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Freiheit

Nummer 66-2. Jahrgang

Einzige unabhängige Tageszeitung Deutschlands

Saarbrücken, Dienstag, 20. März 1934

Chefredakteur: M. Braun

Aus dem Inhalt

Illegale

berichten

über die Stimmung

im Reiche: Seite 4

Mussolinis und Churchills Alarmreden Militärmacht über alles! Gestern und heute

Am Sonntag hat Mussolini vor 5000 Faschisten in der Großen Oper zu Rom gesprochen. Er versprach Dester reich, daß es auf Jtalien zählen könne, forderte Gerechtig keit für das durch die Friedensverträge benachteiligte Ungarn , anerkannte eine Besserung der Beziehungen zu Frankreich , obwohl nicht ein einziges der französisch- italienischen Probleme gelöst fei, proklamierte Italiens historische Expansionsziele in Asien und in Afrika und verlangte dann eine illusionslose Politik zur Abrüstung".

Das Prinzip der Völkerbundsreform sei fast all­gemein angenommen. Aber diese Reform könne erst durch­geführt werden nach Abschluß der Abrüstungs­fonferenz. Wenn diese Konferenz scheitere, sei auch der Völkerbund erledigt. Die kon ferenz sei übrigens schon gescheitert, zum mindesten in ihren großen zielen. Die ge rüfteten Staaten würden nicht abrüften, die abgerüsteten Staaten würden ihrerseits mehr oder weniger Ver: teidigungswaffen erhalten. Wenn die anderen nicht abrüften, verlegen sie den Teil V des Versailler Vertrages, und sie würden sich der Anwendung der Gleichberechtigung, die Deutschland im Dezember 1982 zuerkannt wurde, nicht widersezen können. Man solle fich nicht anmaßen, eine Illusion zu verewigen, die vielleicht von den Tatsachen längst überholt ist. Es müßte schon sein, daß man die Auf­rüftung Deutschlands mit Gewalt durch einen Krieg vers hindern wolle. Dieser Gedanke könne nicht in Betracht gezogen werden. Man müsse Deutschland die definitive Aufrüstung gewähren, und eben so die Effektivbestände, die es verlangt. Das italienische Memorandum sei die einzige Lösung. Italien habe seit zwei Jahren sein Heeresbudget vermindert, aber es werde auf diesem Wege nicht weitergehen wegen der Stockung der Abrüftungsverhandlungen. Der kategorische Imperativ für Italien fet: Start sein, militärisch start sein, nicht um jemand anzugreifen, sondern um jeder Situation gewachsen zu sein. Das ganze Leben der Nation müsse in der Militärmacht des Landes fonzentriert werden."

Bis zum Welẞglühen"

Paris , 19. März. Die Sonntagsrede Mussolinis hat in Paris wie eine Bombe eingeschlagen. Die Blätter bezeichnen die von Mussolini entwickelten Gedankengänge als höch it gefährlich.

Der offiziöse Petit Parisien" will einen Widerspruch zwischen der Rede und dem Eindruck der römischen Verhand­lungen feststellen, in denen man eine Anstrengung zur Schaffung einer Atmosphäre des Ausgleichs und der Zusammenarbeit in Mitteleuropa erblicken wollte". Die Rede des Duce störe die Atmosphäre.

Das Journal" schreibt: Die Rede des Duce ist der Sammelruf an alle räfte, die ihren Plaz an der Sonne fordern, und auch an alle Unzu­

friedene, die unter dem Vorwand der Wiedergutmachung von

Unrecht den Umsturz wollen.

Im Echo de Paris" nennt Pertinar die Rede aus­gesprochen revisionistisch. Die Kleine Entente werde durch die Erklärungen über die berechtigten Ansprüche Ungarns zurückgestoßen. Mussolini könne nicht das Scheitern des Viermächtepaftes verzeihen. Er kehre nunmehr zu sein ent Hegemonieplänen in Mitteleuropa zurück, die er gemeinsam mit dem magyarischen Irredentis mus verfolge. Auf die Dauer aber könne dieses Ziel nur Italiens auf Asien und Afrika könnten nicht als freund­dem Pangermanismus das Bett bereiten. Die Ansprüche schaftlich gelten. Jedenfalls habe Mussolini den Kopf ver­loren. Seit einem Jahre gingen seine sämtlichen diplomati­schen Initiativen fehl. Daher fühle er das Bedürfnis, seine Hörer noch bis zum Weißglühen zu bringen.

Die Ere Nouvelle" erklärt, daß Mussolini geschickt operiert habe. Er habe Destereich und Ungarn in sein Fahrwasser ge­bracht und Deutschland , um nicht seine Unterstüßung zu ver­lieren, die Aufrüstung versprochen. Für besonders schlimm Erpansionsbedürfnis in Asien und Afrika . Mussolini wolle hält das Blatt die Erklärung des Duce über Italiens allem Anschein nach die Nachfolge des alten römischen Reiches antreten. Unter diesen Umständen bleibe Frankreich nichts anderes übrig, als sich an den unantastbaren Grundsaß der Sicherheit zu flammern und zu betonen, daß keine Abrüstung ohne ent sprechende Sicherheitsgarantien in Frage tomme. Auch müsse man die Hinfälligkeit des Viererpaktes proklamieren, den der Duce selbst be= erdigt habe durch den Abschluß eines politischen Abkommens mit Ungarn und Desterreich, ohne vorherige Befragung der Unterzeichner des Viermächtepaftes. Dieser Paft sei überdies bereits hinfällig geworden, seitdem Deutschland Genf ver­lassen habe, denn er sollte doch im Rahmen des Völkerbundes Geltung haben. Damals handelte es sich um einen Vaft, durch den drei gegen Frankreich standen. Mit dem italienisch­österreichisch- ungarischen Abkommen würde Frankreich allein gegen fünf stehen.

L'Ordre" will in den Ausführungen Mussolinis die Gedankengänge wiedererkennen, die der belgische Minister­präsident de Brocqueville im Senat verfündet habe, und glaubt daraus folgern zu können, daß Mussolini der In­spirator de Broquevilles gewesen sei. Das Blatt bedauert lebhaft, daß Mussolini nach seiner Einstellung gegen den An­schluß Destereichs an Deutschland für Deutschlands mili­tärische Stärfung eintrete. Wenn er Deutschland weiter militärisch erstarken lasse und nicht sehen wolle, daß Franf­reich und Italien gegenüber der deutschen Gefahr Hand in Hand marschieren müßten, dann würde Frankreich dabei zu Schaden kommen, aber nicht nur Frankreich , sondern auch Italien .

Die sozialistischen Blätter Populaire" und, Peuple " halten nach dieser Rede jedes Kompromiß zwischen der Arbeiterklasse und einer derartigen Politif für unmöglich. Das Gewerkschaftsblatt Le Peuple" wirft der französischen Politik vor, das faschistische Italien gewissermaßen als Beauftragten Europas im Donauraum angesehen zu haben.

Zum Scheitern verurteilt"

Im Laufe der Rüstungsdebatte im englischen Unterhaus hat der frühere Schußkanzler Churchill eine Rede gehalten, die im Gegensatz zu den von der Regierung Macdonald öffentlich genährten Jllusionen recht deutlich die wahre europäische Lage zeigt. Churchill sagte u. a.: Die Aufgabe, die der Geheimsiegelbewahrer Eden auf seiner diplomatischen Rundreise durch Europa lösen sollte, war zum voraus zum Scheitern verurteilt, weil er versuchen sollte, die Franzosen zu einer Herabsetzung ihrer Armee zu überreden, für die sie am allerwenigsten in diesem Augenblick zu haben sein dürften. Eden sollte u. a. Frankreich eine Herabsetzung seiner Luftflotte auf 500 Flug­zeuge nahelegen, die gegenwärtig etwa drei- oder viermal größer sei und gewaltige Opfer gekostet habe.

Es sei eine reine Illusion, wenn man sich die Hoffnung auf ihre Zustimmung zu derartigen Plänen mache. In Frankreich sei man längst über die Schwäche der englischen Nüftungen in der Luft schwer beunruhigt.

Seit vier Jahren habe man das englische Volk in den falschen Glauben zu wiegen versucht, daß die Abrüstung gleichbedeutend sei mit dem Frieden. Tatsächlich habe aber die Abrüstungskonferenz die Welt immer näher nicht an einen Krieg er wolle dieses verabscheute Wort nicht ge­

brauchen- wohl aber an einen über jede Vorstellung hinausgehenden Zustand gegenseitigen Mißtrauens und Uebelmollens geführt. Schon vor vier Jahren habe er, Churchill , darauf hingewiesen, daß es eine sehr gefährliche Diplomatie sei, wenn man immer wieder den Staaten, die von solchen Veranstaltungen offensichtlich nichts wissen wollen, Abrüstungskonferenzen aufdränge. Das habe vor allem zu einem Wettbewerb zwischen den Mächten geführt, von denen jede einzelne ihre Nachbarn abrüsten möchte; eine meitere Gefahr bestehe darin, daß jede Regierung versucht sei, die Verantwortung für die unaufhörlichen Fehlschläge der endlosen Konferenzen auf andere Regierungen abzu wälzen.

Was man tatsächlich erreicht habe, sei nicht die Abrüftung. sondern die Wiederaufrüftung Deuthands ein fürchter: licher Wechselbalg nach so schweren Wehen . Noch vor kurzem habe man die Minister mündlich und schrift lich erklären hören, daß eine Wiederaufrüstung undenkbar sei. Jetzt hoffe man höchstens noch, diese Undenkbarkeit einigermaßen zu regulieren. Während man heute an eine regulierte Undenkbarkeit denke, werde man sich bald mit un­regulierten Undenkbarkeiten vertraut machen müssen. Churchill warf die Frage auf, ob ein Erfolg der Mission Fortsetzung siehe 2. Seite

Shakespeares ,, Coriolanus" ist heute, nicht nur auf deutschen Bühnen, sehr beliebt. Ein Heldenlied vom kriege­rischen Diktator und Massenverächter wird gesungen. Es gibt herrische Sätze darin gegen kahlköpfige Volkstribunen, die die vaterländischen Goldkörner palavernd verschachern; selbst der gute Demokrat hört dann schmunzelnd zu, wenn er einige Selbstironie besitzt. Aber man entdeckt in diesem Versdrama auf einmal ganz tiefe Weisheiten, die dem dritten Reich" auf den Leib geschrieben sind. Coriolanus spricht von dem Staate ,,, dem es an Macht fehlt, Gutes, das er möchte, zu tun, weil ihn das Böse stets verhindert".

Dieses Böse, Patin an seiner politischen Wiege, keucht unaufhörlich hinter dem Nationalsozialismus her. Skorpione aus eigener Zucht! Hitlers engster Kreis kann beginnen, was er will: da gibt es Reden und Schriften von damals, als man begann, schmutzig und gemein, Rüssel im Schlamm menschlicher Fäkalien. Ach, sie möchten heute so vieles gerne verbrennen! Denn heute ist man mit dem Ethos einer Welt­anschauung vermählt, erhaben auf der Höhe, wo die Strahlengestirne der Epoche vergeben werden.

Wir haben ein Heft vor uns: Totengräber Rußlands ". Es erschien im Herbst 1921 im deutschen Volksverlag München in einer Massenauflage von Hunderttausenden. Eine Samm­lung von Zeichnungen, Fragen sehen uns an, Köpfe russischer Staatsmänner und Publizisten, grauenhaft und verlogen ins Semitische verzerrt, Lenin , Trotki , Radek, Sinowjew und viele andere, gänzlich Unbekannte. Affenfotografien aus dem Urwald sind eine klassizistische Gemäldegalerie gegen diese Leistungen des Zeichners Otto von Kursell . Das Vor­wort gab Alfred Rosenberg aus Reval dazu. Wahrhaftig, der braune Kulturgeneral! Die Wiedergabe seines Textes scheitert schon im Versuch. Ein Hysteriker des alten Hasses gräbt im Humus der russischen Geschichte nach Juden und stellt Serien von Isaaks vor die Leser. So fing Alfred Rosenberg

an.

Jede der Kopfzeichnungen ist von einem Vers begleitet. Der Dichter ist der braune Olympier Dietrich Eckart . Die Befehlsgewalt seines Münchener Kameraden Adolf Hitler hat ihm nach seinem Tode die Schleusen der deutschen Bühne geöffnet. Breit quillt seine Pathetik, hart klopfen seine Stelz reime über die Bretter. Die Verse in diesem Hefte aber zeigen stürmischer als alles andere, welch edler Geist dem deutschen Volke allzufrüh zerstört wurde. Kleine Proben, noch nicht die schlimmsten:

Wolodarsky- Cohen

Oft anzutreffen, diese Judenlarve: als wie ein Musiker, durchaus Choral; verklärten Blickes schlägt er seine Harfe und hat darin versteckt den Schlächterstahl Emma Goldmann

Fast hundertjährig, trug die Sarah aus dem Abraham noch einen Stammeshalter, die Nachgeburt, den Bolschewikengraus, Frau Goldmann, wie es scheint, im gleichen Alter. Man spie damals nicht aus. Man ließ diese Dietriche und Eckarte und Rosenberge ungehindert gewähren. Dieser Poet stieg mit dem Anbeginn des ,, dritten Reiches" vom Redak­tionspult des Völkischen Beobachters" zur Heldentafel in Walhall empor. Seine Gedichte stehen heute in allen deutschen Lesebüchern. Er ist der Erfinder des ,, Deutschland erwache" und Juda verrecke". Es gibt eine Dietrich- Eckart­Spende zum Sporn für junge Dichter. An der bayerisch­böhmischen Grenze errichtet man auf einem Berge ein Dietrich- Eckart- Nationaldenkmal. Deutsche Jünglinge und Mädchen rüsten zu Wallfahrten. Sprüche zum Höhenfeuer werden im Chorus dem Dichter geweiht, Lyriker mit be­bändeter Laute am Schulterriemen, pochende Herzen hinter der Kletterweste. Eine Generation junger deutscher Menschen wird Dietrich Eckart verehren, denn man hat ihr zwangs­weise den Maßstab genommen für menschliche Haltung, für Güte und Geist, verloren und versunken in Befehl, Organi­sation und Nebel.

Dies ist ohne Hohn geschrieben. Nur in entsetzlicher und endloser Trauer. Kein Deutscher kann den Gedanken er­tragen, daß solche Führer, solche Helden, solche Dichter, solch hirnlos- gewalttätiges Getöse heute in der ganzen Welt nur in Deutschland möglich sind. Wer könnte aufhören, die mißbrauchte deutsche Jugend zu lieben?

Aber zu dieser Liebe tritt der Selbstvorwurf. Denn jeder von uns ist mitschuldig an dem, was nachher kam. Weil er ein derartiges Schrifttum vor dreizehn Jahren nur belächelte und bespöttelte. Jeder von uns hätte mit seinesgleichen helfen müssen, einen Pestkordon zu ziehen, um das deutsche Menschentum vor solcher Krankheit und solcher Schande zu beschützen. Howald