Nr. 149— 2. Jahrgang
Einzige unabhängige Tageszeitung Veutschiands
Saarbrücken, Sonntag Montag, 1.2. Juli 1934 Chefredakteur: M.Braun
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Ans dem Inha l! JzaHsfeckcise in.£cndca Seite 2 Sozialistisch^kamanistische tuth&UsfcOHt? Seite 3 JCuituekampfUief. dee deutschen^Bischöfe Seite 7 JlocseueCt gegen ifchacht Seite 8
England fiir Papen Hoffnungen auf den Vizekanzler und den Verrat Hitlers an seinen««alten Kämpfern 11
Dr. 0. G. London, Ende Juni. „German ? i« newg"— Deutschland , das heißt Neuigkeiten Selten traf diese Parole aus die enqlische Presse so zu wie heute. Sollte jemand den Versuch machen, alle Artikel und Berichte der ernsten englischen Zeitungen wie„Times", „Manchester Guardian",„Daily Telegraph " und„Morning Post" auszuschneiden, die irgendwie auf Deutschland Bezug haben, so bliebe in diesen Tagen nicht mehr viel von den politischen Seiten dieser Zeitungen übrig. Aber selbst die Sensationsblätter wie Beaverbrocks„Daily Erpreß" und „Evening Standard", wie der„Daily Herald" und„News Chronicle" bringen neben so welterschütternden Ereignissen wie dem englisch -australischen Cricket-Match. dem aufregenden Leichcnfund im Koffer in der Gepäckaufbewahrungsstelle und dem Ehescheidungsprozeß der Tänzerin Tilly Losch mit allen Einzelheiten, soweit man in England darüber schreiben darf, immer wieder Schlagzeilen über Deutschland . Nur die faschistische Rothermerepresse schweigt eisern— und auch die- ses Schweigen spricht Bände. Popens Marburger Rede hat hier wie eine Bombe ein- geschlagen. Sie bestätigte alle Ahnungen und Gerüchte: es ist etwas nicht in Ordnung mit dem Naziregime. Schon Hitlers Reife zu Mussolini hat mau hier als einen Verzweiflungsakt aufgefaßt. Und nun, kaum ist Hitler zurück, die Papen-Rede. Und nicht nur die Rede, son- dern fast noch wichtiger, das Verbot Goebbels , über liefe Rede zu berichten, die scharfe Gegenrede von Goeb- bels, der i«cht minder scharfe Gegenartikel von Rosen- b e r g im„Völkischen Beobachter". Englische Blätter be- richteten von einem Glückwunschtelegramm Hindenburgs an Papen, von einem Rücktrittsangebot Popens , das von Hitler abgelehnt wurde. Wilhelm in Doorn gibt dem„Daily Herald" ein Interview, nicht direkt aber durch einen Hof- beamten, worin er von seiner baldigen Rückkehr spricht. Der ehemalige Herzog von Braunschweig , Wilhelms Schwiegersohn, der über enge Beziehungen zum britischen Hof verfügt, Ruprecht von Bayern und Brüning find in London . Was geht da vor? Die englische Presse— die kleinsten Provinzblättchen brin- gen Leitartikel über diese Frage— sieht die Gruppenverteilung einigermaßen klar. Auf der einen Seite die Jun- ker, die für ihren Besitz fürchten, die Großindu- st r t e l l e n, denen die Wirtschaftspolitik zu chaotisch ist, die Bürokratie, die Kirchen, der Reichspräsident, der in Neudeck wieder stark unter Junkereinfluß steht, und als das große Fragezeichen die Reichswehr . Auf der anderen Seite die proletarischen Elemente der S A., die Nazijugend und die Demagogen, die diese Gruppen führen und sich ihrer bedienen, die Goebbels , Ley, Schirach, Streicher. Röhm. Ob Popens Borstoß einem festen Plan zu- folge erfolgte, ob es sich nur um einen Vorstoß handclt, der
die Widerstandskraft des Gegners erkunden soll, ob Papen verfrüht losschlug, aus Furcht, Hindenburg könne bald ster- ben, das weiß man nicht. Hier hat die Kombination freien Spielraum. Wird die Reichswehr eine offene Machtergreifung der Konservativen mit oder ohne Hitler unterstützen, oder wird sie nach wie vor sich fernhalten und abwarten? DaS ist die Frage, die alle englischen Zeitungen sich stellen und die sie vorsichtig, wie sie sind, nicht beantworten. Sie alle nehmen an, daß Hitler versuchen wirb, die Gegensätze auszugleichen, sie glauben sogar, daß es ihm zeitweise gelingen mag, aber sie sehen doch klar, daß auf die Dauer Worte nichts besagen, sondern daß beide Gruppen Taten sehen wollen. Kann Hitler die gewünschte Ware liesern? Und wenn nicht, was bei der schlechten Wirtschaftslage anzunehmen ist, was dann? Die Mehrzahl der englischen Blätter würde einen Sieg Popens begrüßen. Man liebt zwar Herrn von Papen hier gar nicht, aber man zieht immerhin einen konservativ regierten Rechtsstaat dem heutigen Zustand vor und erst recht natürlich einem Staat, in dem die Goebbels, Rosenberg und Röhm allein komman- dieren. Die Linkspresse freilich sagt offen, daß ein Papen- regiment mit oder ohne Monarchie auch nicht gerade eine Be- freiung Deutschlands und damit eine Befreiung der Welt von einer großen Gefahr bedeute. In einem Punkt ist ein großer Teil der englischen Presse blind. Hier hat die planmäßige Nazipropaganda Erfolg ge- habt. Man hält Hitler persönlich für einen respektablen Mann, der all dies» Ausschreitungen und Unterdrückungen gar nicht gewollt habe und sich nur nicht gegen seine wilden Gehilsen habe durchsetzen können. Man beschwört Hitler , diese wilden Männer abzusägen und die SA. aufzulösen, dann könne er in die gute Gesellschaft aufgenommen werden. Man will offenbar nicht sehen, daß alle Greueltaten mit Hitlers Willen geschehen sind, daß er der wahre Urheber der Judenverfolgungen ist, daß das alles schon in seinem Buch steht. Man steht in Hitler den gemäßigt- konservativen Mann, der nur aus Treue und Schwäche seine alten Mitkämpfer hält. Ein konservatives Regiment, das die Goebbels, Rosenberg, Röhm und Streicher ausschaltet, könnte in maßgebenden englischen Kreisen auf eine gewisse Sympathie rechnen, auch wenn Hitler nach wie vor an der Spitze steht. Der„Daily Herald" meldet aus Berlin , daß am kommen- den Dienstag eine Kabtnettssitzung stattfinde, in der die beiden Regierungsclquen um die Macht kämpfen würden: die Gruppe Papen und ie Gruppe Goebbels . Papen habe die Absicht, sich erneut nach Neudeck zu wen- den, um mit Hindenburg zu besprechen, ob es zweckmäßig sei, daß er weiter balanciere oder seine Demission und die der mit ihm verbundenen Minister Neurath , Krosigk, Seldte und Rübenach anbiete.
Ccstapo und Vizekanzler Verhaftungen, Haussuchungen. Ueberwachung
Berlin , so. Juni.(Jnpreß.) Die Geheime Staatspolizei übergibt der Oeffentlichkeit ein Kommunique, in dem sie be- hauptet, daß ihr von einer Verhaftung des Journalisten Edgar Jung , des Ratgebers Papen , und des Herausgebers der„Führerbriefe", Walter Schotte , nichts bekannt sei. In Wahrheit hat vor drei Tagen, gegen Mitternacht, SA. das Haus, das Jung bewohnt, umstellt, und Polizei drang in das HauS ein. Jung zog sich einen Augenblick ins Bade- »immer zurück und schrieb an die Wand:„Geheime Staats- polizei". Diese Bemerkung verriet später, was mit ihm ge- schehen war. Der Vizekanzler Papen hat sofort, nachdem er von der Verhaftung erfuhr, bei der Gestapo protestiert: ohne Erfolg. Man erklärte ihm. daß„Dr. Jung im Anschluß an eine Haussuchung verhaftet worden sei". In den Diensträumen des Vizekanzlers von Papen find in der letzten Woche, jedesmal nacht», geheime Haussuchungen vorgenommen worden: alle Papiere wurden gevrüft. Weiter «fahren wir, daß alle Telefongespräche Popens abgehört
werden: sämtliche Personen, die ihn besuchen, werden au»- nahmslos fotografiert. Um die Erregung in der Hauptstadt zu charakterisiere«, genügt es zu vermerken, daß gestern, unverzüglich demen- tiert, das Gerücht kursierte, von Papen sei durch die Ge- Heime Staatspolizei verhaftet worden. In eingeweihten Kreisen wird darauf aufmerksam gemacht, daß das Vorgehen der Gestapo gegen den Freund Papen », Jung, und den Herausgeber der Führerbriefe, Schotte, so- wie die Ueberwachung Popens auf eine Rücksprache zwischen Goebbels und Himmler zurückzuführen ist. Himmler, der Chef der Geheimen Staatspolizei, steht mit dem Propaganda- minister in engstem Kontakt: er ist heute noch stellvertreten- der Reichspropagandaleiter der NSDAP . Die Marburger Rede Popens zirkuliert in der Reichswehr in Tausenden von Exemplaren. Die Verbreitung wird»ou den Offizieren der Reichswehr begünstigt. Unter d*n Gratulationen, die Papen zu seiner Marburger Reoe ethteU, oeHnoet sich ein Brief de» Ex-Kronprinzen.
Gestern und heute Auf einem Bücherbrett sahen wir jüngst sechs stattliche Bände. Es war eine Sammlung der Geseße und Verordnungen des„dritten Reichs". Die Einbände sahen ganz normal aus, nichts verriet von außen die Hexentanzpläße der Druckerschwärze auf tausenden von Papierseiten. Aber es gibt unter diesen Gesetzen eines, dessen Gemeinheit und Qrausamkeit selbst in dieser Kollektion ohnesglei- chen ist. Es ist das bereits im„Betrieb" befindliche Geseß zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, das die Sterilisierung, nötigenfalls die Zwangssterilisierung von Trägern erblicher Geisteskrankheiten, erblicher Blindheit und Taubheit, schwerer körperlicher Mißbildungen und des erblichen Alkoholismus verlangt. Es ist an sich sehr wohl denkbar, daß ein Staat im Dienste am Volksgenossen derartige Bestimmungen zur Hebung des Gesundheitszustandes erläßt, und eine durchgegliederte und verantwortungsbewußte Gemeinschaft hat sogar die Verpflichtung, die Gesunden vor dem Fluch vererbbarer Krankheit mit jedem, unter Umständen auch sehr hartem Mittel, zu schüßen. Unter einer Bedingung freilich. Nämlich der, daß Eingriffe in das unerseßbare Gut des Menschenkörpers nur erfolgen nach den höchsten Maximen medizinisch-wissenschaftlicher Erkenntnis; daß sich keine mit dem Messer bewaffnete Hand an einen lebendigen Leib wagt, die die Wirkung eines operativen Eingriffs nicht voll erkennt. Für die offizielle Medizin des„dritten Reichs" aber ist das nicht mehr gültig. Auf dem 46. Kongreß für innere Medizin in Wiesbaden wurde offen erklärt, der Politiker könne nicht warten, bis die Fundamente der Erbwissenschaft und Rassenlehre bis ins kleinste ausgebaut und gesichert seien. Er müsse aufbauen auf der„intuitiv erschauten Grundwahrheit der blutmäßigen Verschiedenheit der Völker wie der einzelnen". Die Politik müsse der Wissenschaft vorauseilen und— das ist der furchtbare und entscheidende Saß—„manchmal auch über sie hinwegspringen". Das ist die nackte Aufforderung, das Onerationsmesser unter Umständen zum politischen Zweck zu mißbrauchen. Tausend Aerzte und Wissenschaftler hörten sich das an, keiner stand auf und gab schreiend dem professoralen Redner das Echo seiner Schande zurück, im Namen des deutschen Geistes und eines Jahrhunderts deutscher ärztlicher Kunst. Alle wußten sie, daß die Wissenschaft bei weitem noch nicht vermag, mit einiger Genauigkeit den Wert der Nachkommen eines Elternpaares vorherzusagen. Keiner machte den hinwand, daß dieses Geseß auf dem stursten naturwissenschaftlichen Materialismus beruht, der die Kräfte der Seele und des Willens mißachtet. Alle waren glücklich, über die Hürden der Wissenschaft mit SA.-Gepäck„hinwegspringen" zu dürfen, oder sie taten wenigstens so, vor Furcht zitternd, sonst in die Kolonnen der reaktionären Miesmacher eingereiht zu werden. Aber das ist noch nicht das schlimmste. Die deutsche Aerzteschaft, die bisher die Heiligkeit der Berufsverschwiegenheit durch ihre Standesgerichte schüßte, läßt sich zur medizinischen Gestapo anmelden, besser: zum Spißel der Sterilisierung. Medizinalrat Trunk beschäftigt sich in der„Münchner medizinischen Wochenschrift"(Nummer 19) mit der Anzeigepflicht der Aerzte auf Grund des Geseßes. Er stellt fest, daß alle Aerzte und Zahnärzte verpflichtet sind, jede Person anzuzeigen, die dem zur Anzeige Verpflichteten in seiner Berufstätigkeit bekannt sind und an einer der in den Para- grafen 1, 2 angeführten Krankheiten leiden. Wie weit dieser Zwang geht, zeigt folgender Saß aus den Ausführungsbestimmungen:„Wer eine körperliche Mißbildung sieht, die den Geschädigten merkliche Nachteile im Lebenskampfe zufügt, Klumpfuß, Hüftluxation, Wolfsrachen etc. und nicht ganz offensichtlich auf einen Unfall zurückzuführen ist, muß die Anzeige machen." Das träfe nun freilich Herrn Goebbels sehr hart. Ihm aber hat man troßdem die Nachkommenschaft nicht versagt. Wie aber steht es mit den marxistischen Untermenschen, mit den minderrassigen Staatsfeinden? Hier ist das Tor der Willkür weit geöffnet, durch das braune Diagnose und Therapie unter dem Kommando der Politik jederzeit einmarschieren können. In den Konzentrationslagern leisten Aerzte Polizeidienst. Ihr ärztliches Gewissen verstummt vor Gefolterten und Getöteten. Sie stellen sich den Rasse- und Sippeämtern zur Verfügung. Sie gehen auf die Jagd nach angeblichen Erbkrankheiten zwecks Sterilisierung, obwohl sie wissen, daß sie damit Menschen der Afterwissenschaft ausliefern. Im Kriege mußten die deutschen Aerzte Kranke gesund schreiben. Heute werden sie verpflichtet, Gesunde unter Umständen erbkrank zu schreiben. Das ist ein Vertrauensverlust für den Arzt als Helfer und als Menschen von übersehbarer Tragweite. Denn Unzählige werden nur noch unter Zwang zum Doktor gehen, weil sie die Sterilisierungsagenten des„dritten Reichs" mehr zu fürchten haben als die Gespenster der Krankheit Anguu