Freihei

Einzige unabhängige Tageszeitung Deutschlands

N

her 114 2. Jahrgang

Saarbrücken , Samstag, 19. Mai 1934

Chefredakteur: M. Braun

Aus dem Inhalt

Saarländische Priesterschaft

gegen Göbbels

Seite 2

Dec Becliner van der Lubbe

Seite 2

Saarfragen im Vordergrund

Seite 3

Dec Hohe Kommissar und seine Tätigkeit

Seite 7

Erzbischof gegen Streicher Gestern und heute

Ein scharfer Brief des Erzbischofs von Canterbury- Vierzig Kirchen­Der Reichskanzler kapituliert vor den

führer schließen sich an ausländischen Protesten

Der Erzbischof von Canterbury schrieb einen Brief an die Stürmer" beschlagnahmt

" Times", den das Blatt in der Nummer vom 16. Mai ver­öffentlicht:

Sir gestatten Sir mir, meinen Protest mit denen zu ver­binden, die Sie bereits veröffentlicht haben. Er richtet sich gegen die im Mai herausgegebene Nummer der Zeitschrift mit dem Titel Der Stürmer ", die unter dem Namen des Herrn Julius Streicher erscheint, der fürzlich zum Re­gierungskommissar in Franken ernannt wurde. Obwohl offenfundig die Ausfuhr des Blattes aus Deutschland unter­bunden ist, gelang es mir, ein Eremplar zu sehen. Es fragt die Legenden und Lügen über die angebliche Sitte des Ritual­mordes der Juden, die im Uebermaß oft und oft widerlegt worden sind, zusammen. Es enthält eine Reihe von gräßlichen und geschmacklosen Jllustrationen. Es scheint fast unglaus lich, daß eine solche Verfentlichung, die an die übeten Ausschreitungen des mittelalterlichen Fanatismus erinnert, in irgendeinem Kulturlande gestattet werden fonnte; ber fie trägt noch dazu den Namen eines hohen staatlichen Funktionärs.

Etwa vierzig Repräsentanten der chriftlichen öffentlichen Meinung Englands, die aus andern Gründen in meinem Hause zusammenkamen, haben mich zu der Erflärung er­mächtigt, daß sie sich meinem Pre

drülich anschließen.

Namen zu nennen erübrigt sich. Mir genügt 8, ink die Gesamtheit unsrer Mitbürger, wenn sie den 55 er der gentlichung fennen würde, unsre Entrüstung teilen

mürde.

Wenn die Spitzen des Reiches sich und ihrem Staat die Achtung und Freundschaft des englischen Volkes sichern wollen, dann mögen sie schleunigst von diesem Blatt ab­rücken. Sie mögen abrücken davon, daß in dem Namen eines Mannes aus ihrer eigenen Zahl in so gehässiger Weise zu religiösem Fanatismus und wahrscheinlich zu neuen bru­talen Verfoloungen gehegt wird.

Cosmo Cantuar, Lambeth. Palace, 15. Mai.

Aber nicht wegen Ritualmordhetze

DNB, Berlin , 17. Mai. Auf Befehl des Reichskanzlers wurde die Sondernummer des Stürmer" Nürnberg , Mai 1934, betitelt Ritualmorduummer" wegen eines Angriffs gegen das chriftliche Abendmahl beschlagnahmt.

Diese Beschlagnahme ist unmittelbar unter dem Druck der öffentlichen Meinung Englands erfolgt. Der Brief des Erz­bischofs von Ganterbury und Vorstellungen aus englischen Regierungsfreisen haben auf den deutschen Botschafter einen solchen Eindruck gemacht, daß er dringend ein unmittelbares Eingreifen des Reichskanzlers empfohlen hat. Der Bot­schafter von Hoesch hat vorher schon zahlreiche Berichte über die Wirkung der Judenverfolgungen auf die Engländer nach Berlin gesandt. Diesmal fonnte der Reichskanzler mit Rück­sicht auf die Genfer Berhandlungen nicht mehr ausweichen. So hat er sich denn zu einem Entschluß gegen seinen intimen Freund Streicher aufgerafft. Da dieser das Bombengeschäft mit der Sondernummer schon hinter sich hat, wird er wohl von dem Verbot nicht allzu sehr berührt werden.

Charakteristisch ist, daß der deutsche Reichskanzler und Parteiführer nicht wagen darf, den wahren Grund für das Verbot zu nennen. Er begründet das Verbot nicht mit der schamlosen und lügnerischen Judenhezze, sondern mit einem Angriff gegen das christliche Abendmahl. Diese Heuchelei wird im Auslande sehr aufschlußreich wirken. Die Autorität des deutschen Reichskanzlers und Führers" gegenüber den Pogromantisemiten in seiner Partei ist also nicht start genug, um die Ritualmordheze offen zu unterbinden.

Der Reichsfangler ist der Gefangene der rohen Elemente, die er durch seine eigene wilde antisemitische Hehe aufgewühlt hat.

Kirchliche Loslösung des Saargebiets?

Apostolische Delegatur in Saarbrücken ?

Bern , 18. Mai. Der Berner Bund", der sich seit einiger Seit über Saarfragen besonders gut unterrichtet zeigt,

meldet:

" Die Frage der firchenpolitischen Trennung des Saars gebietes von den Bistümern Trier und Speyer , die seit langem die Deffentlichkeit in Deutschland und ankreich in Atem hält, scheint einer Lösung entgegengehen zu wollen. Wie wir erfahren, beabsichtigt die römische Kirche nunmehr, das Saargebiet der firchlichen Jurisdiktion von Trier und Spener zu entziehen und einer besonderen apoftolischen Delegatur zu unterstellen.

Als apostolischer Delegat ist der bisherige Sonder­gesandte Prälat Testa, auserwählt, der seinerzeit im Ruhrgebiet 1923 mit besonderer Aufgabe betraut war. Testa wird in den nächsten Tagen im Saargebiet ein­treffen, um vorerst nochmals ein eingehendes Studium des Saarproblems vorzunehmen. Erst nach seiner Bericht­erstattung beim Vatikan wird die definitive Entscheidung fallen. Im Zusammenhang hiermit steht wohl auch die Reise des saarländischen Mitgliedes der Regierungskom­mission, o ßmann, nach Rom .

Bemerkenswert ist, daß in Genfer Kreisen diese vor­läufige Entscheidung des Vatikans allgemein als eine Ant­

,, Deu'schland verplichtet sich" Kompromiẞvorschlag Aloisis?

Der Intransigeant" meldet aus Genf , daß der italienische Hauptdelegierte Baron Aloisi folgende Kom­promißformel in der Saarfrage vorgeschlagen habe: Deutschland verpflichtet sich feierlich, die indivi­buelle Freiheit im Saargebiet zu sichern und keine Re­

wort auf die Kulturpolitik des Dritten Reiches aufgefaßt wird."

Prälat Testa hat schon vor einigen Monaten sich wochen­lang im Saargebiet aufgehalten und in zahlreichen Ge­sprächen sich über die Verhältniffe informiert. Vor einigen Tagen ist er wieder in Saarbrücken eingetroffen.

Er wird sich bei den Bischöfen von Speyer und Trier und bei dem Erzbischef in Köln hinreichend über die Unter­drückungen des Kathoursismu unterrichten können und sich die Frage vorlegen müssen, was den Katholiken an der Saar nach der Rückgliederung droht, wenn sie unter die Hitler­diftatur kommen.

Gerade in den katholischen Gebieten des Rheinlandes werden die Konkordatsbestimmungen über die Jugend­erziehung dauernd und schwer verletzt. Nicht nur, daß den fatholischen Jugendorganisationen praktisch jegliche Be­tätigung außer dem Kirchaana unmöglich gemacht.oirs, neuerdings ist durch eine Verfüguna des mittelrheinischen Bannführers" auch der Spielnachmittag der Schulen jeg­lichem Einfluß der Schulverwaltung und der Schulaufsich: 3- behörden entzogen und ganz ausschließlich der Hitlerjugend überantwortet worden.

Die Totalität der Jugenderziehung durch die national­sozialistische Partei geht darauf hinaus, jede andere Be­einflussung auszuschalten. Wer da glaubt, durch Verhand­lung und papierenen Abkommen etwas erreichen zu können, befindet sich in einer Illusion.

preffalten im Falle einer Rückkehr des Saargebietes zu Deutschland gegen Personen, die nicht für Deutschland ge­stimmt haben, auszuüben. Deutschland gibt jerner Garan= tien den Minderheiten der Saarbevölkerung sowohl auf ethischem, wie auch auf politischem Gebiet. Der Völferbund und Frankreich verzichten andererseits auf Grund dieser feierlichen Verpflichtung Deutschlands auf die Bildung eines internationalen Polizeikorps.

Die Deutsche Freiheit" hat gestern ein großes Wort ge­lassen ausgesprochen. Sie hat Adolf Hitler in Beziehung zu Charles Darwin gebracht. Dagegen muß der Schreiber dieser Zeilen, der kein Darwinist ist, im Namen Darwins Einspruch erheben. Der große naturwissenschaftliche Denker war näm­

lich, was ihm sogar der große Brockhaus bestätigt, als Mensch

,, durch Einfachheit des Charakters, Bescheidenheit und große

Liebenswürdigkeit ausgezeichnet". Man lese einen Sats von

Darwin, höre dann drei Minuten Adolf Hitler am Laut­sprecher, und man erlebt den Gegensatz zwischen Geist und Geschrei.

Trotzdem: der Vergleich hat uns in Unruhe versetzt. Sollte es wahr sein, daß der Pionier des naturwissenschaftlichen Materialismus, der die Geschöpfe zerrissen sah im Kampf um den Futterplats, um die Arterhaltung und den gewalt­sollte die Welt Charles tätigen Anspruch des Stärkeren Darwins wirklich Aehnlichkeit haben mit der Hitlers, der eine neue Weltanschauung aus dem Schoße des deutschen Idealismus gehoben hat?

-

Wir haben uns Mühe gemacht und verglichen: Darwins ,, Ueber den Ursprung der Arten vermittelst natürlicher Zucht­wahl", London 1859, und die Kernsätze aus Adolf Hitlers Rede auf dem zweiten deutschen Arbeitskongreß in Berlin am 16. Mai 1934. Hier ist das Resultat: Charles

Darwin:

Wie jedes andere Tier ist auch der Mensch ohne Zwei­n gegenwärtigen fel auf. hohen Standpunkt durch einen Kampf um die Exi­stenz als Folge seiner rasen­den Vervielfältigung. ge­langt, und wenn er noch höher fortschreiten soll, so muß er einem heftigen Kampf ausgesett ben. Im andere Falle würden die Begabten im Kampfe um das Leben nicht erfolg­reicher sein als die weniger Begabten. Es muß für alle Menschen offene Kon­ku enz bestehen, und cs dürfen die Fähigsten nicht durch Gesetz und Gebräuche daran gel.indert 1 rden, den great

Erfolg zu haben.. Adolf

Hitler:

eine Man kann nicht Höchstleistun der Produk­tion erreichen, in dem man ein Prinzip verwirklicht, das der persönlichen Initiative von vornherein den Todes. stoß versetzt. Jeder Mensch fordert zwangsläufig die Verwirklichung dessen, was an Fähigkeiten in ihm liegt und nach Gestaltung drängt

Wer führt, muß von Natur aus dazu bestimmt sein, und das erweist sich durch eigene Leistung und Fähigkeit Wenn wir die höchsten Fähigkeiten nützlich anwenden, und die höchste Produktivkraft auf allen Gebieten entwickeln, dann wird das zwangsläufig allen zugute kommen

Zwischen diesen beiden Zitaten liegen 75 Jahre. Die Aehn­lichkeit des Gedankenganges über das Anrecht der ,, Fähigsten" ist erschütternd. Es ist die gleiche ,, natürliche Auslese", die Proklamation des Ellenbogens zur Selbst­behauptung; die liberale Moral der Manchesterlehre, die vorgab, an der Herstellung der Harmonie in der Gesellschaft durch den Konkurrenzkampf zu glauben. Den Legten und den Aermsten beißen die Hunde.

Hier aber liegt zugleich der Unterschied. Charles Darwin war Gelehrter. Er versuchte, harten Naturgesetzen auf die Spur zu kommen. Welche Gegenkräfte die Menschen durch Erkenntnis und durch Willen zu entwickeln vermögen, um einen vernichtenden Kampf aller gegen alle zu verhindern - das interessierte ihn nicht. Er war kein Sozialist.

-

Hitler aber hat die Fahnen des deutschen Sozialismus" aufgepflanzt. Der teuflische materialistische Marxismus liegt am Boden. Hat er nicht die gesellschaftlichen Probleme zu Messer und Gabelfragen erniedrigt? Hat er nicht verhin' ert, daß das deutsche Volk sich auf innere Werte besann? Dieser böse Marxismus glaubte daran, daß es möglich sei, durch eine Neuordnung der Gesellschaft für alle Menschen die gleichen Ausgangspunkte zur Entwicklung und Entfaltung ihrer Fähigkeiten zu schaffen. Darum kämpfte er gegen die Barrieren der wirtschaftlichen und sozialen Uebermacht.

Es war eben eine Irrlehre. Wir hören jetzt von Adolf Hitler, daß diese Schranken bereits das ,, naturgewollte" Er­gebnis eigner Leistungen und Fähigkeiten seien. Persönliche Initiative steht im Vordergrunde. Das ist nämlich das, was allen ,, zugute" kommt.

Persönliche Initiative? Wo haben wir das nicht immer gehört? War es nicht die Parole auf jeder Unternehmer. tagung? Privatinitiative- das gab dem wirtschaftlichen Herrentum das gute Gewissen, unter Berufung auf Darwin und Nietzsche von den Herren Syndizi ethisch fundiert.

Sie nannten das aber noch nicht Sozialismus. Jegt dürfen sie es. Das ist, das Wunder der Deutschen Arbeitsfront". Argus