Freiheit

Einzige unabhängige Tageszeitung Deutschlands  

Nr. 1992. Jahrgang

Saarbrücken  , Mittwoch, 29. August 1934

Chefredakteur: M. Braun

Sulzbach und Ehrenbreitstein  

Seite 3

Horst Wessel  - Milieu

Seite 4

Goebbels in St. Moritz  

Seite 4

Brief aus New York  

Seite 7

Wien   ,, vermißt Papen  

Zur diplomatischen Krankheit des deutschen   Gesandten und bevollmächtigten Ministers

Wien  , 28. Auguft.( Eig. Ber.) Mit verständnisvollem

Lächeln hat man hier von der Unpäßlichkeit des deutschen   Ge­sandten und Vizekanzlers a. D. von Papen Kenntnis genom= men. Er war bekanntlich verhindert, den Treueschwur von Ehrenbreitstein   mitzumachen. Man glaubt, daß es sich um eine diplomatische Krankheit handelt, da Herr von Papen bei seinem kurzen Antrittsbesuch in Wien   einen durchaus frischen Eindruck machte und die körperlichen und seelischen Folgen der Attacke, die am 30. Juni von den Nationalsozia: listen gegen ihn verübt worden ist, überwunden zu haben schien.

Man wundert sich nicht, daß Serr von Papen einstweilen feine Sehnsucht verspürt, nach Wien   zurückzukehren, sondern vielmehr den Urlaub auf seinem Schlosse Wallerfongen überraschend lange ausdehnt. Er fühlt sich wohl im Saar: gebiet recht sicher und wünscht, daß eine gewisse Entspannung in Oesterreich   eintritt, noch ehe er nach Wien   zurückkehrt. Hier ist er nämlich nicht gerade freundlich, noch nicht einmal höflich aufgenommen worden. Außer der unvermeidlichen Begegnung mit dem Bundespräsidenten Miklas und dem Aus­tausch der offiziellen Begrüßungsrede sind dem Herrn von

gierungsrat von Boſe waren inzwischen schon ermordet.

Hätten sie noch gelebt, als Reichskanzler Hitler Herrn von Papen flehentlich beschmor, nach Wien   zu gehen, würde Papen  wahrscheinlich ihre Befreiung erreicht haben. Daß er felbft dem Blutbad des 30. Juni nur entgangen ist, weil er unter dem Schutze Hindenburgs und der Reichswehr   stand, darf man als sicher annehmen.

Der Tätigkeit Papens in Wien   sieht man nicht ohne Sorgen entgegen. Man erinnert daran, daß er eigentlich stets eine unglückliche Hand gehabt hat und das Gegenteil von dem erreichte, was er beabsichtigte. So war es schon in der Kriegszeit, wo seine diplomatischen Aufgaben recht standalöse Folgen hatten. So entwickelte sich seine Kanzlerschaft und nachher sein plögliches Bündnis mit Hitler zu einer Nieder­lage aller konservativen Elemente in Deutschland  . Sein be= rühmter rednerischer Vorstoß in Marburg   kostete seinen nächsten Mitarbeitern das Leben und entmachtete die Konser­vativen vollständig. Das Vertrauen zu einem so unglücklichen Politiker ist in allen politischen Kreisen Wiens gering.

Papen noch keinerlei politische oder gesellschaftliche Au Dr. Edgar Jung

knüpfungen in Wien   gelungen. Die deutsche   Gesandtschaft war und ist seit dem 25. Juli isoliert, und die österreichische Bundesregierung läßt sie durchaus fühlen, daß die Be reinigung der Differenzen mit Hitler- Deutschland noch auf fich warten läßt. Man rechnet damit, daß Herr von Papen nicht vor Mitte oder Ende September nach Wien   zurück: fehren wird.

Es ist sicher, daß Herr von Papen die undankbare Mission in Wien   nur widerwillig angenommen hat. Er wollte ur= sprünglich nach der Ermordung seines Freundes Jung mit der Regierung des blutigen dritten Reiches" nichts mehr zu tun haben. Erst als ihm der Reichskanzler in großer Er= regung die furchtbaren außenpolitischen Folgen vorstellte, wenn der Konflikt mit Desterreich sich zuspite, hat Herr von Papen sich unwillig bereiterklärt.

Eine der Bedingungen Papens war, daß ihn sein Sekretär, Baron von Tschirschfy, in die deutsche   Gesandtschaft nach Wien   begleiten dürfe. Tichierschky war am 30. Juni ver: haftet und nach der Festung Torgan gebracht worden. Er wurde nach Sträflingsart fahl geschoren und nach vierzehn Tagen entlassen. Jung und der erste Sekretär Papens  , Res

Jetzt erst erfährt seine Familie.

München  , 28. Aug. Der Verfasser der Marburger   Papen­Rede, Dr. Edgar Jung  , gehörte mit zu den Opfern des 30. Juni. Freilich fonnte man bisher nicht erfahren, unter welchen Umständen Jung ermordet wurde. Jetzt hört man, daß er schon acht Tage vor dem 30. Juni im Gefängnis der Gestapo   in der Berliner   Prinz- Albrecht- Straße saß. Am Mittag des 30. Juni holten ihn zwei SS.- Leute zum Trans­port nach dem Columbiagefängnis in Berlin- Tempelhof   ab. Sie ließen Edgar Jung   vorausschreiten und schoffen ihn dann auf der Treppe hinterrücs mit ihren Pistolen nieder. Vom Augenblick der Verhaftung bis eine Woche nach dem Tode, als nämlich dem Rechtsbeistand in einem Kästchen die Asche Jungs ausgehändigt wurde, war die Familie des Er­mordeten über das Schicksal des Gatten und Vaters völlig im Ungewissen; übrigens auch Herr von Papen, trotz aller Bemühungen des Vizekanzlers, der wenigstens er­fahren wollte, was sie mit seinem ersten Mitarbeiter und langjährigen Freund angestellt hatten.

Man glaubt dem Führer" nicht

Die kleinste Tat wäre mehr wert als seine großen Worte

Paris  , den 28. August.

Der Leitartikler des Intransigeant" Gallus be= schäftigt sich mit der Hitlerrede. Hitler   habe erklärt, so sagt er, nur die Saarfrage stehe einer Verständigung zwischen Deutschland   und Frankreich   im Wege. Und Gallus antwortet darauf:

Tatsächlich steht nichts einer Verständigung der beiden Völker im Wege, nichts außer dem schlechten Willen des Kanzlers. Haben wir Deutschland   durch wahnsinnige Worte herausgefordert, haben wir fortgesetzt Zwischenfälle her­vorgerufen, haben wir den Völkerbund verlassen, wo man sich friedlich über die gemeinsamen Interessen Europas   un­terhielt? Haben wir unsere Militärausgaben verdoppelt? Hat Doumergue ein Buch geschrieben, das sich Mein Kampf  " nennt und voll ist von den deutlichsten und unver­blümtesten Drohungen? Dieses Buch soll veraltet sein, so! Aber man veranstaltet dauernd Neuausgaben, ohne etwas darin zu ändern, und man verkündet allenthalben, daß es die Bibel des deutichen Volfes sein soll.

Es ist übrigens so deutlich, daß der Kanzler nicht wagt, uns mit seinem Inhalt bekannt zu machen und seine franzö= fische Uebersehung verboten hat.

Wenn der Kanzler will, daß wir an seine friedlichen Ge­fühle glauben, dann müßte er deutlich erklären, daß er seine alten Grundsäße ablehnt, die auf unsere Vernichtung ge­richtet waren. Wenn er sagt, die Saarfrage trenne uns, dann spricht er nicht die Wahrheit. Das Saarproblem ist kein fran­zösisches Problem. Wir fordern nicht die Saar  . Sie wird von einer internationalen Kommission regiert. Sie wird am nächsten 13. Januar erklären, ob sie diese Kommission der

deutschen   Reichskanzlei vorzieht. Und das ist alles. Wieso haben wir mit dieser Sache zu tun?

Wenn Hitler   die französisch- deutsche Annäherung wünscht, wird diese Annäherung eine Tatsache sein. Aber wir haben fie 10 Jahre lang gesucht, und wir haben immer nur Wahn­finnige oder Ränkeschmiede vor uns gesehen. Die Worte sind ausgezeichnet, aber die kleinste Tat wäre mehr wert. Excelsior"

hält die Rede Hitlers   in Ehrenbreitstein   für unehrlich, er wolle nur das Ausland beruhigen.

Journal"

meint, solche Reden sollten von Taten begleitet sein. Frank­ reich   suche diese Taten vergebens. Eine der ersten Taten müsse die Rückkehr zum Völkerbund sein. Erst wenn man solche Taten sehe, könne man Hitlers   Worten Glauben schenken, Frankreich   habe Vertrauen zur Unparteilichkeit des Völkerbundes.

Die Schuld des Kanzlers

Kühle Feststellungen in England

London  , den 28. August. Die Berichte von Hitlers   Rede hat man hier geradezu mit Neugier erwartet. Wenn man die Montagblätter darauf hin ansieht, wie sie die Rede werten, so muß man fest­stellen, daß der Eindruck in den englischen Kreisen wenig günstig ist. Man sagt allerdings, es hätte noch schlimmer tommen können Man hat sich daran gewöhnt, daß Hitler  sich in seinen Reden oft gehen ließ, und ist schon froh, daß er sich diesmal gehütet hat, herausfordernde Worte zu ge= brauchen. ( Fortsetzung siehe nächste Seite.),

30 Jahre Kerker

Rachejustiz gegen Illegale

Das Deutsche Nachrichtenbüro meldet:

dub. Berlin  , 27. Aug. Der Anklage der Vorbereitung zum Hochverrat hatten sich am Montag vor dem zweiten Senat des Voltsgerichtshofs die Angeklagten zu verants worten, die die illegale marristische Zellenschrift Der rote Stoßtrupp" verbreitet hatten. Sie hatten ferner geheime Be

ziehungen zu der nach Prag   geflohenen SPD  - Leitung unter­

halten und von dort rund 1000 Mark zur Finanzierung ihrer hochverräterischen Umtriebe bekommen.

Das Urteil gegen den Hauptangeklagten Rudolf Küsters meier wegen Vorbereitung zum Hochverrat und Verbrechens gegen die Verordnung zur Abwehr heimtückischer Angriffe gegen die Regierung der nationalen Erhebung vom 21. März 1933 lautete antragsgemäß auf. zehn Jahre Zuchthaus und zehn Jahre Ehrverlust. Die weiteren Mitglieder des Roten Stabes", Karl Zinn und Willi Strinz, erhielten je fieben Jahre Zuchthaus und fünf Jahre Ehrverlust, während der 32jährige Willi Schwarz mit drei Jahren Zuchthaus davon= fam. Die Strafen der übrigen drei Angeklagten bewegten fich zwischen eineinhalb und drei Jahren Gefängnis.

Katastrophenprophet Schacht Leipzig   gegen Ehrenbreitstein  

An dem gleichen Tag, an dem der Führer" und Reichs kanzler auf dem Ehrenbreitstein   vor den Gratis- Rheins reisenden aus dem Saarland   eine seiner zahlreichen, schwungvollen, aber wenig inhaltsreichen Reden hielt, sprach bei Eröffnung der Leipziger Messe ein anderer " Führer" eine weniger schwunghafte, aber um so inhalts­reichere und bedeutsamere Rede. Der Wirtschaftsdiktator und Reichsbankpräsident Schacht hat vor den Vertretern der deutschen   Industrie und des Handels, sowie der in­und ausländischen Presse einen Ueberblick über das Außenhandels- und Devisenproblem gegeben und gleich­zeitig ein Programm für die nächste Zukunft aufgestellt. Die Rede des Reichsbankpräsidenten mußte auf die deutsche   Wirtschaft einen geradezu niederschmetternden Eindruck machen. Was wir an dieser Stelle wiederholt behauptet haben, hat nunmehr Schacht selber bestätigen müssen: mit der Politik der Arbeitsbe schaffung, mit der Politik der verantwor tungslosen, künstlichen Belebung Binnenwirtschaft ist es zu Ende und an die Stelle der Politik der Arbeitsbeschaffung tritt die Politik der Devisenbeschaffung, der alle wirtschaftspolitischen Maßnahmen untergeordnet werden müssen. Auf diese Weise soll die offene Inflation, die den Zusammenbruch des Systems mit sich bringen würde, verhindert werden.

der

Es ist bereits mehrfach aufgefallen, daß die deutsche   Ein­fuhr nicht zurückgegangen ist. Sie war sogar im ersten Halbjahr 1934.gegenüber der gleichen des Vorjahres um 10 Proz. höher, obwohl die Aufuhr systematisch zurückging und die Devisenlage immer bedenklicher wurde. Die Folgen find bekannt: statt des bisherigen Ausfuhr­überschusses ist ein Einfuhrüberschuß von etwa 225 Millionen Mark im ersten Halb­jahr 1934 eingetreten. Bei der katastrophalen Lage der Reichsbank, deren Gold- und Devisenbestand auf die geradezu groteske Summe von nur rund 78 Millionen Mark gefallen ist, und bei der Aussichtslosigkeit, den Er­port wesentlich zu erhöhen, stand Dr. Schacht schon seit einiger Zeit vor der Alternative: entweder den Jm­port zu drosseln oder den Dingen freien Lauf zu geben und damit die Inflation heraufzubeschwören. Er versuchte das Primat der Devisenpolitik gegenüber den Belangen der waren­erzeugenden Wirtschaft zu betonen. Er stieß aber hierbei auf den Widerstand mächtiger Industriegruppen, deren Interessen der bisherige Wirtschaftsminister Dr. Schmitt pertrat.

Je mehr die Schwer- und die verarbeitende Industrie den Arbeitsbeschaffungsrummel mitmachten, desto größer war der Bedarf an Rohmaterial, desto mehr mußte also die Einfuhr forciert werden. Um die Beschäftigung der