Völker In Sturmzeiten Nr. 4

Völker in Sturmzeiten

Im Spiegel der Erinnerung- im Geiste des Sehers

Revolutionsnächte

Von Rétif de la Brétonne

Die Flucht nach Varennes

1234

,, Der König ist über Nacht abgereist, mit ihm die Königin und der Dauphin." Das ist das " Das ist das Signal für Paris am 20. Juni 1791 und erregt es tief. Aber schon am Abend des 22. Juni trifft die Nachricht ein, Ludwig XVI . sei in Varennes mit seiner Familie verhaftet worden. Aristokraten unterhalten sich über ihr Schicksal. Auswandern? Werden die Großmächte dem geschlagenen französischen Absolutismus zu Hilfe eilen? Man ist voller Zweifel.

In diesem Augenblick stand die Dame haftig auf und entfernte sich. Der Mann rief sie zurück. Ich hörte nur diese Worte: Nein, nein, ich will Sie nie wiedersehen." Er folgte ihr. Ich rief ihm zu:

Werden Sie Patriot, aus welchen Gründen es auch sei!" Damit entfernte ich mich eilig.

In der Rue des Champs Elysees , dem Hanse de la Rey­nieres gegenüber( heute Rue Boissy d'Anglas Nr. 17) er= innerte ich mich seines Sohnes, meines einstigen Freundes, heute meines toten Feindes; damals war er es noch nicht, und ich dachte mit Tränen an ihn.

Um ein Uhr fam ich zu Hause an, ohne Patrouillen ge­troffen zu haben.

Am nächsten Tage war alles in Aufruhr. Alle Jünglinge und Männer unter 40 Jahren waren bewaffnet. Der Flücht­ling sollte erst abends eintreffen.

Ich sah die Rückkehr Ludwigs mit an, den ich von diesem Moment an für entthront hielt. Die Nationalgarde bildete von den Boulevards bis zu den Tuilerien mit gesenkten Waffen Spalier. Tiefes Schweigen herrschte, nur hin und mieder von erstickten Schimpfworten unterbrochen. Er fehrte zurück, und tausend falsche Gerüchte schwirrten vor ihm her. Man hielt seine Kutscher für in Retten gelegte Adlige, vb­wohl sie es nicht waren. Und Ludwig fand sich wieder in seinem Schlosse, beladen mit der Schande, einen falschen Schritt getan zu haben. Er wurde aber nicht dafür bestraft, außer durch die natürliche Entwicklung der Dinge. Die

Konstituante hielt, ihren Prinzipien getreu, daran fest, daß Frankreich eine Monarchie sei; sie entschuldigte den Mon­archen und glaubte sich bei ihm beliebt zu machen, indem sie ihm alle Würde ließ, die sie ihm noch lassen konnte. Von diesem Augenblick an änderten Lameth und Barnave ihre Prinzipien. Mirabeau , der große Mirabeau war nicht mehr seit Anfang April. Was hätte er jetzt getan? Nach den Aufschlüssen, die man später bekommen hat, sieht es aus, als würde er mit aller Kraft dahin gewirkt haben, die Mon­archie wiederherzustellen; er hat mit den fremden Groß­mächten geliebäugelt, hat die innere Kraft des Landes ge­lähmt, damit kein Krieg entbrennen sollte aber was sollte mit uns geschehen? Man fann es sich leicht ausmalen, da alle Welt den despotischen und bis zur Barbarei harten Cha­rafter des großen Mirabeau kennt. Er würde heute unser Kardinal Richelieu sein und Ludwig XVI. gleich Lud­ wig XIII . nur ein erster Sklave. Lameth, Barnave und einige andere hätten in der geänderten Situation ebenfalls ihre Posten bekommen; La Fayette wäre Generalissimus oder vielleicht Konnetabel, Mirabeau aber Gouverneur des Schlosses geworden. D'Orleans war auf jeden Fall ver­loren: Mirabeau war in der Wahl seiner Mittel nicht be­denklich. Ich habe die Seele Mirabeaus zu seinen Lebzeiten durchschaut, da ich einen seiner Sefretäre, den er als Sklaven behandelte, kannte.

Nachdem ich die Rückkehr Ludwigs mitangesehen hatte, begab ich mich wieder nach dem Faubourg Saint- Honore über den Ritterplay.

Kundgebung auf dem Marsfelde

Die Absetzung des Königs wird gefordert( 17. Juli 1791) Am 16. Juli 1791 abends ging ich nach dem Faubourg Saint- Germain.

Als ich die Rue Mazarine passierte, um auf den Quai zu gelangen, gewahrte ich einen Bekannten, mit einer jungen, schönen Dame am Arm, die ich ebenfalls fannte. Du Un­glückliche," dachte ich, hast das Pech, von diesem Schuft an= geredet worden zu sein."

Eine dumpfe Gärung beherrschte die Gemüter seit der Flucht und Gefangennahme Ludwigs. Die Jakobiner und ihre Führer forderten die Republik , aber sie hatten nicht die Macht, sie auszurufen. Sie ließen von dem Franziskanerklub eine Schrift ausarbeiten, die am Sonntag, den 17. Juli, auf dem Marsfelde, auf dem Altar des Vaterlandes unter­zeichnet werden sollte. Die armen Menschen. Sie wußten nicht, daß all diese Altarzeremonien nur für junge Völker taugen, die noch in der Kindschaft des Aberglaubens be­fangen sind. La Fayette und Bailly auf der einen, Lameth und Barnave auf der andern Seite hegten den Wunsch, die Demonstranten zu stören und zu hindern. Vielleicht hatten sie sogar die Absicht, ihre Führer unschädlich zu machen. Sie arbeiteten die Kriegsgesetze sorgfältig aus und bereiteten ihre Veröffent ichung vor. Aber die Parteigänger Lameths, die Feinde La Fayettes, wollten nicht, daß La Fayette und sein Schimmel den ganzen Ruhm dieses Tages ernteten, und opferten deshalb, wie man erzählt, zwei arme Kerle. Mit Hilfe ihrer Agenten bestachen sie zwei unüberlegte Männer, sich am Sonntagmorgen unter dem Altar des Vaterlandes zu verstecken. Diese Männer waren, da sie die Absicht ihrer Auftraggeber nicht durchschauten, so wenig vorsichtig, daß sie ganz laut sprachen. Sie hätten hundertmal von den ge= wöhnlichen Bürgern entdeckt werden können und würden dann einfach weggejagt worden sein. Aber ihre Auftrag= geber, die sie auf diesen Posten gestellt hatten, planten, sie bei einem standalösen Auftritt umfommen zu lassen. Sie schickten einige ihrer Soldaten aus, um das Volf, oder viel­mehr die schlechten Elemente des Volkes, aufheben zu lassen, bevor man noch die Männer gesehen hatte. Sie stellten fie hin, als hätten sie den Altar des Vaterlandes geschändet. Daraufhin drängt sich das Volk zusammen, umzingelt den Altar, sieht und hört die beiden Leute, weil sie sich ja gar nicht die Mühe geben, sich zu verstecken. Man zieht sie unter dem Altar hervor, man hängt sie auf... Großer Lärm! La Fayettes Partei, die niemals ein Unheil zu ver­bindern wußte, war entzückt über diesen Zwischenfall. ,, Unser Kriegsgesetz wird um so besser aufgenommen werden."

Lameth und Barnave, die geglaubt hatten, durch diesen 3wischenfall die Jakobiner von dem Gedanken abzu bringen, ihre Bittschrift auf dem Altar des Vaterlandes aus­zulegen, wußten nicht, daß sie es mit verblendeten Starr­töpfen zu tun hatten. Es gelang ihnen ebensowenig, den Triumph des Schimmels und seines Reiters zu hindern, sie festigten ihn im Gegenteil noch.

Büro. Sie mußten bei ihren eigenen Leuten Unterschriften sammeln, denn das Volk unterzeichnete nicht. In diesem Augenblick traf der Magistrat ein, prunklos, belebt von dem Schimmel, der sich gern zeigen wollte, dahinter die Na­tionalgarde, die damals La Fayette oder seinem Pferde er­geben war. Man proklamierte eine Proklamation, die nie­mand hört. Niemand rührt sich. Fünfzig Barbiergesellen, die in den Wirtshäusern von Gros- Caillou gekneipt hatten, hören, man sei hergekommen, um die Unterzeichnung eines Schriftstücks zu verhindern, das sie nicht kennen; sie be­werfen die Gardisten, die sie in den Schatten stellen, mit Steinen und bringen sich in Sicherheit. Einige betrunkene Schafsköpfe machen es ihnen nach: sie greifen die Gar­disten an und fliehen. Man schießt und man tötet... Frauen, Kinder... friedliche Bürger, die nicht wissen, wo­hin fliehen, und die nur hergekommen sind, um frische Luft zu schöpfen... Wie konnte La Fayette , wie konnte Bailly, wie konnte der Magistrat damals nicht empfinden, daß nur Unschuldige leiden mußten? O La Fayette, wie schul­dig bist du! O Bailly, wie schwach du bist! O Magistrat, wie völlig du den Kopf verlorst!... Ich sah diese Wirkungen der Intrigen und des Parteihaders voll Empörung mit an; aber meine Empörung richtete sich nicht, wie die des Volkes, gegen die Nationalgarde. Das Volk ähnelt dem Hunde, der den Knüppel beißt, statt die Hand, die den Knüppel hält. Ich machte mich auf den Heimweg, nachdem die lächerlich schauerliche Szene zu Ende war, und ich hatte das Glück, in der Nähe des Palais Royal vor dem Laden cines Strumpfwarenhändlers einem armen National­gardisten das Leben retten zu können. Er war von einer Gruppe von Obsthändlerinnen und Heringsweibern um­zingelt, die ihn würgen wollten. Ein sechzehnjähriger Straßenbengel wollte ihm gerade einen Stich mit einem Messer versetzen, das er von einer Kaldaunenhöferin ge= liehen hatte. Ich fiel ihm in den Arm und bemächtigte mich des Messers, mit dem ich die Weiber auseinandertrieb, so daß der junge Nationalgardist sich in Sicherheit bringen fonnte. Ihm wurde weiter fein Leid zugefügt, als daß man ihm Blenet nachrief( der Spitzname La Fayettes). Mich selbst bewahrten mein alter Hut und meine nägel­beschlagenen Schuhe vor Schlimmerem. Ich warf das Messer der Kaldaunenhöferin, die mir den Bauch aufzuschlitzen drohte, in einen Keller, und schloß mich der Gruppe der Neuhinzugekommenen an, mit denen zusammen ich mich in den Park der Gleichheit( Palais Royal ) begab.

Als ich den Park betrat, den ich schon so oft gesehen hatte, traf ich wieder auf all die Mißstände, die ich darin zu beobachten gewohnt war. An fast jeder Säule wurde ich von übel aussehenden Individuen eingeladen, mich einer vornehmen Spielergesellschaft anzuschließen; weiterhin sah ich eine alte Dirne ein junges, faum erwachsenes Mädchen herumführen.

September 1792

Das Blutbad beginnt...

Gegen Abend begab sich der Franziskanerklub hinaus. Das Volk, das das Vorgehen der Jakobiner durchkreuzt glaubte, war friedlich herzugeströmt, um sich den Ort andet worden. Der 2. bis 5. September schufen grauenvolles zusehen, wo der Aufruhr stattgefunden hatte; wo es in der gleichen Woche der Erneuerung der Föderation beigewohnt und in wildem Aufruhr zwei Männer hatte gehenft werden sehen. Die Mitglieder des Klubs langten an. Kein Aufruhr. Sie gruppierten sich um den Altar, wie Ranglisten in ihrem

Am 10. August war die Revolution erneuert und vollen­Entsetzen. Man muß diese furchtbaren Ereignisse mit Unpar­teilichkeit schildern, und der Chronist muß falt bleiben, wenn sein Leser erschauert. Keine Leidenschaft darf ihn erregen; sonst wäre er ein flammender Volksredner. kein Geschichts­schreiber.

Sonnt.- Mont., 26. u. 27. August

Am Sonntag, dem 2. September 1792, ging ich um sechs oder sieben Uhr von Hause fort und wußte wie gewöhnlich nicht, was passierte. Ich ging nach meiner Insel, meiner ge­liebten Insel Saint- Louis, von der ein Schurke( sein Schwie­gersohn Augé ) mich durch die Kinder des Volts hat vertrei­ben lassen. O, wie boshaft ist ein Mensch ohne Erziehung!... An diesem friedlichen Ort, wo ich ängstlich allen Blicken aus­teiche, höre ich nichts, abgesehen davon, daß ein Dienstmäd­then einem andern über die Straße zuruft:

,, Catherine, mir ist, als wenn man Sturm läutet! Steht denn noch irgend etwas bevor?"

Catherine antwortete: Ich fürchte: ja; mein Herr läßt alle Türen zuschließen."

Ich entfernte mich, ohne mir den Anschein zu geben, als hätte ich ihre Unterhaltung gehört. Ich ging nicht ganz um die Insel herum, sondern nahm meinen Weg über den Port- au- Blé und den Pont Marie. Dort wurde getanzt. Ich beruhigte mich. Als ich bei dem großen Wirtshaus am Ende der Brücke anlangte, sah ich auch dort tanzen, aber schon schrie ein Passant:

Wollt ihr wohl aufhören za tanzen! Anderswo ist ein anderer Tanz im Gange!"

Der Tanz brach ab; ich ging mit bedrücktem Herzen wei­ter. Da ich nichts Genaues wußte, begab ich mich ins Cafe Robert.

Dort traf ich gewöhnlich einen jungen Menschen, einen Schweizer , der aber in Paris geboren war und alle Neuig­teiten seines Stadtviertels kannte; er wohnte in der Gegend des Théatre Français ,

"

,, Man mordet in den Gefängnisfen," sagte er zu mir. An­gefangen hat man in meiner Gegend, in der Abtei. Man sagt, ein Mann sei daran schuld, der auf der Grève an den Pranger gestellt sei und gerufen habe: er sch..... auf die Nation und ähnliche Beschimpfungen. Die Menschen sind in Aufregung geraten.

Man hat ihn, auf die Präfektur gebracht, und er ist zum Tode durch den Strang verurteilt. worden. Er sagte, alle Gefängnisse dächten wie er, und man werde bald etwas er­leben; sie hätten Waffen und sollten auf die Stadt losge­lessen werden, sobald die freiwilligen Truppen abgezogen feien... Deshalb hat man sich heute vor den Gefängnissen zusammengerottet, hat sie erstürmt und schlägt alle Gefange­nen tot, außer denen, die in Schuldhaft fizzen."

Ich hörte meinem jungen Freunde mit Erregung, mit Entsetzen zu. Aber das Bild, das er entwarf, war noch weit von der Wahrheit!... Nachdem ich die Zeitungen gelesen hatte, fragte ich ihn, ob er nach Hause gehen wolle, denn ich war in Angst versetzt.

,, Gern," sagte er. Wir wollen an der Abtei vorbeigehen, dann begleite ich Sie ganz nach Hause."

Wir gingen zusammen. In der geräuschvollen Rue Dau phine, die noch immer diesen Namen trug, schien alles von einer Art Panik erfaßt zu sein. Wir kamen ungehindert bis zum Tor des Gefängnisses. Dort stand ein Kreis von Zu­schauern. Die Henker befanden sich diesseits und jenseits des Teres. Die Richter waren im Sizungssaal versammelt. Die Gefangenen wurden ihnen zugeführt; sie wurden nach ihrem Namen gefragt, man suchte die Notizen über sie heraus.

Der Grund ihrer Verhaftung entschied über ihr Schicksal. Ein Augenzeuge hat mir erzählt, daß die Terroristen häufig mit den Richtern zusammen das Urteil fällten. Ein großer Mann mit fühlem, ernstem Gesicht, wurde vorgeführt. Er war angeklagt, weil er ein Feind der Regierung, ein Aristo­Trat war. Man fragte ihn, ob er schuldig sei.

,, Nein, ich habe nichts getan, man hat nur meine Gefühle beargwöhnt; in den drei Monaten, seit ich in Haft bin, hat man nichts gegen mich gefunden."

Diese Worte stimmten die Richter zur Milde, doch da schrie eine Stimme:

Ein Aristokrat! Bringt ihn nach der Force!" ,, Gut, nach der Force," erwiderte der Mann; ich werde nicht schuldiger dadurch, daß ich das Gefängnis wechile."

Der Unglückliche wußte nicht, daß das Wort Nach der Force", wenn es in der Abtei ausgesprochen wurde, das Todesurteil bedeutete, wie der Ruf: Nach der Abtei!" in den andern Gefängnissen die Opfer zur Hinrichtung verdammte.

Er wurde durch den Schreier hinausgestoßen und passierte die verhängnisvolle kleine Tür. Der erste Säbelhieb über­raschte ihn, dann aber senkte er die beiden Arme und ließ sich töten, ohne eine Bewegung zu machen.

Ich habe nie Blut sehen können, man fann also ermessen, wie mir zumute war, als der neugierige Fraignères mich dicht an die Säbel heranschob. Ich schauderte. Ich wurde von einer Schwächeanwandlung übermannt und trat schnell beiseite. Ein durchdringender Schrei eines Gefangenen, der furchtsamer war als die andern, erfüllte mich mit so viel Entrüstung, daß ich daraus die Kraft schöpfte, mich zu ent fernen.. Ich sah nichts weiter.

Auch im Chatelet waren die Hinrichtungen im Gange.. Alles strömte nach dem Hotel de la Force. Aber ich ging nicht mit. Ich glaubte diesen Greuel zu entfliehen, wenn ich mich in mein Heim flüchtete... Ich legte mich zu Bett... Doch den Schlaf erfüllte die Wut des Gemezels, so daß ich nur wenig Ruhe fand und oft in plöglichem Erschrecken jäh auffuhr; aber das war nicht alles. Gegen zwei Uhr hörte ich unter meinen Fenstern eine Rotte von Kannibalen vorbei­ziehen, von denen feiner Pariser Dialekt hatte; es waren olles Fremde. Sie sangen, sie brüllten, sie johlten. Mitten drin hörte ich sie schreien:

Auf an den Bernhardinern!" ,, Auf nach Saint- Firmin!"

Saint- Firmin war ein Kloster, und im Bernhardiner­Kloster befanden sich damals die Zuchthaussträflinge. Enige dieser Terroristen riefen: Es lebe die Nation!" Einer unter ihnen, den ich wohl hätte sehen mögen, um seine scheußliche Seele in seinen gemeinen Zügen zu lesen, rief aus Leibes­fräften:

Es lebe der Tod!".

Das habe ich nicht vom Hörensagen, ich habe es selbst ge= hört, und ich schauderte.

( Fortschung folgt.)