Deutsche   Stimmen.

Beilage zur Deutschen Freifieit" Ereignisse und Geschichten

Donnerstag, den 9. August 1934

Einer will eine Lutze- Straße

Bersaukes Sehnsucht

Von einer Hauptfigur des Röhmdramas ist bisher noch nicht gesprochen worden, obwohl der Fall ohne sie niemals voll wird begriffen werden. Wir meinen den Einsender jener Notiz, die der Trommler für Mülsenau"( früher General­anzeiger für Mülsenau") am 15. März 1933 im ,, Sprechsaal" veröffentlichte, und deren Wortlaut mit gebührender chronistischer Treue wiedergegeben sei:

,, Die Straße frei... Warum hat Mülsenau noch immer eine Ebersstraße, deren Name unangenehm an den Hoch­und Landesverräter Friedrich Ebert   erinnert? Warum be­nennt man sie nicht auf den Namen eines unserer Großen um, z. B. des Stabschefs unserer herrlichen braunen Kampfscharen? U. A. w. g.

Ein Anwohner der Ebers-( hoffentlich bald Röhm-) straße."

Die Einsendung hatte einen unerwarteten Erfolg. Der Führer der Mülsenauer NSDAP.  , ein Zahntechniker, benutzte sie zu einem Vorstoß gegen den früher volksparteilichen, jetzt gleichgeschalteten Bürgermeister, für dessen Sturz er schon lange Material sammelte. Der Bürgermeister beging die unglaubliche Torheit, mit der lahmen Motivierung abzu­lehnen, daß es sich um eine Ebers-, nicht um eine Ebert­straße handle, die nach einem angesehenen Romanschrift­steller des 19. Jahrhunderts benannt sei. Worauf es für den Zahntechniker ein leichtes war, einen Ausbruch des Volkszornes, bestehend aus zwei SA.- Stürmen, gegen den reaktionären Verteidiger der entmachteten roten Bonzo­kratie" zu arrangieren, der mit der Abführung des Bürger­meisters in ein Konzentrationslager und der Ernennung des Zahntechnikers zu seinem Nachfolger endete. Seitdem konnte der Viktualienhändler Friedrich Wilhelm Persauke war der Verfasser jenes Eingesandts im Trommler für Mülsenau" gewesen niemals aus seinem Laden heraustreten, ohne daß es ihm einen stolzen inneren Ruck gab; denn an der gegenüberliegenden Straßenecke prangte schwarz auf weißer Emaille die neue Straßenbenen­nung: Ernst- Röhm- Straße. Der Stabschef in Person hatte die Einweihung vorgenommen, es war ein großer Tag in der Geschichte Mülsenaus gewesen mit Triumphpforten, Fahnen und weißen Ehrenjungfrauen vom Bunde deutscher Mädel, für die der hohe Gast jedoch kaum einen flüchtigen Blick übrig hatte. Friedrich Wilhelm Persauke aber war vom neuen Bürgermeister als der geistige Vater der Idee dem Stabschef persönlich vorgestellt worden, der ihm wohl­wollend auf die Schulter klopfte: Dreißig Jahre jünger, lieber Persauke, da könnte ich Sie gut brauchen meine SA.   Haben Sie keinen Jungen?"

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er

Natürlich hatte Persauke Jungen, sie standen mit im Spalier bei der Hitlerjugend  . Röhm   ließ sie sich zeigen und sie bekamen ein Autogramm von ihm. Das hing fortab in Persaukes guter Stube über dem hellen Fleck, den das Kaiser- Wilhelm- Bild auf der Tapete zurückgelassen hatte. Auch eine Röhm  - Mappe wurde angelegt, sie enthielt Fotos von der Einweihung sowie Zeitungsausschnitte, als ersten eine ,, Betrachtung aus der Beilage ,, Wehr und Waffen", die mit den Sätzen begann:

,, Was sind die Verdienste Scharnhorsts und Gneisenaus um die Reorganisation der preußischen Armee gegen Ernst Röhms Werk gehalten? Die Namen Moltke   und Roon, einst leuchtende Gestirne am militärischen Himmel, sie verblassen...."

Wenn im Kino Röhms Gestalt auf der Leinwand erschien, trot korpulenter Fülle martialisch zu Roẞ sigend oder die Front der SA. abschreitend, so raste Persauke Beifall und das Bürgertum von Mülsenau stand ihm bei. Zum Geburts­tage schenkte er seinen Söhnen das Werk: ,, Ernst Röhm  , die Geschichte eines Hochverräters". Auch die übrige Ver­wandtschaft wurde damit bedacht. Er zog Röhm   allen Paladinen des Führers, beinahe dem Führer selbst vor: in Röhm   verkörperte sich sozusagen die militärische drauf­gängerische Kraft der Bewegung, die Persauke im Gegensatz zum schlappen Zivil des verflossenen Schmachsystems am meisten imponierte.

ums

Und dann kam jener fürchterliche 30. Juni. Persaukes hockten verstört daraus Radio, mit erklang düsterem Tremolo die Stimme des Propaganda­ministers, der sich in fürchterlichen Detailschilde­rungen der ausgehobenen Unzuchtstätte Wiessee   erging. Wortlos nahm Persauke das gerahmte Autogramm von der Wand, entleerte die Andenkenmappe in den Müll­eimer und säuberte die Familienbibliothek( sie hatte auf einem Wandbrett Platz) von Röhm  - Resten.

Deutschland  , ein ehebarer Kaufmann

O Deutschland, hoch in Ehren! Du heil'ges Land der Treu', Im dritten Reich" zeigst du der Welt, was Recht und An­

stand sei!

Du säubertest den Handelsstand von jeder schmutz'gen Spur, Und jetzt regiert im ganzen Land ein ehrbar' Kaufmann nur. " Vor allem eins: sei treu und wahr, laß Lüg' dich nicht entweih'n!

Der höchste Ruhm des Deutschen   ist: stets treu und wahr zu sein!"

So lernten in der Schule wir. Die deutsche   Treu  ' ent­schwand.

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Doch herrlich hehr sie auferstand im heil'gen Hitlerland. Fort ist der Juden Schachergeist und ihr Profitgeschrei; Gemeinnutz geht vor Eigennutz. Es herrscht die deutsche  Treu'.

Nie kam ein Wort der Lüge je aus deutscher Führer Mund! Und Hitler  , Goebbels  , Göring  , Schacht, tun nur die Wahr­heit kund.

So sprach Herr Schacht voll Redlichkeit: Die Kassen, die sind leer,

Devisen gibt es nicht zur Zeit. Es ruhe der Transfer; Das Ausland nahm sie alle fort und gab sie uns nicht wieder. Nicht unser ist die Schuld!" Herr Schacht, er sprach es treu und bieder.

O königlicher Kaufmann du! Du sagst ein wahres Wort! Denn täglich gehn Devisen aus für Kriegsrüstungsimport, Und viel Millionen gabest du Herrn Goebbels   in die Hand, Damit er Hitlers   Heilandslehr verkünd' in jedem Land. Jüngst war Herr Göring   in Athen   zum Ordens- Ehrenschmaus, Und nebenbei stiftet er dort ein Hitlerjugend- Haus. Des Staates Säckel gibt ihm frank der Drachmen hohe Zahl, Wohl fünfzigtausend opfert er fürs deutsche   Ehrenmal! O Ausland, weshalb klagest du? Du hast die hohe Ehr', Zu finanzieren Deutschlands   Ruhm! Was schiert dich

der Transfer?

Du zahlst die Waffen, die dich einst mit Flammen überziehn! Du zahlst die Propagandaflut, die ausströmt von Berlin  ! Lern' du von Deutschland   Recht und Treu  ' und die Devise plump,

Zwei Tage darauf aber enthielt der Trommler für Mül- Des ehrbar'n Kaufmanns, die ihn führt bei dem Devisen­senau" folgendes Eingesandt:

,, Die Straße frei.... Will Mülsenau sich die Gelegen­heit entgehen lassen, die erste Stadt in Deutschland   zu sein, die eine Straße nach dem neuernannten Stabschef unserer herrlichen braunen Kampfscharen benennt? U. A. w. g. Ein Anwohner der früheren Röhm  -( hoffentlich bald Lutze-) straße."

Wie gesagt, ohne die Figur dieses Einsenders ist eigent­lich das Röhmdrama niemals ganz zu begreifen..

Mucki.

pump: ,, Hast du verpulvert den Besitz, und fehlt es dir an Geld, Pump nicht zu wenig, sondern viel, dann bist du Herr der Welt!" Animus  .

Marcel Proust   in russischer Sprache

Der staatliche Verlag für künstlerische Literatur hat eben den ersten Band des berühmten Werkes von Marcel Proust  ,, Du cote de chez Swann  " in russischer Uebersetzung heraus­gebracht. Die Einleitung zu dem Buche, das seiner Form und seinem Inhalt nach dem Sowjetleser sehr fremd ist, wurde von dem verstorbenen Volkskommissar für Bildungs­Lunartscharski verfaßt, der die Uebersetzung

Das hat die SA. gemacht!" Der Fühere will das nicht eines Teiles selbst besorgte. Es besteht die Absicht, eine

Früher hörte man unwissende Leute sagen, wenn sie Unrecht erlitten: Ja ,, wenn das der Kaiser wüßte! Der Kaiser will das nicht....!" Dieser Glaube an die Unfehl­barkeit der Kaiser und Könige und sonstige ,, Landes­väter", der den Untertanen Jahrhunderte hindurch von der ersten Schulstunde an eingetrichtert wurde, war so tief ein­gewurzelt, daß einmal eine blutarme, alte Holzfrau im Wildpark eines thüringischen Kleinstaaten- Fürsten   ihren" seit vielen Jahren schon geistes gestörten Landesvater sehr beleidigt und böse werdend mit den Worten verteidigte: Nu des wag'n is'r unser Ferscht, wenn'r ooch verrickt is'!" Nun ist der deutsche   Untertan wieder so weit, wie seine Großväter waren: er glaubt wieder an eine unfehlbare Instanz. An Stelle eines nicht mehr vorhandenen Landes­vaters hat er den ,, Führer" Adolf Hitler   dazu erhoben.

die monatelang im Konzentrationslager gequält worden ist, nach ihrer endlichen Entlassung und beim heiß ersehnten Wiedersehen die Mutter tröstet: Mutter, daß Du gefangen warst das hat nur die SA. gemacht! Der Führer will das nicht!"

ganze Serie repräsentativer Werke der französischen moder­nen Literatur herauszugeben, als Ergänzung zu den bereite R. Rolland, vorhandenen Uebersetzungen der Werke von Henri Barbusse  , Jules Romain  , Georges Duhamel   u. a.

Zeit- Notizen

Das muß eine Mutter, die die furchtbare Zeit ihres Lebens dem Regime dieses Führers" verdankt, aus dem VIII. Olympiade für Arbeiterkunst

Munde ihres Kindes anhören! Das lehrt man ihrem Kinde für das Schulgeld, das sie zahlt! Wenn Worte Dolchstöße sein könnten, dann sind diese Worte Dolchstöße ins Herz einer Mutter.

Das erschütterndste Beispiel aber berichtet P. Delihotte, der Berliner   Korrespondent des ,, Journal des Debats  ". Er war in Berlin   der Wohnungsnachbar Gregor Straßers. Dieser ehemalige Freund Hitlers   wurde am Morgen des 30. Juni, als er im Begriff war, in sein Büro zu gehen, von zwei Beamten der Polizei Görings verhaftet. Zwei Stunden später wurde bekannt, daß auch Gregor Straßer   im Zuge der Reinigungsaktion" erschossen worden sei. Vier Tage lang wollte die Frau Straßer die furchtbare Wahrheit nicht

,, Der Führer weiß das nicht! Das will der Führer nicht!" So sagt der Untertan heute. Es macht ihn nicht irre, daß dieser selbe ,, Führer" vor dem deutschen Reichsgericht feier­lich erklärt hat: Nichts geschieht in meiner Partei ohne mein Wissen!" Es macht den Untertan nicht stutzig, daß Hitler die Verfehlungen und moralischen Mängel jener glauben, bis sie endlich einsehen mußte, daß es Zweifel und Unterführer, die er meuchlings erschießen ließ und die er im Tode schmäht, von Anfang an gekannt und die er ge­duldet hat, solange ihm diese Leute willig waren.

Inwieweit heute schon dieser Glaube an den Führer" nur noch ein Strohhalm ist, an den der Untertan aus Furcht vor der letzten Erkenntnis seiner Selbsttäuschung sich klammert

das ist schwer zu sagen. Um so beflissener sind die Götzen­diener des, dritten Reiches", diesen Glauben den ahnungs­losen Kindern einzutrichtern. Und das ist das Schlimmere; es ist schnöder Mißbrauch des kindlichen Vertrauens. Und wieder ist es die Schule, sind es Lehrer, die diesen Seelen­fang am eifrigsten betreiben.

Der Erfolg dieser schmählichen Arbeit ist es, wenn der zwölfjährige Sohn einer sozialdemokratischen Funktionärin,

Professor Freundlich

Der Krieg des anderen Ludendorff

Um der deutschen Wissenschaft die Möglichkeit zur Nach­prüfung, Anwendung und Weiterbildung der Einsteinschen Relativitätstheorie zu geben, erbaute die demokratische Republik   den bekannten Forschungsturm zu Potsdam   mit all seinen Instrumenten. Dort arbeitete u. a. auch Professor Freundlich, ein international anerkannter Gelehrter auf dem Spezialgebiet der Sonnenphysik. Plötzlich trat an die Astrophysiker von Potsdam   eine neue Anforderung heran: wenn sie gewissen Angestellten ihres Institutes be­gegneten, sollten die Gelehrten die rechte Hand vor- und aufwärts strecken und dazu ein Heil auf einen gewissen Hitler ausbringen. Professor Freundlich vermochte in dieser Umgebung etwas für die Sonnenphysik Förderliches nicht zu

Hoffnung nicht mehr gab. n duti

Die Kinder Straßers aber teilten ihren französischen Spielgefährten die Nachricht mit. Unser Vater ist tot." ,, Mein Sohn," so berichtet Delihotte ,,, erstaunt und empört, rief ihnen zu: Jetzt denke ich, werdet ihr wohl den Hitler nicht mehr lieben können!" Und ich hörte, wie eines der Waisenkinder, ein Vierzehnjäriger, langsam, die Augen starr, aber ohne eine Träne, die Antwort gab: ,, Er ist aber trotzdem unser Führer."

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So wachsen Kinder im ,, dritten Reich" heran: Der Sohn preist den Mörder seines Vaters! Man braucht nur dieses eine Beispiel zu kennen, um zu ermessen, in welche Ver­derbnis der Rattenfänger aus Braunau   die Kinderseelen führt! Manfred.

erkennen. Die Folge war, daß er seiner Stellung enthoben wurde.

Die von den Gewerkschaften organisierte 8. Olympiade für Arbeiterkunst wurde beendet. Ungefähr 25 000 Ar­beiter der Leningrader Betriebe nahmen als Sänger, Musi­kanten usw. daran teil sowie 1100 Vereinigungen zur Pflege der Arbeiterkunst, die 18 000 Mitglieder repräsen tierten. Den ersten Preis der Olympiade erhielt die Ge werkschaft der Konfektionsarbeiter. Das Leningrader Ge werkschaftskartell beschloß die Entsendung von 100 preis gekrönten Teilnehmern der Arbeiterolympiade auf Konser vatorien und andere künstlerische Lehranstalten. Es wurd beschlossen, in Leningrad   einen Palast für künstlerisch! Arbeitererziehung zu errichten, der zum Mittelpunkt für methodische und experimentelle Arbeiterkunst werden soll Barometer

Ein Filmfachblatt, braun bis auf die Knochen, schreibt: ,, Die Zuversicht, daß es auch im Kinogewerbe einmal aufwärts gehen muß und daß es unter allen Umständen in der kommenden Saison auch für ihn besser wird, hält ihn von der Schließung seines Kinos ab. In diesem Vertrauen nimmt es der Theaterbesitzer hin, ganz gleich, ob so manche Vorführung vor nur einem Dutzend Besucher oder vor wenig mehr erfolgt....".

Radioverbindung Nordpol  - Südpol  

Im Auftrage der Columbia- Broadcasting- Company sind einige Ingenieure zur Errichtung einer provisorischen Radiosendestelle nach Nordwest- Alaska geschickt worden. Von dort aus soll ein regelmäßiger Sendedienst mit der Station der Byrdschen Südpolarexpedition in Little Amerika eingerichtet werden. Damit will man versuchsweise zum erstenmal eine unmittelbare Verbindung zwischen den beiden Polarzonen der Erde schaffen.

Die Universität Istanbul   war froh, Freundlich und zahl- H. G. Wells in der Sowjetunion  

reiche andere deutsche   Gelehrte, die man im ,, dritten Reiche" nicht mehr haben wollte, für sich zu gewinnen. Zeitungen, die deutsche Kultur nicht in Gefangenenmarte­rung, Bonzenluxus, Kadavergehorsam, Militärdrill und Volksbelügung sehen und daher im Ausland erscheinen müssen, haben über den Fall Freundlich berichtet und dabei auch die leitende Rolle des Herrn Ludendorff, des Direk tors jenes Potsdamer Instituts, nicht unerwähnt gelassen. Davon hat Herr Ludendorff erfahren, und nun bedroht er im Auftrag seines vorgesetzten Ministeriums den Professor Freundlich mit irgendwelchen Verfolgungen, wenn er nicht jene Zeitungen veranlasse, zu berichtigen", daß Professor jene Zeitungen veranlasse, zu berichtigen", daß Professor Freundlich nur wegen des Arierparagrafen pensioniert

worden sei!

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Der berühmte englische   Schriftsteller Herbert G.   Wells traf in Moskau   ein. Er besuchte vor 14 Jahren erstmalig die SU. und wurde damals von Lenin   empfangen, mit dem er eine längere Unterredung hatte. In seinem Buche ,, Ruẞ­ land   im Dunkel", welches Wells nach seiner Rückkehr aus Moskau   schrieb, führte er aus, daß er nicht an die Fähig­keit des Proletariats glaube, eine neue menschliche Gesell­schaft auf sozialistischer Grundlage aufzubauen und daß er nicht an den Sozialismus glaube. Lenin   nannte er den Träumer im Kreml  ", Lenins Elektrifizierungsplan eine Utopie. Lenin   schlug ihm darauf vor, nach 10 Jahren wiederzukommen, Verspätet kommt Wells jetzt dieser Ein­ladung nach