Prä­gung der eindrucksamen kategorischen Imperative ,, Deutsch­ land   erwache" und, Juda verrecke" verdankt.

Die Lehrerin Vorwerk hat nun die Deklamation des Haß­gedichts aus der Eckartschen Leier untersagt, und zwar, es ist kaum zu glauben, weil sie befürchtete, zwei nicht voll­arische Schülerinnen der Klasse könnten dadurch in ihren Gefühlen verlegt werden Daraufhin beschwerte sich der Vater des poesievollen Mädchens, das nun um die Freude, seinen Lieblingsdichter zu Gehör zu bringen, ge­kommen war, bei der Schulleitung. Was aber tat der Ober­

Militärmusik

Paul Mathes war kriegsblind. 1918, wenige Tage vor dem Waffenstillstand, nahm eine Granate ihm das Licht der Augen und verkrüppelte ihm den rechten Arm. An ein Ar­beiten war nicht zu denken. Mit wenigen Franken Rente fristete er mit den Seinigen das Leben. Paul saß in seiner armseligen Stube und hörte sich die Vorführungen des Radios an. Es war sein einziges Vergnügen in seinem dunklen Dasein. Mitleidige Menschen hatten ihm die Anlage gelegt. Er wartete, den Kopf in die Hände gestützt, auf die nächste Vor­führung. Da vernahm er die Stimme des Ansagers: Achtung, wir beginnen jetzt mit unserem Militärkonzert und spielen als erstes den Parademarsch des ehemaligen Infanterie- Reg. 181. In seinen Stuhl zurückgelehnt lauschte er der Musik, ein Marsch folgte dem andern. Da ist er denn wieder sehend geworden.

Aus dem Dunkel seiner Umgebung heraus sieht er bei den Klängen der verschiedenen Parademärsche die ehemali­gen Angehörigen der Regimenter als Kinder harmlos mit Bleisoldaten spielen. Mit ihren kleinen Kanonen schießen sie nach dem Spielzeug, jubeln, wenn ein Schuß getroffen hat und der Bleisoldat fällt. Mit Papierhelmen, Holzsäbeln und Kindergewehren ziehen sie durch die Straßen und spielen Soldaten und Krieg. Dort kommen junge, kräftige Männer von der Musterung singend und lachend daher. Sie sind glück­lich, daß man sie zum Militär genommen.

Und nun ein Regiment in Feldgrau. Geschmückt mit Blumen sind Helm und Gewehr. Begleitet von Vater, Mutter, Frau und Kindern marschieren sie unter den Klängen ihres Parademarsches zum Bahnhof, um nach der Front verladen zu werden. Pause. Paul dachte nach. Was zog denn soeben an ihm vorüber? Sein Leben! Gab es denn als Kind etwas schöneres für ihn als Soldaten spielen? Und dann, als er sich stellen mußte, wie hatte er sich da gefreut, daß er angenommen wurde.

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studiendirektor Behrends? Er hat versucht, das Verhalten der Lehrerin zu rechtfertigen, und sich gleichsam mit ihr solidarisch erklärt." Höchste Zeit, daß solche zerstörerischen Lehrkräfte vom Einfluß auf die Jugend ferngehalten werden. Was würde sonst aus Leipzig   werden, wo zwar zur gegen. wärtigen Messe nichtarische Besucher mit der Versicherung des freundlichen Empfangs geradezu herzlich eingeladen werden, aber Rücksichten auf Kindergemüter eben doch immerhin eine Staatsbedrohung zu bedeuten scheinen?

Ich erwähne die bezeichnende Geschichte nicht deshalb, weil sie ein so erschütterndes Bild von den herrschenden Grundsätzen und Auffassungen gibt, nebenbei auch von dem, was sich bei den schwächsten und hilflosesten Geschöpfen der verfemten Rasse an Gefühlstragödien abspielen mag. Wir sind darüber leider gut unterrichtet. Aber ich finde es tröstlich, daß es mitten in dieser Atmosphäre noch solche aufrechte und anständige Menschen gibt wie diese beiden tapferen wirklichen Erzieher. Das wahrhaft heldische Deutschland   lebt also doch noch, auch wenn seine Träger gegenwärtig aus dem Dienst entlassen sind.

Sie möchten, geneigter Leser, wissen, wie die Leipziger Schule   heißt, an der die Geschichte passiert ist? Natürlich: Goethe- Schule!

Als der Krieg ausbrach, zog er mit Begeisterung ins Feld, um sein Vaterland zu verteidigen. Doch nur zu bald kam die Ernüchterung. Er erkannte, daß er das Werkzeug anderer war und heute kommt ihm zum Bewußtsein, daß seine Er ziehung schuld an dieser Kriegsbegeisterung war.- Er, der einst leuchtenden Auges durch die Welt gegangen mit Zukunftsplänen im Kopf, ist jetzt auf seinen Wegen auf die Hilfe eines Hundes angewiesen.

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Wieder vernimmt er die Stimme des Ansagers: Als nächstes hören Sie den Marsch ,, Alte Kameraden  ". Wieder sieht Paul sie vorbeimarschieren. Zerrissen, dreckig, zerfetzt

kommen sie vorbei.

Ein unübersehbarer Zug nähert sich. Skelette, eingehüllt in feldgraue Fetzen, mit zerrissenen Schuhen, den Stahlhelm auf dem kahlen Schädel, ziehen vorüber. Es ist der Zug der auf dem Felde der Ehre" Gefallenen.

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Hunderttausende

Es kommen die Kranken und Siechen. Kinder und Frauen, unterernährt, kraftlos. Dann ein endloser Zug trauernder, weinender Mütter, Kinder, Bräute. Doch was ist das? Einige hundert Luxus­automobile beenden den Zug. Die Insassen mit zufriedenen, lachenden Gesichtern. Die Frauen sind nach der neuesten Mode gekleidet, gepudert, geschminkt und behangen mit Ge­Mode gekleidet, gepudert, geschminkt und behangen mit Ge­schmeide. Sind das auch Trauernde? Nein! Kriegsgewinnler! Dieselben, die während des Krieges dem Volke vormarschier ten. Allerdings nicht an der Front, sondern durch Zeitungs­artikel und großes Mundwerk. Die, die vom ,, Dank des Vaterlandes" sprachen.

Aber Hunderttausende mußten ihr Leben zur Anschaffung dieser Automobile für diese fettglänzenden Gesichter lassen. Da spricht der Ansager und weckt Paul aus seinen Träu­men. Er sagt: Zum Schlusse hören Sie: Deutschland  , Deutschland   über alles!" Da reißt Paul sich die Hörer vom Kopf und schreit in die Finsternis ein Wort: Lügen!".

Konrad Franz,

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Caveant Consules!

An die Minister des Westens

Wie lang noch streut ihr Worte in den Wind und sät ,, Versöhnung" auf verstockte Felsen? Ihr tut, als wüßtet ihr nicht, wer sie sind und habt schon ihre Krallen an den Hälsen!

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Ihr zittert vor dem, Krieg", nein, vor dem Wort und glaubt den ,, Frieden" mit Glacés zu fördern... Indes trainieren sie den Völkermord: Chemie, Bazillen! Heil den Fliegermördern!

Kein Schrift und Siegel und kein Menschenrecht das sie nicht höhnend tausendmal geschändet! Ihr aber klügelt, wie ihr gleiches Recht" auf die vertierte braune Horde wendet!

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ja, das!

Worauf denn wartet ihr? Auf Attilas  geheimen Wink zum Ausbruch eines Brandes? Wascht nur die Hand in Unschuld! Das ist schon der Untergang des Abendlandes! Hans Mühlestein  .

Der Bergner- Film

Ein Einspruch des englischen Botschafters

Aus London   wird berichtet, daß der Bergnerfilm Katha­ rina von Rußland  " im Anschluß an den Berliner   Skandal von dem Präsidenten der Reichskulturkammer verboten

worden ist, nachdem er vor der Premiere selbstverständlich die Zensur passieren mußte und unbeanstandet durchgelassen worden war.

Die Herstellerfirma des Films hat beim englischen Bot­schafter in Berlin   gegen das Verbot interveniert. Sie hat erklärt, daß die randalierenden Elemente in keiner Weise die Meinung des großen Publikums vertreten haben. Als Beweis führt sie an, daß bereits eine Stunde nach der Eröffnung des Vorverkaufs sämtliche Plätze für die Dauer einer Woche aus­

verkauft waren.

Es wird als möglich angesehen, daß der englische   Bot­schafter in Berlin   gegen das Verbot des Films offiziell protestieren wird.

Signale aus Holland  

Unser Amsterdamer Kunstberichterstatter meldet uns: Ende Februar veranstaltete die Wagner vereini gung von Amsterdam   eine Reihe von Opernvorstel­lungen, die Bruno Walter   dirigierte. In der letzten dieser Vorstellungen Mozarts Entführung aus dem Serail"- sollte u. a. der deutsche   Tenor Julius Patzak   auftreten im letzten Augenblick sagte er aber ab. Da holländische Zeitungen diese plötzliche Absage darauf zurückführten, daß Julius Patzak   einen Wink von oben bekommen habe, unter Bruno Walter   nicht aufzutreten, schickte Patzak ein ärztliches Attest, daß er ernstlich an einer Stimmbandentzündung leide. Er hatte nicht damit gerechnet, daß ihm die Amsterdamer auf den Mund sahen. Und so liest man jetzt in holländischen Zeitungen, daß man in Amsterdam   sehr darüber entrüstet ist, daß Patzak, dem von einem Arzt des ,, dritten Reiches" schwere Erkrankung attestiert worden war, unmittelbar nach der Absage in einem deutschen Rundfunkkonzert mitgewirkt hat, das von drei deutschen Sendern übertragen wurde.

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Frit Busch, der eine Reihe von sechs Konzerten des Concertgebouw- orkest" in verschiedenen Städten Hollands  dirigieren soll, ist, aus London   kommend, zu den Proben in Amsterdam   eingetroffen.

Großes Aufsehen hat die Enthüllung der sozialdemokrati­schen Zeitung ,, Het Volk" hervorgerufen, daß die Administra­tion des Amsterdamer   Concertgebouw 800 Freibilletts für ein Opernkonzert an die faschistische Partei Musserts aus­gegeben hat. Der wethouder voor de Kunstzaken von Amster. dam hat eine strenge Untersuchung angeordnet.

Für den holländischen ,, Bond van Arbeiderszangvereeni­gingen" hat Jan W. Jacobs einen ,, Vierzigstundenmarsch" geschrieben, den Otto W. de Nobel   in Musik gesetzt hat. Der Bund hat außerdem eine Reihe von Kinderliedern des deutschen   Komponisten Hans Krieg in sein Repertoire aufgenommen, die Jan W. Jacobs ins Holländische übersetzt

hat.

Zeit- Notizen

Lügen gestraft

Hitler und Frick, die den Anteil von Juden an freien werden von einer Statistik des Aufklärungsamtes für Be Berufen bis zu 70 Prozent öffentlich behauptet haben, völkerungspolitik und Rassenpflege Lügen gestraft. Danach stellt sich der Anteil der Juden in der Wirtschaftsabteilung " Oeffentliche Verwaltung, Kirche und freie Berufe" auf 5,94 Prozent. Er liegt nur 1,09 Prozent über dem Anteil der Gesamtbevölkerung.

Eine neue Universität in Rykowo

Eine Universität für Metallarbeiter wurde im Lenin Kulturpalast im Rykowo( Ukraine  ) eröffnet. In dieser Uni­versität werden zwölfmal monatlich Klassen für 200 Arbeiter eingerichtet. Der Unterrichtsstoff enthält Fächer über Industrie, Landwirtschaft, Medizin usw. Aus dem Nachlaß Wassermanns

Im Nachlaß des verstorbenen Dichters Jakob Wassermann  hat sich ein unveröffentlichtes Manuskript vorgefunden, in dem ,, Der Fall Mauritius" für die Bühne bearbeitet worden

ist.

Neues Kaiserdenkmal

Der Senat von Lübeck   hat die Errichtung eines Denkmals zu Ehren des Ex- Kaisers beschlossen, dessen Grundstein bereits vor- 30 Jahren gelegt wurde.