Der Leitartikel
Von Georg Wilman
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Dr. Johann Krummberg, der Chefredakteur bzw. Hauptschriftleiter des ,, Mittelstädter Generalanzeiger", kaute nachdenklich an seinem Füllfederhalter. Der allsonntägliche Leitartikel war fallig. Aber über was schreiben? Die tobende Arbeitsschlacht? Das hatte er jetzt glücklich an drei Sonntagen hintereinander gebracht, und es mußte den Lesern nachgerade zum Halse heraushängen. Die bevorstehende Besichtigung der SA.- Brigade 4711 durch den Obergruppenhauptnebenführer Staatsrat Dr. h. c. Reidistagsabgeordneten Oberhilfsadjutanten Hans Mxzrweskyskewicz? Die war erst nächsten Sonntag, und der Artikel mußte bis dahin aufgespart werden. Die Judenfrage? Der ,, Mittelstädter Generalanzeiger" hatte immerhin noch drei jüdische Inserenten. Der Korruptionsprozeß gegen den früheren Konsum- Leiter? Das wußten die Leser ohne ihn und seinen Artikel besser. Deut sche Literatur ? Nach dem neuesten Erlaß über nationalsozialistisches Schrifttum war das zu gewagt.
Der Hauptschriftleiter betrachtete versunken die inzwischen fast abgeknapperte Kuppe des Federhalters. Ein Thema, ein Königreich für ein Thema! dachte er, verscheuchte aber sofort diesen undeutschen, weil von einem englischen Dramatiker stammenden Gedanken. Wie wäre es mit dem Frühling, dem lieben, altbewährten? Ha, ein Gedanke! Und frisch, froh und freudig ergriff Dr. Krummberg einen weißen Bogen und hub an:
Deutscher Frühling Betrachtungen von Hauptschriftleiter
Dr. Johann Krummberg
Wieder einmal bricht die Natur mächtig hindurch durch.. Er strich den Satz. Siegreiche Hindurchbrüche gab es nur bei der Arbeitsschlacht. Etwas anderes:
,, Ein mächtiges Sausen und Brausen geht durch Deutsch land ..."
Nein, das ging auch nicht. Wie leicht konnte das als Anspielung auf die vielen Führerreden aufgefaßt werden. Die lieben Kollegen vom offiziellen Parteiblatt ,, Siegbann" warteten sowieso nur auf eine Gelegenheit, na, und überhaupt.
Wie alljährlich, so ist auch jetzt wieder..."
Weg damit! Immer wieder kamen ihm diese längst überWunden geglaubten liberalistischen Gedanken. Alljährlich? Ein deutscher Mann begann seine Zeitrechnung mit dem 30. Januar, und vorher hatte es gefälligst keinen deutschen Frübling gegeben zu haben.
Vielleicht eine etwas persönlichere Note?
" Als ich jüngst einsam durch den Mittelstädter Wald ging..."
Ja, und morgen kommen zwei Herren von der Gestapo und fragen, was ich alleine im Wald zu suchen hätte, und ob ich etwa Waffen oder gar Flugblätter... Auf keinen Fall! Weg mit dem Wald! Aber die Natur? Wie wäre es mit.. ,, Der erste Schmetterling kam heute morgen auf unseren Redaktionschreibtisch geflogen..."
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Samstag, den 19. Mai 1934
Zum K...! Erst vorige Woche hat das Propagandaministerium mitgeteilt, daß vorläufig nichts über deutsche Fliegerei gebracht werden soll.
Ueberhaupt, wo sind denn die letzten Anweisungen des Ministeriums?
Dr. Krummberg begann in dem Papierwust herumzuwüh len, der seinen Schreibtisch bedeckte.
,, Die Befreiung Mittelstadts von der roten Mordpest. Von SA.- Mann Baldur Gerwin." Richtig, das mußte auch noch gebracht werden.
,, Frühlingsweben. Gedicht von Frieda Muskopf.
0! Wie durchzuckt mich wonniglich
Der erste heiße Sonnenstrahl..."
Aha, hier:
,, Anweisungen an die deutsche Presse. 23. 4. 1934. Die Verdauung des Herrn Reichspräsidenten erfreut sich bester Gesundheit; Betrachtungen über das baldige Ableben des alten Herrn sind daher hinfällig.
Es ist untunlich, über die Dollarinflation zu berichten, um im Leser nicht unerwünschte Vergleiche heraufzubeschwören. Es wird nochmals darauf hingewiesen, daß wir mit Polen befreundet sind. Ausdrücke wie ,, polnische Wirtschaft" haben daher zu unterbleiben.
Eine süddeutsche Zeitung brachte kürzlich in einem Speisezettel den Ausdruck ,, Frickadellen". Dieser Ausdruck ist durch ein anderes Wort zu ersetzen, da solche Ausdrücke mit Hinweis auf den Namen des Reichsinnenministers Dr. Frick ausdrücklich unterbleiben sollen.
Führer Interviews mit ausländischen Korrespondenten dürfen nicht veröffentlicht werden; sie sind lediglich für die öffentliche Meinung des Auslands bestimmt.
General Göring wünscht nicht, daß seine neue Uniform in der Presse zu ausführlich besprochen wird; ein kurzer Hinweis, ungefähr folgender Art, genügt: ,, Ministerpräsident General Hermann Göring erschien zum ersten Mal in seiner neuen Uniform als Tierschutzverbandsehrenvorsitzender; er trug ein Lammfell über der rechten Schulter, das durch 26 goldene Schnüre gehalten wurde."
Dr. Krummberg legte das Blatt seufzend beiseite und wischte sich den Schweiß von der Stirne. Dann begann er eifrig zu schreiben.
Am Sonntag brachte der Mittelstädter Generalanzeiger" über dem Leitartikel folgende Notiz:
Um Irrtümern vorzubeugen, machen wir darauf aufmerksam, daß in dem nachfolgenden Artikel lediglich das gemeint wird, was dasteht. Es handelt sich, wie unsere Leser bei aufmerksamer Lektüre feststellen werden, um eine rein naturwissenschaftliche Plauderei unseres Chefredakteurs, der sich in seinen Mußestunden sehr viel mit solchen Problemen beschäftigt.
Die großen Männer des Nationalsozialismus sind ob ihres weichen Herzens in aller Welt berühmt. Ueberall sieht man Bilder, die den Führer- er hat leider wegen allzu vieler Geschäfte keine Zeit, das völkische Gebot von der Massenfortpflanzung der Edelrasse" in die Wirklichkeit umzusetzen
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wenigstens als den Freund fremder Kinder zeigen, wie er lächelnden Mundes ihre Gedichtchen anhört oder Blumen von ihnen entgegennimmt: das echte deutsche Gemüt, so treu und warm, wie es jedermann am Führer keunt. Hält Adolf Hitler es auch mit den Kindern, so hat Hermann Göring sein weiches Herz mehr den Tieren zugewendet. Scharfe Strafen gegen Tierquäler, strenge Einschränkung der Vivisektion, wildfreundliche Regelung der Jagd selbst als Spielgefährten hat er standesgemäß einen jungen Löwen , mit dem Millionen Bilder ihn freundlich lächelnd der Welt zeigen.
Und nun ist ihm eine verdiente Ehrung zuteil geworden. Der französische Graf d'Aix, Generalsekretär des Internationalen Jagdrates, hat in Begleitung des deutschen Herzogs von Ratibor , des Vizepräsidenten dieses Rates, dem preußischen Ministerpräsidenten in seiner Eigenschaft als Reichsjägermeister in besonderer Würdigung des neuen preußischen Jagdgesetzes einen künstlerisch ausgeführten Ehrenwimpel überreicht und ihm die Ernennung zum Mitglied des Jagdrats mitgeteilt. Da wird sich Göring also einmal in der rechten feudalen, wenn auch internationalen, Gesellschaft befinden es wird ja wohl auch nicht mehr lange dauern, bis der neugermanische Adel, der sich im künftigen Deutschorden zusammenfindet, zu den standesgemäßen Einkünften auch noch die entsprechenden Titel tragen wird, so daß er unter Grafen und Herzogen nicht mehr als schäbiger Bürgerlicher wird auftreten müssen, zu
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Im Rahmen der nationalsozialistischen Volkswerdung geschehen Zeichen und Wunder. Das hat sich in den jüngsten Tagen wieder einmal deutlich gezeigt. Seit mehr als hundertdreißig Jahren hat sich der Deutsche in einem geisteshistorischen Irrtum befunden. Dieser Irrtum betraf das folgende Zitat:
.., Einstweilen, bis den Bau der Welt Philosophie zusammenhält,
Erhält sie das Getriebe
Durch Hunger und durch Liebe."
Diese Verse wurden bis zum Siege der nationalen RevoIntion dem bekannten schwäbischen Dichter Friedrich Schiller zugeschrieben. Dem Himmel sei Lob, daß diese Geschichtsklitterung endgültig beseitigt werden konnte.
Die Redaktion.
mal er das feudale Amt des Reichsjägermeisters( wer hat ihm denn das verliehen? wie sieht die Uniform aus?) bekleidet. Aber wir denken da immer etwas anderes.
Herr Göring hat in seiner Dankansprache sich für eine Gemeinschaft der Völker-im Jagdwesen und für Ersetzung der materialistischen Auffassung der Jagd durch eine ideelle ausgesprochen. Das Ziel sei, die freilebende Tierwelt zu schützen und so auch den Menschen vom Schraubstock wie vom Schreibtisch die lebende Seele der Heimat zu erhalten.
Wenn auch nicht gut einzusehen ist, wie gerade die Jagd, d. h. das Töten der Tiere, ihrer Erhaltung dienen soll, so kann doch zugegeben werden, daß es eine Art der Jagd gibt, die schonender und minder scheußlich ist als etwa die Massenmetzeleien, wie sie Wilhelm II. geliebt und in Denkseinen gefeiert hat. Aber ist gerade Herr Göring berufen, sich hier der Welt als Tierfreund vorzustellen?
Gehört zoologis nicht auch die Spezies homo sapiens, der vernunftbegabte Mensch, zum Tiergeschlecht? Und ist es wirklich waidmännisch gedacht, zwar Hirschen und Rehen rasch und ohne unnötige Qualen das Leben zu rauben, aber Menschen, ihre zweibeinigen Mitgeschöpfe, in langen, ausgesucht grausamen Qualen zu Tode zu foltern? Weidmännisch zwar den trächtigen Hindinnen und Sauen das Leben zu gönnen und die junge Brut zu schonen, aber die Frauen und Kinder verhaßter Freiheitskämpfer oder unerwünschten
Blutes des Lebensunterhalts zu berauben, sie allen seelischen Qualen zu überliefern, ihnen die Freiheit zu nehmen, und wie alle die Bosheiten heißen mögen, die verworfene Feiglinge über wehrlose Opfer zu verhängen vermögen?
Ist das wirklich waidmännisch, Herr Reichsjägermeister und internationaler feudaler Jagdwart?
Einem gewissen Herrn Curt Hogel ist die Entdeckung gelungen, daß diese Worte von keinem anderen stammen als dem Juden Karl Marx ! Er hat am 1. Mai 1934 in den gleichgeschalteten Zeitungen einen Artikel veröffentlicht, der ,, Arbeit als Staatsidee" überschrieben ist. In diesem Artikel heißt es:
ララ
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Der theoretische Materialismus lehrte, es kämie nur auf die Verteilung des Gewinnes an(!), stellte somit nicht die Arbeit als sittlich gestaltende Macht, sondern die Habgier in den Mittelpunkt des Denken: Hunger und sogenannte Liebe regierten nach Marx die Welt! Damit waren die Dinge glatt auf den Kopf gestellt!" Glatt auf den Kopf gestellt. Jeder Tag lehrt, wie zutreffend das ist. Der neudeutsche Idealismus hat den Hunger endlich erledigt. Er war ein Bestandteil des vierzehnjährigen Verrats, der nun glücklich hinter uns liegt,
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In den Konzentrationslagern
Kaum Erreichbare, ihr!
In den Konzentrationslagern begraben, Abgeschnitten von jedem menschlichen Wort, Unterworfen den Mißhandlungen, Niedergeknüppelte, aber Nicht Widerlegte! Verschwundene, aber
Nicht Vergessene!
Hören wir von euch, so hören wir: ihr seid Unverbesserbar.
Unbelehrbar, heißt es,
seid ihr der proletarischen Sache ergeben, Unabbringbar davon, daß es immer noch
Zweierlei Menschen gibt:
Ausbeuter und Ausgebeutete,
Und daß nur der Klassenkampf
Die Menschenmassen der Städte und des Landes aus dem Elend befreien kann. Nicht durch Stockschläge,
noch durch Aufhängen, hören wir, seid ihr So weit zu bringen, zu sagen, daß Zwei mal zwei fünf ist.
Also seid ihr Verschwunden, aber Nicht vergessen, Niedergeknüppelt, aber
Nicht widerlegt.
Zusammen mit allen unverbesserbar
Weiterkämpfenden,
Unbelehrbar auf der Wahrheit Beharrenden.
Aus ,, Lieder, Gedichte und Chöre".
Dietwarte und Ehrenfeldhüter
Die nationale Revolution tobt sich, da es ihr versagt ist, auf wichtigeren Gebieten nennenswerte Erfolge zu erringen, vorläufig auf dem Gebiete der menschlichen Eitelkeit aus. In einer parteiamtlichen Erläuterung in Nr. 117 der Braunschweigischen Landeszeitung" heißt es:
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,, Das Wort Diet wart enthält in seinem ersten Bestandteil das Wort„, diot". Es ist dieselbe Wurzel, aus der diutuisk, diotisk( Idiot, idiotisch, die Redaktion) und damit unser heutiges..deutsch " erwachsen ist. Es bedeutet., Volk" und kehrt in den Namen Dietrich, Dietlied, Dietbold, Dietherr u. a. wieder.
Ein Dietwart hat die Aufgabe, Hüter und Förderer aller deutschen Volkstumswerte, deutscher Sitte und Art sowie Erzieher zum Volkstum und Schützer einer bewußt deutschen Lebensführung der ihm anvertrauten Mitglieder zu sein. Neben der körperlichen Ausbildung, die die Fachwarte leiten, hat der Dietwart die Aufgabe, die geistige Erziehung im nationalsozialistischen Sinne zu fördern.
Der erst kürzlich herausgegebene Erlaß des Stellvertreters des Führers, Reichsminister Rudolf Heß , legt den Dietwarten die Pflicht auf, die nationalsozialistische Schulung der Turner und Sportler vor allem auf dem Gebiete der Rassenpflege und Volkstumskunde zu leiten in engstem Zusammenhang mit den parteiamtlichen Stellen, die sich für die Pflege der deutschen Kulturwerte einsetzen.
Wer kann Dietwart sein? Männer, die den Nationalsozialismus erlebt haben und in treuer Gefolgschaft zum Führer stehen. Es ist nicht unbedingt nötig, daß der Dietwart nun ein sehr gelehrter Mann" ist, womit aber nicht gesagt sein soll, daß er das geistige Rüstzeug nicht zu haben braucht usw."
Nun wissen wir also, was ein Dietwart ist. Aber nun zu den Ehrenfeldhütern. Ueber die andere neue Gattung der Untertanen des ,, dritten Reiches" wird aus Peine bei Han nover gemeldet:
,, Zu Ehrenfeldhütern wurden die Landwirte A. Bosse, Robert Thielmann und August Busse sowie der Arbeiter Karl Großkopf ernannt. Sie haben die Rechte und Pflichten eines Polizeibeamten und sind zum Waffengebrauch berechtigt."
Es kann sich bei der Berufung dieser Ehrenfeldhüter nur um eine Ehrung der Berufenen handeln. Denn bekanntlich hungert ja in Deutschland niemand mehr. Wer sollte also Feldfrüchte stehlen?
Straffer formuliert
„ Vertilgung der Spießer über Dreißig..."
Erst kürzlich hat die Führerin der nationalsozialistischen Frauenschaft Lydia Gottschewski , die den Weltkrieg als Kind mitgemacht hat, in einer Rede den Frauen der Kriegsgenerationen vorgeworfen, versagt zu haben, was in der deutschen Oeffentlichkeit große Erregung hervorgerufen hatte. Nun folgt ein ähnlicher Ausfall gegen die Generation, die über dreißig Jahre alt ist. Das Jugendblatt ,, Der neue Weg" schreibt in bezug auf die Hitler- Jugend : ,, Jeder unsrer Jungs, auch der lette, jüngste Pimpf draußem auf dem Lande weiß, worum es geht. Und wenn einmal ein Redner gesagt hat: , Diese Generation muß erst unter dem Rasen liegen, ehe der Nationalsozialismus erfüllt wird', so wollen wir, die deutsche Jugend, diesen Satz ein wenig straffer formulieren: Die Spießer zwischen 30 und x- zig Jahren müssen samt ihren Plüschsofas und Schlafmützen von dieser Erde vertilgt sein, ehe die Jugend ungestört ihren Kampf zum guten Ende bringen kann.*"
Im Rahmen der Arbeitsschlacht sollen an der Alster vier neue Denkmäler errichtet werden.
Eins für Adolf, den Mächtigen, eins für Hermann, den Prächtigen, eins für Joseph, den Schmächtigen, eins für Ernst, den Verdächtigen.