Nr. 160 2. Jahrgang
Freiheit
Einzige unabhängige Tageszeitung Deutschlands
Saarbrücken, Samstag, 14. Juli 1934
Triumvirat und Reichswehe
Seite 2
Hitler verliert die Saac
Seite 3
Seite 3
Bei den kleinen miesmachern
Erziehung der Wirtschaftsführee
zu Engeln
Seite 7
Spanien voll Abscheu
Chefredakteur: M. Braun
Gauleiter erzwangen Reichstagsrede
Furcht vor der Volksstimmung
Aus Berlin erhält die„ Sopade" einen Bericht über die Vorgänge, die Hitler zur plöglichen Einberufung des Reichstags veranlaßt haben. Die Einberufung des deutschen Reichstages zum Freitag hat vollstes Erstaunen erregt. Der deutsche Reichstag hat unter der Hitlerdiktatur nur rein dekorative Bedeutung. Denn selt verständlich werden alle Mitglieder des Reichstages, soweit sie der Hitlerfeme nicht zum Opfer gefallen sind, als gute Nationalsozialisten, den Maßnahmen Hitlers ihre Zustimmung geben. Widerspruch bedeutet höchste Lebensgefahr. Trotzdem also Hitler mit der Rede vor diesem Parlament nichts riskiert, mußte er doch erst zur Einberufung des Reichstages und zur Abgabe einer Regierungserklärung gezwungen werden.
Am 4. und 5. Juli fand in Flensburg eine Tagung der führenden Funktionäre der NSDAP . statt, die sich auch mit den Ereignissen des 30. Juni beschäftigte. Ueber die Tagung ist in der deutschen Presse so gut wie nichts berichtet worden. Es fiel nachher allgemein auf, daß Hitler selbst nicht in Flensburg erschien, sondern die Vertretung und Be= gründung seiner Blutmaßnahmen eß überließ. He ß stand in Flensburg vor einer schwierigen Aufgabe, denn es wurde ihm von den Gauleitern sehr deutlich auseinandergefeßt, daß die Schüsse in München und Berlin nicht nur die Verräter, sondern auch die nationalsozialistische Bewegung ins Mark getroffen haben. Die Hitlerdiktatur sei durch die Kameradenmorde nicht gestärkt, sondern geschwächt wor= den. Die Gefahr eines weiteren Verfalls sei nur dann aufzuhalten, wenn die Regierung endlich ihr unverständliches Schweigen breche, wenn vor allem Hitler persönlich wieder in Erscheinung trete.
Die wildesten Gerüchte über einen Nervenzusam menbruch Hitlers und über seine angebliche panische Attentatsfurcht seien im Volk im Umlauf. Und wenn Hitler jetzt nicht schnellstens öffentlich hervortrete, könne man sich dieser zersetzenden Stimmung mit all ihren Folgen nicht länger erwehren. Unter dem Eindruck dieser Auseinander: legungen in Flensburg entschloß sich das Triumvirat: Hit: ler, Göring , Goebbels , die Schweigetaktit aufzugeben
und sich dem Volf zu zeigen. Den Anfang machte Heß mit seiner Königsberger Rede, in der er versuchte, die Masse des
Bolts von den Diskussionen über die innerdeutschen Bor: Antwort an Hitler
gänge durch eine Kriegsrede abzulenken.
Ihm folgte am Dienstag Goebbels mit seiner Rundfunfrede. Beide Redner haben zum mindesten im Ausland die Situation für Deutschland noch verschlech: tert. Vor allem find die unqualifizierten Angriffe Goebbels auf die Auslandskorrespondenten übereinstimmend als ein Zeichen einer ungewöhnlichen Nervosität aufgefaßt worden. Am Freitag soll nun Hitler vor dem Reichstag die Propa
gandaaktion fortſegen. Er spricht entgegen seinem Willen,
denn der sonst so entschlossene Führer fühlt die unheilvolle Berstrickung, in die er durch sein Vorgehen am 30. Juni geraten ist. Wie ernst die verantwortlichen Führer der NaziPartei die Situation des Regimes und der eigenen Be= wegung empfanden, das beweist am besten der äußere Vers lauf der Flensburger Tagung.
Diese Tagung war in Flensburg als eine Konferenz der Arbeitsfront zur Beratung von wirtschaftlichen Fragen angekündigt worden. In der Stadt war nicht ge= flaggt. Etwa 130 Gauleiter, Statthalter und hohe SA .. und SS - Führer trafen unvermittelt in Flugzeugen und in Autos in Flensburg ein. Die Tagung fand im„ Deutschen Haus" statt. Vor dem Haus sammelte sich eine Anzahl Neugieriger an, aber sie bekamen feinen einzigen der bekann= teren Führer zu sehen, da alle Teilnehmer der
Konferenz das Haus von der Rückseite be= traten. Während der ganzen Tagung war das Tagungs lokal durch Polizei, SA. und SS. denkbar scharf be= wacht. Ueber Flensburg kreisten fortwährend einige Be= obachtungsflugzeuge.
Alle diese Tatsachen werden den Führer am Freitag nicht hindern, vor seinen augenblicklichen Getreuen die tausendjährige Herrschaft des dritten Reiches" erneut zu verkün den. Das Volk und die Welt aber werden wissen, daß hinter diesen Worten stärker als je die bloße Furcht vor der Ents wicklung der allernächsten Zukunft steht.
Furcht vor dem Hungerwinter
Hamstere, wer kann
Merkwürdig ist, daß auch bei unpolitischen Volksgenossen, die zunächst die Bedeutung der Ereignisse nicht begriffen hatten, nun das Gefühl wächst, daß eine schwere Erschütterung der nationalsozialistischen Re= gierungsautorität erfolgt ist. Täglich schwirren neue Gerüchte über die künftige innen- und außenpolitische Entwicklung auf, und sie werden so allgemein geglaubt, daß allein schon daraus zu ersehen ist, wie wenig man von den amtlichen Mitteilungen und der ganz und gar eintönig gewordenen Presse hält.
Banifartig werden allmählich die Sorgen wegen des Rohstoff- und des Lebensmittelmangel3. Das Vertuschen und die Schönfärberei der Behörden haben die allgemeine Unruhe so sehr gesteigert, daß die tollsten Uebertreibungen auch von Leuten geglaubt werden, denen man ein eigenes Urteil zutrauen sollte.
So ist der Glaube weit verbreitet, daß seit Wochen in der Reichsdruckerei die Karten für ein genau ausgearbeitetes und auf alle Gegenstände des täglichen Gebrauchs sich er= streckendes Rationierungssystem hergestellt wurden. Das ist nun gewiß eine Uebersteigerung des drohenden Mangels, aber es ist doch zugleich ein Beweis für das allgemein große Mißtrauen und die wachsende Nervosität.
Sicher ist allerdings, daß die Rationierung von Mehl und Brot und wahrscheinlich auch einiger anderer Lebensmittel vorgesehen ist und auf Grund der Kriegserfahrungen gewisse Vorbereitungen getroffen werden. Kriegserfahrungen liegen aber auch noch bei Millionen Hausfrauen vor, und wo sie bei der Jugend fehlen, helfen die Erzählungen der älteren Jahrgänge nach. Seitdem man um Kartoffeln Schlange stehen muß, setzt sich hartnäckig die Ansicht fest, daß dies der Anfang der aus der Sunaerblockade des Krieges bekannten zu Stände ist
Sind bis vor kurzem hauptsächlich Textilwaren geham stert worden, so ergreifen jetzt die Vorratskäufe auch Lebensmittel. Reis, Hülsenfrüchte, Konserven, Makkaroni find besonders verlangt.
Man glaubt, daß dem Reichswirtschaftsminister diftatorische Vollmachten für weitgehende Rationierung gegeben sind und deckt sich ein. Aus einer Reihe von Städten und auch aus einigen Bezirken Berlins wird gemeldet, daß die Kleinhändler nicht mehr die von den Käuferinnen gewünschten Mengen abgeben, sondern zu rationieren beginnen, weil fie fürchten, ihre Lager nicht mehr genügend ergänzen zu fönnen.
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Die morgige Ausgabe der« Deutschen Freiheit" wird unsere Antwort auf die Reichstagsrede des deutschen Reichskanzlers enthalten.
Judenmorde bestätigt
Sechs jüdische Tote in Hirschberg, zwei in Glogau , einer in Berlin Pogrom- und Ritualmordhetze der Nazipresse
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Die zuerst von der„ Deutschen Freiheit" gemeldetes Pogrommorde am 30. Juni und am 1. Juli werden nun durch die 3.T. A. bestätigt. Es werden neue Opfer genannt, Zweifellos ist die Zahl der Morde größer, als bisher bekannt geworden ist.
Von den durch die SS. verhafteten neunzehn Hirsch berger Juden sind fünfzehn aus der Haft entlas= sen worden, während über den Verbleib der restlichen vier Verhafteten Ungewißheit besteht und man sich ihretwegen ernstesten Sorgen hingibt. Dem zwei Kilometer hinter Hirschberg auf dem Wege nach Görlitz vorgenommenen Pogrom an jüdischen Häftlingen fielen außer den bereits gemeldeten Rechtsanwalt Förster, Kaufmann Charry, Arzt Dr. Zweig und dessen Ehegattin Frau 3weig noch der Hirschberger Jude Jacobsohn und ein weiterer jüdischer Bürger Hirschbergs zum Opfer. Bei den beiden letzteren trat der Tod nicht durch Erschießung ein, sondern sie sind nachträglich den ihnen zugefügten bestialischen Mißhand= Iungen ertegen. Die Hirschberger Polizei versichert, daß sie die eifrigsten Nachforschungen nach dem Verbleib der restlichen vier oder fünf Verhafteten anstellt, aber bisher nichts Positives darüber sagen könne.
Aus der schlesischen Stadt Glogau treffen Nachrichten ein, daß dort antisemitische Unruhen stattgefunden haben, in deren Verlauf zwei Juden getötet und mehrere verlegt wurden. Näheres über die Glogauer Vorfälle, die im allgemeinen verbürgt sind, war bis jetzt nicht zu erfahren. Die Judenschaft der schlesischen Städte ist zutiefst beunruhigt.
Auch in Berlin hat sich ein Vorfall abgespielt, der die jüdische Gesellschaft dort erschüttert hat. Polizei kam in die Wohnung des hervorragenden Rechtsgelehrten Justizrat Dr. Maximilian Stein und führte dessen 20jährigen Sohn mit sich fort. Am selben Abend schon wurde der verstüm= melte Leichnam des jungen Mannes dent Eltern zurückgeschickt mit der Erklärung, daß er sich im Polizeigebäude aus dem Fenster gestürzt habe. Die Bestattung des jungen Stein mußte in aller Stille stattfinden. Die Eltern sind vollständig gebrochen.
Es ist der Beginn einer Untergangstimmung. Man hält Mord geht weiter
alles für unsicher. Nicht zuletzt zweifelt man an dem weiteren Bestand des jeßigen Regierungssystems. Auch in unterrichteten Streisen ist die Meinung verbreitet, Hitler habe im Grunde schon jetzt abgewirtschaftet, aber die Kräfte, die ihn jetzt ablösen könnten, also z. B. Reichswehr und sonstige fonservative Kräfte, hielten sich mit Absicht zurück, weil sie wünschten, daß die Nationalsozialisten den Kelch bis zur Neige leeren, also etwa dem Volke zeigen müßten, wie ein von den Nationalsozialisten zu verantwortender Hungerwinter aussieht.
Die meistens mündlich betriebene Aufklärungsarbeit der Marristen hat in den letzten Wochen Fortschritte gemacht und findet günstigen Boden. Die Behörden, die in letzter Zeit wegen der großen Spannungen im Nationalsozialismus und der Sorgen nach rechts hin sich weniger um die Agitation der Linken befümmert hatten, haben Anweisung erhalten, nun auch wieder schärfer nach links hin aufzupassen. Die sozialistischen illegalen Agitatoren sind aber viel schwerer zu fassen als noch vor einigen Monaten, weil im allgemeinen feine freiwillige Spigelarbeit mehr geleistet wird und die wachsende Not überall Anknüpfungspunkte zu aufklärenden Gesprächen bietet
Katholische Epiloge
Täglich wird versichert, daß die große„ Säuberungs aktion" abgeschlossen sei. Aber es vergeht kein Tag, an dem wir nicht vom geheimnis. vollen Tode Gefangener und Verfolgter erfahren. Vorgestern hat sich Erich Mühsam den Tod gegeben. Niemand glaubte es, daß dieser tapfere Kämpfer freiwillig zu einem Zeitpunkt aus dem Leben geschieden sei, wo er stärker als zuvor auf die Wiedererlangung der ersehnten Freiheit hoffen durfte.
Jetzt kommt eine Nachricht, die ganz offen beweist, daß der mörderische Feldzug gegen politische Gegner weitergeht. Adalbert Probst , der Reichsführer der katholischen„ Deutschen Jugendkraft", der größten katholischen Jugendorganisation, ist in der vergangenen Woche„ auf der Flucht erschossen" worden. Es wird genau so dteist gelogen wie im Falle Klausener. Erst hiez es, daß der Leiter der katholischen Aktion in Berlin Selbstmord perübt habe. Dann; er habe sich bei der Ver