Deutsche   Stimmen Beilage zur Deutschen Freificit" Ereignisse und Geschichten

Donnerstag, den 6. September 1934

Schinken sehen dich an

Darré flüchtet in die Vorzeit

um

Zu dem mancherlei Krakeel, der sich hinter den Kulissen des geknebelten deutschen Geisteslebens abspielt, gehört der die germanische Frühgeschichte. Die ernste Wissenschaft hat festgestellt, daß die alten Germanen vor der Berührung mit dem Christentum und dem römisch­griechischen Mittelmeerkreis im Zustand primitivster Bar­barei dahin lebten. Das halten die Rassepatrioten um Wirth und Leers nicht aus, denn Christentum und Mittelmeerkult waren doch stark verjudet und die ganze nationalsozia­listische Rassetheorie fliegt auf, wenn die ernste Forschung Recht hat. Also muß den namhaftesten deutschen Histo­rikern eins fehlen, nämlich jene ,, Intuition", wie sie vom dritten Reich" gebraucht wird, jene geniale Eingebung, die ohne wissenschaftliche Skrupel aus den ,, hochwertigen Erb­anlagen" der Germanen den Schluß zieht, daß sie lange vor Karls des Großen gemeiner Zwangs- Christianisierung eigene hochstehende Kultur besessen haben müssen. Wobei sich die Wirth und Leers auf ein bißchen gewiefte ,, Spaten­forschung" und im Ernst!- auf den angeblich Jahr­tausende alten Ruf des westfälischen Schinkens berufen.

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Auf diesen Schinken gestützt, zieht jetzt auch Reichsernäh­rungsminister Darré gegen die pedantischen Historiker los, die schon Wirths famose Urlinda als liberale Fälschung ent­larvt und den Mann in der Berliner   Aula wissenschaftlich hin­gerichtet haben, statt seiner genialen Intuition nachzugehen. Der Minister mit dem durchaus französischen Erb­greift zur Feder, um in der ,, Deutschen Allgemeinen" einen geharnischten Artikel für die höchst dunkle ger­manische Frühkultur" und gegen die zünftige Forschung

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loszulassen. Geben wir zur allgemeinen Erheiterung einiges aus der Schlußpartie:

..Jahrhunderte hindurch, vor der Bekehrung der Sachsen  , ist der Import westfälischer Schinken ein der wesentlicher Posten römischen Außen­handelsbilanz. Also darf man wohl annehmen, daß die Westfalen vor ihrer Bekehrung bereits so gute Schweinezüchter waren wie heute auch noch. Ueber eine Tatsache möge sich die deutsche   Gelehrtenwelt aber in­deutig klar werden: Der mangelnde Mut der weitaus größten Mehrheit der deutschen Gelehrtenwelt, zu den Dingen der germanisch- deutschen Frühgeschichte ehrlich und ohne ängstliches Schielen nach Jesuitismus, Freimaurerei  und Judentum Stellung zu nehmen, hat die Achtung der deutschen Jugend vor dieser Art Gelehrtentum weitest­gehend erschüttert. Diese Achtung wird auch nicht wieder­hergestellt durch unsachliche Husarenritte' namhafter Ge­lehrter gegen die ,, blutigen Laien" in Angelegenheit der germanischen Frühgeschichte."

Da haben wirs: auch an der Verfälschung der teutonischen Urgeschichte sind Jesuiten  , Freimaurer   und Juden schuld!

Enttäuscht von den Historikern, verherrlicht Darré in seinem Schreiben die blutigen Laien und Nichtfachleute; er bleibt damit sich und der braunen Staatsauffassung treu. Immerhin wäre es fürs., dritte Reich" besser, wenn er sich mehr um Schinken kümmerte, denn es steht bös um ein leidendes Volk, dessen Ernährungsminister sich in die Vor­zeit flüchtet, weil er von der Gegenwart auch nichts versteht. Bruno Brandy

Pariser Theatersaison beginnt Optimismus auf der ganzen Linie

,, Fermeture anuelle", diese beiden Worte, die in diesen Sommermonaten an einer großen Zahl von Läden und Lokalen von der glücklichen Ferienkrankheit" der Pariser  beredtes Zeugnis ablegen, prangen zur Zeit auch an den Portalen der meisten Theaterhäuser der Seinestadt. Es ist die Zeit der Pläne, der Vorbereitung zum neuen Start im Herbst, und da man die Bühnen, die auch während dieser toten Saison" allabendlich zum Besuch einladen, an den Fingern einer Hand aufzählen.

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Ohne Ferien spielen in diesem Jahre nur die beiden ersten Staatstheater und drei besonders glückliche Revuebühnen ihre Serienerfolge weiter: Da ist Charells ,, Weißes Rössl", das im Théâtre Mogador kurz vor seinem tausendsten Abend angelangt ist und diesen wohl auch noch in elegantem Endspurt vor dem Herbst, da es durch Offenbachs ,, Pariser Leben  " in großer Starbesetzung abgelöst werden soll, er­reichen wird. Ohne ihren Hauptstern, der augenblicklich die Provinz bereist, läuft auch allabendlich die Cecil- Sorel­Revue Vive Paris" im Casino de Paris   weiter, der schon bald ein neuer Ausstattungsschlager Direktor Varnas mit dem Titel ,, Parade de France" und den Operettenkräften Lys Gauty und Parysis als darstellerischen Attraktionen folgen soll. Auch in den Folies- Bergère   steht Pro­grammwechsel bevor: die unverwüstliche Mistinguett, die über ein Jahr hier wieder die Pariser   und vielleicht noch mehr die Fremden und aus der Provinz Zugereisten begeistert hat, wird zunächst einen Film drehen, während Edmonde Guy als weiblicher und Sparado als männlicher Star in einer neuen großen Schau starten werden.

Neben diesen Beispielen der weltberühmten Pariser Revue­kunst kann man auch in diesen heißen Wochen das klassische französische   Repertoire in Oper und Schauspiel bewundern. Die Comédie Française  , das Haus Molières  , hat in der verflossenen Saison zwei große Inszenierungserfolge ver­zeichnen können: einmal die, Oedipus  "-Neueinstudierung, die auch in die kommende Spielzeit übernommen werden soll, zum anderen die Aufführung von Shakespeares ,, Coriolan", die die ehrwürdige Stätte französischer Theatertradition während der kritischen Februartage dieses Jahres fast in den politischen Tageskampf gezogen hat. Diese beiden großen Klassikerinszenierungen haben bekanntlich dem Direktor des Instituts, Emile Fabre  , einen Ruf nach Stradford on Avon eingebracht, wo er gastweise ein Werk Shapespeares in­szenieren soll. Unter seiner Leitung wird das Ensemble der Comédie im kommenden Winter auch erstmalig eine Klassikeraufführung verfilmen. Vorgesehen ist hierfür eine Darstellung von Molières   Précieuses ridicules". Neben einer großen Reihe neuerer und neuester dramatischer Werke soll das Repertoire der nächsten Spielzeit wiederum zwei Neuein­studierungen klassischer Schauspiele umfassen, und zwar Horace" und Athalie", letztere mit der Musik Felix Mendels sohn- Bartholdys. Hierfür wird jedoch ein kleiner Umbau der Staatsbühne notwendig sein, vor allem um Raum für das vorgeschriebene große Orchester zu schaffen. Die Comédie Française   wird daher wahrscheinlich für kurze Zeit in ein Das treueste Publikum anderes Haus übersiedeln müssen. darf wohl unter allen Pariser   Bühnen die Große Oper ihr eigen Sie hat es im Laufe der letzten Spielzeiten verstanden, ihrer Bestimmung als ,, Académie Nationale de la Musique" treu z ubleiben und doch in einer Reihe groß ange­legter Neueinstudierungen ihr Bestreben ,,, mit der Zeit zu gehen", kund zu tun. Als größter Erfolg der jetzt beendeten Saison muß die ausgezeichnete strichlose Neuaufführung von Mozarts ,, Don Juan" unter der vorbildlichen Leitung Bruno Walters angesprochen werden. Der Intendant Jacques Rouché   kündigt auch für die neue Spielzeit Neuinszenie­rungen bedeutender Repertoirewerke( u. a. Parsifal  , Tristan, Figaros Hochzeit  , Zauberflöte  , Oberon, Salome  ) an, daneben werden einige Erstaufführungen und vor allem eine Anzahl neuer Tanzwerke unter Leitung des ausgezeichneten russi­schen Ballettmeisters Serge Lifar   besonderes Interesse be­anspruchen dürfen.

nennen.

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Parteileben

Gottfried Keller  

Aus der ,, Trinklaube", 1840-1850

Wer über den Parteien sich wähnt mit stolzen Mienen, Der steht zumeist vielmehr beträchtlich unter ihnen.

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Trau keinem, der nie Partei genommen Und immer im trüben ist geschwommen! Doch wird dir jener auch nicht frommen, Der nie darüber hinaus will kommen.

Fällt einer ab von eurer Schar, So laßt ihn laufen und richtet nicht, Doch dem, der zu euch stoßen will Von dort, dem schauet ins Gesicht!

Wenn schlechte Leute zanken, riechts übel um sie her; Doch wenn sie sich versöhnen, so stinkt es noch viel mehr!

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, Was du nicht willst, das man dir tu', Das füg auch keinem anderen zu!" Laß die Gesinnung merklich sein, So ist der halbe Sieg schon dein. Zu diesem Wort lacht manch ein Schuft, Der sich auf den Erfolg beruft; Doch du erlebst, daß er wird wandern, ' s trifft eben einen nach dem andern!

Halte fest an der Partei, wenn du ein Parteimann bist; Aber unentwegt verleugne jeden Lügner und Sophist!

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Betrachtet eurer Gegner Schwächen Und lernt, am besten euch zu rächen, Das eigne Unkraut auszustechen!

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Als Gegner achte, wer es sei! Strauchdiebe aber sind keine Partei!

Die beiden anderen vom Staat subventionierten Bühnen Der Gott der Rache

haben in der letzten Spielzeit nicht allzu günstig abge­schnitten. Das Odéon wird mit einer Komödie von ,, Pile ou Face" und einem großen Ausstattungswerk von Saint- Georges de Bouhélier   ,, Jeanne d'Arc  " die Herbstsaison eröffnen. Die Opéra Comique   wird, dem Beispiel der großen Oper folgend, in Zukunft nur 4 Tage der Woche spielen, an den übrigen Abenden sollen nach Möglichkeit Durch Kammermusik- und Gesangskonzerte stattfinden. diese Maßnahmen wie durch häufige Rundfunkübertragungen soll das übergroße Defizit der letzten Jahre vermindert

werden.

Von den Privatbühnen darf der Theaterkonzern der Direktion Isola schon rein mengenmäßig die größte Beach­tung fordern. Die Brüder Emile und Vincent Isola   werden den kommenden Theaterwinter über vier Bühnenhäuser( Théâtre des Varietés, Théâtre du Châtelet  , Théâtre Sarah- Bernhardt und Théâtre Mogador  ) verfügen. Sie haben auch schon ihre Sensation annonciert: Cecile Sorel  , die große Tragödin, die zu Beginn der vorigen Spielzeit plötzlich die Comédie Française   verließ, um ein ganzes Jahr hindurch als Revue­star sich im Ruhm der leichten Muse zu sonnen, wird unter der Direktion Isola zur ernsten Schauspielkunst zurück­kehren. Gleich starkes Interesse beansprucht in theater­interessierten Pariser   Kreisen die Uebernahme einer eigenen Direktion durch die ehemalige Kollegin der Sorel, die auch im Film überaus erfolgreiche, schöne Marie Bell  , unter deren Leitung Lucienne Bogaert  , Clariond und Lugné- Poe   das englische Erfolgstück ,, Miß Ba" im Théâtre des Ambassadeurs kreiern werden. Von den übrigen nicht sehr zahlreichen reinen Schauspielbühnen seien das elegante Theatre Michodière, in dem eine neue Komödie Paul Géraldys Ende November erscheinen soll, und das modern geführte Théâtre de l'Oeuvre genannt, das u. a. den Prozeß Oscar Wildes" von Maurice Rostand   angenommen hat.

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Ein besonderes Kapitel stellt diesmal auch die Operette dar. Allem Anschein nach wird die Saison 1934/35 eine große Offenbach  - Renaissance bringen.

Vom ,, Pariser  

eine

Leben", das die Brüder Isola im Mogador vorbereiten, war bereits die Rede. Gleichzeitig künden die Direktoren der Bouffes Parisiens   noch. für die ersten Spielmonate eine Neubearbeitung und Neuinszenierung von Offenbachs ,, Kreolin  " an, für deren Titellrolle Josephine Baker  Spezialbesetzung in jeder Hinsicht vorgesehen ist. Schließ lich hat Max Reinhard   den Plan, im Théâtre Pigalle, Pigalle, das bis vor kurzem seine Fledermaus­Einrichtung spielte, Die schöne Helena  " herauszubringen.

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Eine nationalsozialistische Fälschung

Der Dichter Schalom Asch   hat, wie mitgeteilt, seine Zustimmung zur Aufführung seines Dramas Der Gott der Rache" an einer Budapester Bühne verweigert, weil er be fürchtete, daß sein Stück in dieser Zeit verschärfter Reibungs­flächen mißverstanden und eventuell zu Gehässigkeiten An­laẞ bieten könnte. Das Stück gestaltet die Tragödie eines unwissenden Juden, der, Besitzer eines Hauses der Liebe", sich einbildet, durch Gebete und dadurch, daß er der Syna­goge eine Torah- Rolle stiftet, sein eigenes Kind vor dem Herabsinken in seine Sphäre zu bewahren. Als dies doch geschieht, verzweifelt er und glaubt hieran einen Fingerzeig Gottes, des Gottes der Rache, der die Schuld der Väter an den Kindern ahndet", zu sehen. Mit einer Auseinander­setzung zwischen Judentum und Christentum oder zwischen Juden und ihren Gegnern hat das Stück nicht das geringste Die Berliner   einflußreiche nationalsozialistische Wochenschrift ,, Die Wahrheit"( Nr. 34 vom 25. August) aber knüpft an die Budapester Meldung über den Inhalt des Briefes von Schalom Asch   an den Direktor des Theaters am Bethlen- Plats" die folgende Betrachtung:

zu tun.

,, Die Handlung dieses Stückes spielt sich irgendwo in einem östlichen Ghetto ab, und so toll wirbelte darin der Haß gegen alles Nichtjüdische und zumal auch gegen alles Nicht­zionistische, daß der Titel des Schauspiels voll angebracht und passend erschien. Dieser ,, Gott der Rache" war also nur ein unsäglich schmieriges und verkommenes Inferno des Hasses und der Wut gegen alles, was dem, auserwählten Volke" nicht behagte, so daß deshalb in diesem semitischen Inferno ein Christ, der sich unglücklicherweise dort hinein verlaufen hatte, so sehr gehetzt, beschimpft und diffamiert wurde, daß ein jüdisches Publikum an solcher Schauer­dramatik wohl stets und immer seine allergrößte Freude haben mußte. Und dieses Lechzen nach Haß und Rache war bei Schalom Asch   schon deshalb ganz besonders erheb­lich und ausgeprägt, weil er stets einer der bedeutendsten literarischen Vertreter für die Idee des Zionismus war und das auch heute noch ist. Jetzt aber scheint wohl auch Asch schon zu bedauern, daß er einst sich zu so einer maßlosen und nur als größenwahnsinnig zu bezeichnenden Haẞattacke gegen alles Christliche und Nichtjüdische verstiegen hatte." Dies bringt ,, Die Wahrheit" unter Riesenüberschrift auf der ersten Seite.

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Doch das ist vorläufig Zukunftsmusik, denn vorher muß der Den Verlegern gehts immer schlechter

große Zauberer eine südamerikanische Tournee und eine Reihe Wiener   Verpflichtungen absolvieren.

Die Lauheit und Unentschiedenheit der beiden letzten Spielzeiten hat den Pariser   Theaterdirektoren augenschein lich nicht den Mut zu neuen Taten genommen. Im Gegen teil, optimistischer denn je verkünden sie ihre Pläne, und wenn nicht alles täuscht, ist das Theater auf bestem Wege, sich einen Teil des an den Film verlorenen Publikums zurück­zuerobern. Dabei will auch die Regierung die Theaterleiter unterstützen: schon jetzt hat der Handelsminister Lamoureux bekanntgegeben, daß bei den nächstjährigen Pariser Festwochen eine volle Woche dem Theater und der Theaterwerbung vorbehalten bleiben soll, um eine Ab­lenkung des Fremdenstromes und eine Verteilung des Publi­kums auf andere als theatralische Veranstaltungen zu ver­hindern.

Kaum ein Monat trennt uns von den ersten Generalproben der kommenden Spielzeit. Die Arbeit hinter den ver sehen, was von den Plänen und Projekten dieser Ferien­schlossenen Theaterportalen beginnt bereits. Bald werden wir wochen im nächsten Winter sich erfüllen wird. Hoffen wir, daß es eine größere Anzahl wertvoller Werke, eine stat. lichere Zahl wesentlicher Inszenierungen als in früheren P. W. Jahren geben wird,

Ein deutliches Zeichen, wie schlecht es dem deutschen Ver­lagsbuchhandel geht, ist darin zu erblicken, daß neben dem Buchhändlerbörsenverein immer mehr Sonderorganisationen geschaffen werden, die für ihre Mitglieder Vorteile heraus­zuschlagen suchen. So wurde vor etlichen Wochen eine Ge­sellschaft mit beschränkter Haftung gegründet, die als Ge­nossenschaftsarbeit deutscher   Verleger die Gemeinschafts­arbeit" des deutschen   Verlagsbuchhandels fördern will.- Es war eine der Leistungen des Liberalismus und der Demo­kratie, deren Bedeutung weit über das Wirtschaftliche hinausging, den gesamten deutschen Buchhandel zu einigen. Das Elend, das die Hitlerei über Deutschland   gebracht hat, beginnt nun auch diese Organisation zu zersetzen.

Barometer

Unter den Besitzern von Lichtspieltheatern hat eine Be­wegung eingesetzt, die die Verbilligung des elektrischen Stroms erzwingen will. Die Bewag hat in Berlin   die Forde­rung der Theaterbesitzer statt Lichtstrom Kraftstrom zu be­rechnen, abgelehnt. Nun hat sich, dem Druck seiner Mit­glieder gehorchend, der Reichsverband der deutschen   Film theater hinter die Forderungen gestellt. Er hat bis jetzt keine Erleichterungen zu erzielen vermocht.