Freiheit
Nr. 250 2. Jahrgang
Einzige unabhängige Tageszeitung Deutschlands
Saarbrücken, Freitag, den 9. November 1934 Chefredakteur: M. Braun
Seite 2
Die Scharfmacher an
Seite 3
Entreißt den Kameraden
dem Scharfeichter
Seite 7
Das Schicksal dee Flüchtlinge
Seite 8
Zum Revolutionstag Geheimer Sturmbefehl
Krieg den deutschen Zuständen! Allerdings! Sie stehen unter dem Niveau der Geschichte, sie sind unter aller Kritik, aber sie bleiben ein Gegenstand der Kritik, wie der Verbrecher, der unter dem Niveau der Humanität steht, ein Gegenstand des Scharfrichters bleibt. Mit ihnen im Kampf ist die Kritik keine Leidenschaft des Kopfs, sie ist der Kopf der Leidenschaft. Sie ist kein anatomisches Messer, sie ist eine Waffe. Ihr Gegenstand ist ihr Feind, den sie nicht widerlegen, sondern vernichten will. Denn der Geist jener Zustände ist widerlegt. An und für sich sind sie keine denkwürdigen Objekte, sondern ebenso verächtliche, als verachtete Existenzen. Die Kritik für sich bedarf nicht der Selbstverständigung mit diesem Gegenstand, denn sie ist mit ihm im reinen. Sie gibt sich nicht mehr als Selbstzweck, sondern nur noch als Mittel. Jhr wesentlicher Bathos ist die Indignation, ihre wesentliche Arbeit die Denunziation...
Die Kritik, die sich mit diesem Inhalt befaßt, ist die Kritik im Handgemenge, und im Handgemenge handelt es sich nicht darum, ob der Gegner ein edler, ebenbürtiger, ein interessanter Gegner ist, es handelt sich darum, ihn zu treffen. Es handelt sich darum, den Deutschen keinen Augenblick der Selbsttäuschung und Resignation zu gönnen. Man muß den wirklichen Druck noch drückender machen, indem man ihm das Bewußtsein des Drucks hinzufügt, die Schmach noch schmachvoller, indem man sie publiziert. Man muß jede Sphäre der deutschen Gesell schaft als die partie honteuse der deutschen Gesellschaft schildern, man muß diese versteinerten Verhältnisse da durch zum Tanzen zwingen, daß man ihnen ihre eigene Melodie vorsingt! Man muß das Volk vor sich selbst erschrecken lehren, um ihm Courage zu machen. Man erfüllt damit ein unabweisbares Bedürfnis des deutschen Volks, und die Bedürfnisse der Völker sind in eigener Person die letzten Gründe ihrer Befriedigung.
Die Waffe der Kritik kann allerdings die Kritik der Waffen nicht ersetzen, die materielle Gewalt muß gestürzt werden durch materielle Gewalt, allein auch die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift. Die Theorie ist fähig, die Massen zu ergreifen, sobald sie ad hominem demonstriert, und sie demonstriert ad hominem, sobald sie radikal wird. Radikal sein ist die Sache an der Wurzel fassen. Die Wurzel für den Menschen ist aber der Mensch selbst.
Geheim.
Kameraden!
Alles ist zur Stelle!
Sturmbefehl Nr.....
Es wird gemeckert. Der Sanitätssturm ist geradezu eine Domäne der Nörgler und Miesmacher Sie denken scheinbar, bei uns könnten sie ihren ganzen Mist abraden. Sie sollen sich getäuscht haben. Die Meckerei ist bei uns zum Sport geworden. Kommt ein neuer Befehl, es wird gemeckert. Wird Dienst angesetzt, es wird gemeckert. Kommt der Befehl: Rechtsum, haben sich schon 50% aut Linksum gespitzt. Ueber alles wird gemeckert, über den Sturmführer, über den Zugführer, über den Scharführer und weiß der Teufel, wo sonst noch darüber. Nur über deine eigene Unzulänglichkeit, über die mangelhafte Dienstauffassung, über die saumäßige Dienstbeteiligung meckert niemand Das ist alles in bester Butter. Dabei können 50% noch nicht einmal aie Knochen zusammenreißen, wenn der Sturmführer oder ein noch höherer Vorgesetzter kommt. Das muß grundlegend anders werden. Jeder soll immer daran denken, daß er jeden Dienst freiwillig macht. Niemand zwingt ihn dazu. Jeder kann freiwillig ausscheiden, wenn es ihm zuviel wird. Das nimmt euch kein Mensch übel. Aber wenn ihr etwas freiwillig übernehmt, dann müßt ihr um so freudiger euere Pflicht tun. Das ist für einen solaatisch denkenden Menschen selbstverständlich. Der Dienst ist oft anstrengend, das bezweifelt niemand. Aber es muß sein. Aber es muß sein. Damit muß sich jeder abfinden, oder die Konsequenzen ziehen und ausscheiden. Aber denkt nur nicht, daß ihr euch durch Versetzung in eine andere Einheit von jeder weiteren Ausbildung drücken könnt. Überwiesen wird in Zukunft nur der, der ein erstklassiger SanitätsSA.- Mann ist und dem Sanitätssturm.. Ehre macht. So, nun kann weiter gemeckert werden. Wer sich dabei erwischen läßt, macht Bekanntschaft mit dem„ ,, Heiligen Geist ". Achtung! Sonntag, den...... 1934, 16.30 Uhr, Antreten des gesamten Sturms einschl. aller Sanitätsführer, Abkommandierten und Beurlaubten unter Vorantritt der Fahne und des Spielmannszuges an der Geschäftsstelle zur Besichtigung durch den Sanitätsgruppenführer und den Sanitätsbrigadeführer. ( Laut Brigadebefehl.)
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andere
Der Stabsführer des Sturms
i. V.( Unterschrift) Oberscharführer
Um unseren Gewährsmann, der heute noch SA. - Mann ist, nicht zu gefährden, haben wir den Ort und die Nums mer des„ Sturms" fortgelassen.
Der Staat iſt ein zu ernſtes Ding, um zu einer Sarle Laval Nachfolger Doumergues?
kinade gemacht zu werden. Man könnte vielleicht ein
Schiff voll Narren eine gute Weile vor dem Winde treiben Zur Lösung der innerpolitischen Krise Frankreichs
lassen; aber seinem Schicksal trieb es entgegen- eben darum, weil die Narren dies nicht glaubten. Dieses Schicksal ist die Revolution, die uns bevorsteht.
Laßt die Toten ihre Toten begraben und beklagen. Das gegen ist es beneidenswert, die Ersten zu sein, die lebendig ins neue Leben eingehen; dies soll unser Los sein.
Die Jahresfeier
der russischen Revolution
Moskau , 8. November 1934. Moskau hat den 7. November, den Jahrestag der Oftoberrevolution, wie stets feierlich begangen. Es fiel in diesem Jahre besonders auf, daß die Ausschmückungen der Hauptstadt vor allem den Erfolgen des Fünffahresplans gewidmet. war. In verschiedenen Stadtteilen haben die neuentstandenen Giganten der Industrialisierung ausgestellt, darunter Traktoren und landwirtschaftliche Maschinen.
Wie immer durchzogen Hunderttausende von Werftätigen die Straßen von Moskau . Der Kriegsminister Woroschilow nahm vor dem Mauseleum Lenins eine Parade der Moskauer Garnison ab.
Abends fand im großen Moskauer Theater eine feierliche Sigung des Moskauer Sowjets statt, an der, außer den Spitzen der Regierung und der Partei, tausende Stoßbrigader aus den Betrieben sowie ausländische Arbeiterdelegationen teilgenommen haben. Unmittelbar vor Eröffnung der Sigung sind die beiden Parteiführer Stalin und Kaga= nowitsch erschienen, die von der Versammlung stürmisch begrüßt wurden. Das ganze Haus erhob sich von feinen Pläßen und bereitete Stalin lang anhaltende, nicht enden wollende Ovationet.
Bis in die letzten Stunden wurden große Versuche gemacht, die Regierungsfrise zu unterbinden. Tatsächlich war es auch gar nicht die Absicht der Radikalsozialisten, die Front der nationalen Union zu sprengen, da sie sich ihrer Verantwortung gegenüber den großen außenpolitischen und innerpolitischen Schwierigkeiten bewußt sind. Sie lehnen auch nicht grundsätzlich die weitere Zusammenarbeit mit den Parteien ab, die in der Regierung Doumergue vertreten sind. Aber sie sind der Meinung, daß die von Doumergue geforderten Verfassungsänderungen einem persönlichen Regiment den Wegt bereiten fönnten. Gerade im Hinblick auf die Entwicklung, die sich in Deutschland von Brüning an vollzogen hat, weigern sie sich, auf dem von ihm gezeichneten Wege Doumergue Gefolgschaft zu leisten. Sie lehnen diese Gefolgschaft durchaus nicht freudigen Herzens ab. Einmal schäßen sie den„ Weisen von Tournefeuille" sehr hoch, dann aber wünschen sie durchaus nicht, in der gegenwärtigen schwierigen Situation mit dem Odium des Unruhestifters belastet zu werden.
So fann man es verstehen, daß gestern noch während des ganzen Tages von allen Seiten die größten Anstrengungen
Der Führer der kommunistischen Partei Deutschlands , Ernst Thälmann , wurde durch Zurufe in das Ehrenpräsidium gewählt. Der Vorsitzende des Zentralerefutivfomitees,& alinin, hielt eine große Rede, in der er auf die Krise der kapitalistischen Welt hinwies und dann auf den Aufstieg der sozialistischen Wirtschaft der Sowjetunion , besonders auf die Errungenschaften der beiden letzten Jahre, eingegangen ist. Gleichzeitig fanden in allen Theatern und Betrieben Moskaus Veranstaltungen statt. Auch im ganzen Lande sowie im Heer und in der Marine ist der 17. Jahrestag der russischen Oftoberrevolution feierlich begangen worden.
gemacht wurden, um einen Weg zu finden, auf dem es den radikalsozialistischen Ministern möglich gemacht wurde, im Kabinett zu verbleiben, ohne daß das Land auf Doumergue zu verzichten brauchte. Dieser Weg wurde nicht gefunden. Die radikalsozialistischen Minister blieben dabei, daß man den Gesamthaushaltsplan beraten und nicht vorweg 3/12 bewilligen müsse; Doumergue ging von diesem Projeft nicht ab, wer auch weiter daran festhielt, für den Staatspräsidenten das Recht der Kammerauflösung ohne Zustimmung des Senats zu fordern.
1m 10 Uhr vormittags ist das Kabinett zusammenge treten. Wie wir furz vor Redaktionsschluß erfahren, erflärten die radikalsozialistischen Minister, in der Regierung Doumergue nicht mehr mitarbeiten zu können. Die offizielle Verlautbarung des Rücktritts lag bei Redaktionsschluß noch nicht vor, jedoch ist an dem Rücktritt des Kabinetts Doumergue kaum mehr zu zweifeln.
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Zur Stunde gilt Pierre Laval als sein aussichtsreichster Nachfolger, der gestern eine lange Aussprache mit dem bettlägrigen Andre Tardieu hatte. Lavals Absicht ist, in seinem neuen Kabinett, das er binnen wenigen Stunden komplett zu haben hofft, wenig Veränderungen vorzunehmen. Sowohl Tardieu wie Herriot sollen in den neuen Burgfrieden einbegriffen werden. Ob Germain= Martin als Finanzminister zurückkehren wird, ist zweifelhaft. Man spricht von seinem Ersatz durch landin. Auch der Arbeitsminister Marquet von den Neosozialisten soll beabsichtigen, dem neuen Kabinett fern zu bleiben, da er es nicht für von langer Dauer hält. Ferner wird von Amtsmüdigkeit des Kriegsministers Petain und des Luftfahrtsministers General Denain gesprochen, jedoch werden beide Militärs lebhaft bestürmt, in Anbetracht der schweren Lage, sich auch dem neuen Kabinett zur Verfügung zu stellen,