«Deutsche Freiheit", Nr. 114 Das bume Matt Samstag, IS. Mai 1SS4 Sei; und Ven;in Dank dem Anto brechen, wenn das Wetter schön ist, die ambulanten Kolonnen auf und bevölkern die Hotels der kleinen Städte bis hinunter zu den ländlichen Herbergen. Tank dem Auto herrscht selbst in den bisher wildesten Ge- genden eine entzückende Zivilisation. Zu den Maschinen, die einst die Schafhirten gleich Ungeheuern geschreckt hatten, sieht man jetzt ländliche Gaffer herbeiströmen, und so man- cher noch etwas unbeholfene Chauffeur, der verzweifelt nach der Ursache einer Panne sucht,' nimmt sehr gern die Hilfe eines der ländlichen Fachleute in Anspruch. Die kleinen Gänsehirten haben nur die eine Sehnsucht, die Fahrschule besuchen zu dürfen, und der alte Hirt in sei- nem weißen Kittel träumt davon, sich in seine Hütte einen Motor einbauen zu lassen. Aber ich will heute nicht lange über das schöne Thema vom Auto, das die Zivilisation verbreitet, sprechen; das könnte man nur in Alexandrien tun. Und das ist eine Aus- drucksweise, deren ich mich nur ausnahmsweise zu bedienen pflege. Das Auto, das uns nach den Loireschlössern entführte, hatte sechs Personen„an Bord"..., wir haben drei Tage zusammen gelebt, und wir kennen einander nun fast ebenso gut, als hätten wir sechs Monate gemeinsam in einer mit Eisbärfcllen verkleideten Bretterhütte überwintert. Bis dahin wußten die sechs Reisenben voneinander gar nichts, obzwar sie einander regelmäßig in Gesellschaft begeg- net waren. Wenn man zusammen eine Stunde in einem Salon oder zwei Stunden bei Tisch verbringt, spielt man einander eine Komödie vor und übernimmt eine Rolle, die dreimal vierundzwanzig Stunden durchzuhalten beinahe un- möglich ist. Da war vor allem der Chauffeur, dem ich schon wiederholt am Wagen meines Freundes G. D. Gedion begegnet war. Dieser Chauffeur machte mir stets den Eindruck eines un- tadeligen, gefügigen Dieners... Heute weiß ich, daß es keinen eigensinnigeren Menschen gibt. Sein„Ja. gnädiger Herr!", das ich häufig aus seinem Mund gehört hatte und das mir stets als der Ausdruck respektvoller Unterordnung des gehorsamen Dieners erschienen war, sein„Ja, gnädiger Herr...", hatte plötzlich seine wahre Bedeutung bekommen. Ja, gnädiger Herr, du bist mein Herr, du zahlst mir monatlich soundsoviel und glaubst, mir dafür deinen Wil- len aufzwingen zu können. Ich tue dir deinen Gefallen und sage:„Ja, gnädiger Herr.. aber ich wahre meine Würde, indem ich nach eigenem Ermessen handle. Und mein Ermes- sen ist das Richtige, denn du bist nur der Herr, ich aber bin der Fachmann. ... Du sagst zu mir: am Ende dieser Straße biegen Sie nach links ab. Ich nicke und biege nach rechts ab. Ich kenne den Weg nicht. Aber es paßt mir nicht, mich deinen Anord- nungen zu fügen, die voraussichtlich falsch sind. Du läßt mich gewähren, weil ich dich einschüchtere und weil du Angst hast, dich zu irren, du, der Herr und meine Verachtung einzu- heimsen... Ja, gnädiger Herr! Der Chauffeur ist eine Nummer für sich, aber sein Herr ist auch nicht zu verachten. Ein großer blonder Bursche von etwa dreißig Jahren, der sein Leben genossen hat: Frauengeschichten, hohes Spiel usw. Er iß dabei noch ganz gut davongekommen, in dem Sinne nämlich, daß sein sehr großes Vermögen trotzdem beinahe unangetastet blieb. Er ist ein außerordentlich liebenswür- diger, großzügiger Mensch. Im Restaurant, bei dem so heik- len Punkt des Zahlens, lernt man einen Menschen kennen. Nun! Und anläßlich unserer letzten gemeinsamen Auto- tour hak dieser doch gewiß großzügige, ja beinahe leicht- sinnige Mensch plötzlich eine ganz merkwürdige Art von Geiz entwickelt. Ja, er ist in einem Punkte geizig. Wir wuß- ten doch nicht... und konnten auch nicht ahnen... Er Von Tristan Vernarb logierte uns, solange es irgend anging, in die besten Hotels ein. ließ die ältesten Weine aus dem Keller bringen und zog jeden Augenblick eine neue Schachtel mit Riesenzigarren aus seinem Koffer, Zigarren, wie man sie nur in Paris be- kommt. Aber seine schwache Seite vermochte er uns aus die Dauer nicht zu verbergen: wenn es sich um Benzin handelt, ist mit ihm nicht zu reden. In Suresnes ließ er viel zu knapp einfüllen und über- wachte die Zeremonie strengstens, damit kein Tropfen ver- loren ging. Und vier Stunden später standen wir auf freiem Felde ohne Benzin da. Glücklicherweise kamen nach zehn Minuten andere Automobilisten, die uns mit einigen Litern aushalfen. Sie hätten uns auch noch mehr überlasten, aber G. D. Gedeon lehnte ab, weil es etwas teurer war, das heißt fünfzehn bis zwanzig Centimes mehr kostete, als er im nächsten Dorf zu bezahlen hoffte. An der Raststation angelangt, kommt der Wagen sofort in die Garage, damit sich nur ja keiner von den Gästen einfallen läßt, noch eine Fahrt in die Stadt zu machen. G. D. Gedeon ist ein ganz unwahrscheinliches, unerklär- liches Wesen. Aber er existiert. Und es gibt viele Menschen seiner Art, die nur aus einem ganz speziellen Gebiet geizig sind. Ich kenne einen sehr netten Herrn, der sich nicht eher entschließen kann, sich einen neuen Hut zu kaufen, als bis sein grauer, steifer Filz ein Gegenstand des Grauens für seine ganze Umgebung geworden ist. Ich kenne auch eine alte Dame, die in einem sehr elegan- ten kleinen Palais wohnt und vier oder fünf Pferde in ihrem Stall stehen hat. Und diese Pferde läßt sie so wenig wie möglich auslaufen, aus Angst, sie zu ermüden, oder auch aus Furcht, sie könnten zu viel fressen, um ihre Kräfte zu ersetzen. Diese alte Dame, in anderer Hinsicht sehr groß- zügig, verbringt ihre Zeit in der Untergrundbahn und im- mer nur zweiter Klasse. Nicht, daß es ihr etwa ein Bergnü- gen macht, denn sie erträgt die Hitze in der Metro sehr schlecht und das viele Stiegensteigen wird ihr unendlich schwer. Alle diese Leute sind weder manisch noch sind sie Narren. Sie haben nur eine ganz eigenartige Bewertung der Dinge in dieser Welt. Der Herr mit dem alten Hut findet, daß man täglich dreißig bis vierzig Franken für eine Mahlzeit aus- geben kann, aber das Vergnügen, einen anständigen Hut aus dem Kopf zu haben,.nicht fünf Franken wert sei. Sie sind keineswegs abnormal und unterscheiden sich von uns in kei- ner Weise. Sie rechnen nur anders als wir, das ist alles. (Autorisierte Uebersetzung aus dem Französischen.) s>ohn eines Fords als Fandarbeiter Der Sohn eines englischen Lords älteren Adels, Lord Raas, hat sich im Alter von 44 Jahren entschlossen, einfacher Landarbeiter zu werden. Er hat einen Arbeitsplatz in Croyden, nicht weit von London mit einem Wochenlohn von zwei Pfund und fünf Schilling gefunden. Schon seit Iah- ren war es der Traum dieses Mannes, seine Schafsenskraft in den Dienst der„wahren Gesellschaft" zu stellen, da er sich aus der hohen Gesellschaft, der er anzuhören die Ehre hat, absolut nichts macht. Nach seinen Aussagen gefällt ihm seine neue Arbeit außerordentlich. Da er lange Jahre in den Ko- lonien gearbeitet hat, macht ihm körperliche Anstrengung nichts aus, trotzdem der Beruf eines Landarbeiters zu den körperlich anstrengendsten gehört. Mit seinen neuen Arbeits- kollegen steht er auf bestem Fuße. Er hatte zuerst einiges Mißtrauen seiner Kollegen zu überwinden, was ihm aber vollkommen gelungen ist.„Mit 44 Jahren habe ich endlich die Menschen gesunden, zu denen ich gehöre," sagt der Lord , „es sind prächtige, aufrichtige Menschen". Das Fied von Äbels Tod Bon Hermann Hesse Tot in den Gräsern liegt Abel , Bruder Kain ist entflohn. Ein Vogel taucht seinen Schnabel Ins Blut, schrickt auf, fliegt davon. Der Vogel flieht durch die ganze Welt, Sein Flug ist scheu, seine Stimme gellt. Er klagt unendliche Klage: Um den schönen Abel und seinen Todesschmerz. Um den finstern Kain und seine Seelennot, Um seine eigenen jungen Tage. Bald schießt ihm Kain seinen Pfeil ins Herz, Bald wird er Streit und Krieg nd Tod In alle Hütten und Städte tragen, Wird sich Feinde schaffen und sie erschlagen. Wird sie und sich selber verzweifelt hassen. Wird sie und sich selber in allen Gassen Verfolgen und quälen bis zur nächsten Weltennacht, Bis Kain endlich sich selber umgebracht. Der Vogel fliegt, aus seinem blutigen Schnabel Schreit Todesktage über die ganze Welt. Es hört ihn Kain, es hört ihn die Mutter von Abel . Es hören ihn Tausend unterm Himmelszelt. Zehntausend aber und mehr, die hören ihn nicht, Sie n ollen nichts wissen von Abels Tod, Nichts von Kain und seiner Seelennot, N:';ts vom Blut, das aus f- viel Wunden bricht Nichts vom Krieg, der noch gestern gewesen. Und den ihre Frauen jetzt in Romanen lesen. Für sie alle, die Satten und Frohen, Die Starken und die Rohen, Gibt es nicht Kain noch Abel , nicht Tod noch Leid, Auch keinen Krieg, höchstens eine„große Zeit". Und wenn der klagende Bogel vorüberfliegt, Dann nennen sie ihn Schwarzseher und Pessimist (Was er ja vielleicht auch ist). Fühlen sich stark und unbesiegt. Und werken nach dem Bogel mit Steinen Oder machen Musik, daß man ihn nicht mehr hört Weil seine traurige Stimme sie stört. Der Vogel mit seinem kleinen Blutstropfen am Schnabel fliegt von Ort zu Ort, Seine Klage um Abel tönt fort und fort. Kleine Geschichten Hans T h o m a war. wie fast alle wirklichen großen Künstler, sehr bescheiden und mit seinem Können im Gegen- satz zu seinen vielen Bewunderern nie zufrieden. Einmal malte er einem seiner Schüler in dessen Stilleben etwas hinein., „Diese Art Malerei ist mir zu trocken," erwiderte der Schüler gekränkten ToneS,„ich möchte malen wie Rubens," setzte er überheblich hinzu. Thoma sah den jungen Menschen mit einem langen Blick an.„Das möchte ich auch," entgegnete er und wandte sich einem anderen zu. * In London wurde ein Verein gegründet, dessen Mitglieder das Berteilen von Trinkgeldern abschworen. Geschäfts- reisender Fox aus Aberdeen wurde ebenfalls aufgefordert, als Mitglied einzutreten.„Wie hoch ist der jährliche Bei- trag?" „Zwei Schilling, Mr. Fox." „Das ist nicht wirtschaftlich." erwiderte der schottische Gent- leman,„ich glaube, ich komme besser fort, wenn ich weiter Trinkgelder verteile!" Der Kuß im Tunnel Von Karl Frey Der Zug keucht den Apennin hinauf. Zwischen Bologna und Florenz überwindet die Bahn in unzähligen Kehren das Gebirge, hoch über der toskanischen Ebene endet der letzte Tunnel, ein unvergleichlicher Blick bietet sich den Reisenden. In einem Abteil erster Klasse befinden sich drei Personen: eine Dame und zwei Herren. Die Dame kommt aus Deutschland , die beiden verren sind Italiener und sind in Bologna zugestiegen. Der eine sitzt der Dame gegenüber am Fensterplatz, der andere an der Tür. Beide scheinen sich nicht zu kennen. Der Herr der Dame gegenüber kommt bald ins Gespräch mit ihr. Er spricht leidlich deutsch, erkundigt sich nach ihrem Reiseziel, erfährt, daß sie nach Rom will; beginnt von Rom zu erzählen, dann von der Gegend, die sie durchfahren, von Toskana und von Florenz . Es ist ein angeregtes Reise- gespräch, der Herr ist liebenswürdig und zuvorkommend, die Dame ist nach der langen Reise froh über die neue Bekannt- schaft, der Herr macht einen kultivierten und gepflegten Ein- druck, er sieht zwar etwas durchschnittlich aus, aber alles in allem gefällt er ihr recht gut. Als der Zug in Pracchia an- kommt, auf der Paßhöhe, ist man bereits gut Freund, man benutzt den kurzen Aufenthalt, um auszusteigen und Lust zu schöpfen, geht gemeinsam, wie alte Bekannte, über den Bahnsteig, das Gespräch wird intimer, die Dame duldet es, baß der Herr sie beim Schlendern unterfaßt. Als man den Wagen wieber besteigt, ist man befreundet. Der andere Herr scheint sich um das Paar nicht zu kümmern, sitzt schläfrig in seiner Ecke: blättert ab und zu in den Zeitungen, ist ein angenehmer Coupsgenosse, der einfach nicht vorhanden ist. Die Dame sieht es nicht ungern, als der Herr jetzt neben ihr Platz nimmt, sie erlaubt eS ihm, mit ihrer Hand zu spielen, und ist weder entsetzt noch erstaunt, als er sie in dem langen letzten Kehrtunnel in die Arme nimmt und küßt. Sie erwidert seine Küsse, und bedauert es lebhaft, als Licht einfällt, der Tunnel zu Ende geht, und das kleine Reiseabenteuer sein Ende nimmt. Dek Herr bedauert das auch seinerseits, bestürmt sie, mit ihm in Florenz auszusteigen, wo er ansässig ist. Sie muß leider ablehnen, sie trifft am nächsten Tage Freunde in Rom , mit denen sie die Reise fortsetzen will. Aber sie würde es gerne sehen, wenn er sie bis Rom begleite, sie hätten dann den Abend für einander und die Nacht... Man merkt, sie ist weltgewandt, einem Abenteuer nicht abgeneigt, wie sie ihm auch gerne die Hände überläßt, die er immer wieder mit Küssen bedeckt. Florenz kommt in Sicht, sie sind noch immer beim gleichen Thema, der Herr scheint unentschlossen, sie verlegt sich aufs Necken, seine Geliebte erwarte ihn wohl, oder gar seine Frau, er tut. als sei er in seiner Mannesehre getroffen, erklärt ihr bis ans Ende der Welt folgen zu wollen, be- stimmt, sagt er mit plötzlich endgültigem Beschluß, wolle er sie bis Rom begleiten. Der Zug hat eine Viertelstunde Aufenthalt in Florenz , Zeit genug, um schnell zu tele- sonieren und die geschäftliche Konferenz abzusagen, zu der er eigentlich dringend hinmllsse, aber was sind alle Geschäfte gegen die Liebe, es sei zwar etwas unzeitgemäß jugendlich, er sei doch schon ein älterer Herr—(die Dame wendet sich selbstverständlich gegen diese ganz falsche Behauptung), aber man müsse seinen Gefühlen folgen, nicht seinem Verstände, und sein Gefühl sage ihm. er solle bei ihr bleiben, abc-r nicht nur bis morgen, nein, er würbe sie nie mehr verlassen.... Die Dame lächelt über so viel Temperament und Un- gestüm, redet ihn mit„caro mio" an sdas einzige Wort, das sie italienisch kann), er erwidert mit„carisstma", und als der Zug in Florenz einfährt, ist alles beschlossen und in bestem Einvernehmen. Auch der andere Herr erhebt sich, als der Zug einfährt, von seinem Platz, grüßt höflich, nimmt seinen Suit-Case und verschwindet. Der Herr setzt seinen Hut auf, geht auf den Gang, kommt zurück, holt seine Mappe, sein einziges Gepäckstück— er wisse die Telefonnummer nicht genau, sie sei bei seinen Akten— steigt aus, winkt vom Bahnsteig noch einmal herüber, laust zu dem Ausgang, er sei gleich wieder da. Die Dame sieht sich das Treiben auf dem Bahnsteig an, ist gutgelaunt, träumt von dem Abenteuer, das vor ihr steht, hoffentlich kommt niemand ins Abteil, damit sie un- gestört sind, fünf Minuten vergehen, zehn Minuten, sie be- ginnt Ausschau zu halten, jetzt muß er gleich kommen, elf Minuten, zwölf, dreizehn, jetzt muß er gleich herausstürmen, man muß sich etwas zurechtmachen. Tie greift aus den Sitz, da muß doch die Tasche liegen, wo ist denn die Tasche hin, ist sie vielleicht hinter die Polster gerutscht bei dem Kuß im Tunnel? Sie greift hinter das Polster, vierzehn Mi- nuten, Einstetgen, bitte. Hinter dem Polster liegt nichts. Sie blickt unter die Bank, zu dumm, daß man sich nicht mehr in Ordnung bringen kann, bevor er kommt. Auch unter der Bank ist nichts, ein Pfiff, Abfahrt! Sie stürzt zum Fenster, sie sieht ihn nicht über den Bahnsteig lausen, sie stürzt auf den Gang, der Gang ist leer, sie stürzt zurück ins Coups, durchwühlt nochmals die Polster, nichts, greift unter die Bänke, nichts ihre Tasche, mit Geld, Paß, Fahrkarte und einer Perlenkette ist und bleibt verschwunden. Sie wirft sich in ihre Ecke, sie ist fassungslos, wie kann man eine Tasche entwenden, während man eine Frau in den Armen hält. Plötzlich fällt ihr der andere Reisende ein. Plötzlich fällt ihr ein, daß die beiden Herren zugleich das Abteil betreten hatten. Und sie erinnert sich ganz deutlich, daß sie einen Blick gewechselt haben, bevor sie Platz nahmen.— Und nun muß sie doch über den Kuß im Tunnel weinen, ob- wohl sie eine welterfahrene Dame ist, und Abenteuern nicht abgeneigt.
Ausgabe
2 (19.5.1934) 114
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