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Entit

Fretheil

Nr. 258 2. Jahrgang

Einzige unabhängige Tageszeitung Deutschlands

Saarbrücken, Sonntag Montag, 18./19. November 1934 Chefredakteur: M. Braun

4,7 Mill. Reichstagsdiäten

Und nur 10 000 RM. für die Winterhilfe"

Berlin  , 17. November.

Im Jahre 1980 hatten die Nast ihren ersten großen Wahl­erfolg. Mit 106 Abgeordneten waren sie die zweitstärfite Fraktion des Deutschen Reichstags geworden.

Als das Parlament sich gegen Verleumdungen der Nazis durch die Aufhebung der Immunität der Abgeordneten zur Wehr setzte, hatte Hitler, was er gesucht hatte, den Vorwand, den er brauchte, um seine Mamelucken aus der parlamen­tarischen Gefahrenzone herauszubringen. Auf sein Geheiß mußte die Nazifraktion den Reichstag  , der sie angeblich aufs tiefste in ihrer Würde verletzt hatte, verlassen.

Ihr Vorstand aber schrieb an das Reichstagspräsidium einen Brief, der das Ersuchen enthielt, die den Nazi­abgeordneten zustehenden Diäten fortan den Arbeitslosen zu überweisen,

Die Bonzen geben nichts

Aber das Volk wird erpreẞt

Ein Gegenstück zu dem Streif der Reichstagsabgeordneten gegen die Winterhilfe" ist folgender Vorfall: Der Gau  amtsleiter der NS.  - Volkswohlfahrt, Wagner, veröffentlicht in den Tageszeitungen seines Amtsbereichs Südhannover­Braunschweig folgende Bekanntmachung:

Bei Gröffnung des diesjährigen Winterhilfswerks hat der Führer mit aller Deutlichkeit von jedem einzelnen Volksgenossen Opfer verlangt... Wer sich heute noch ge­gen den klaren Willen des Führers stemmt, muß sich damit abfinden, als Gegner des deutschen Volkes gebrandmarft zu werden. Deshalb werden unerbittlich alle fene ermittelt,

Marseille  

vor dem Völkerbund

Ley und die Geächteten

Wiederkehr Goerdelers

Bedingungslose

Seite. 2

Seite 3

Seite 4

Unterwerfung oder Krieg

Die Preise hoch!

Seite 7

Der einzige Erfolg des ,, dritten Reiches"

Ein Vergleich zwischen den amtlich ermittelten Groß= handelspreifen am 25. Januar 1938, wenige Tage vor Hitlers   Berufung zum Reichskanzler, und jetzt, ergibt fol= gendes Bild:

( 1913 100)

Pflanzliche Nahrungsmittel. Schlachtvieh

Bichprodukte

Kohle

Eisen

Andere Metalle Textilien

4

Häute und Leder

Chemikalien.

Papier  .

Baustoffe.

25. Januar 24. Oktober

1933

1934

95,8

112,2

57,2

79,8

88

111,3

116

115,1

$ 101,8

102,6

46,9

44,5

60,3

80,5

56,7

61,6

103,8

101,2

93,5

101,7

103,3

111

Durch minderwertige und überstenerte Ersagstoffe soll der autartische Wahnwiß nun noch mehr gesteigert werden.

die ihre Zugehörigkeit zu Bolt und Baterland aus schnö- Die illegale Sozialdemokratie

dem Geiz und krassem Egoismus verleugnen. Der Natio­nalsozialismus ist nicht gewillt, verbrecherische Sabotage am Werk des Führers, das er zum Wohle der Aermsten des deutschen   Volkes geschaffen hat, weiterhin zu dulden. Es werden daher in Zukunft die Namen derjenigen ver: öffentlicht, die eine Stiftung für das Winterhilfswerk aus irgendwelchen eigenjüchtigen oder eigennüßigen Gründen ablehnen. Wir Nationalsozialisten werden nunmehr Härte mit Härte vergelten, Deutschlands   Bevachtung allen Saboteuren am Winterhilfs wert! Folgende Bolfsgenossen lehnten es ab, für das Eintopf­gericht bzw. für die Bernsteinsammlung zu spenden: Gast­wirt Meinecke, Landwirt Minna Meinecke. Karl Schrader  , Landwirt, Ku ter, Landwirt. Behrens, Angestellter beim Amtsgericht, sämtlich in Holtensen  .

Und in zahlreichen Versammlungen und Zeitungsartikeln brüsteten sich die Herren braunen M. d. R. mit dem Edel­mut, den sie durch ihr Geschenk an den Tag gelegt hatten. Das war ein dreister Schwindel, dessen sich die Redner und Schreiber auch bewußt waren. Denn so gering das Wissen der Nazi auch ist, alle Geseze, die ihnen persönliche Vorteile bringen, fennen sie, folglich auch das Diätengejeß. Dieses aber bestimmte, daß einem schwänzenden Abgeordneten für jeden versäumten Sigungs­tag ein Abzug zu machen ist, der so groß war, daß während der Tagung des Reichstags ein Abgeordneter, der ihr den ganzen Monat ferngeblieben war, nicht einen Pfennig an Diäten erhielt. Die Spende der Nazi für die Arbeitslosen belief sich also auf 0,00 Reichsmarf. Erst in den Ferien lebte der Diätenanspruch der Großmütigen wieder auf, da in dieser Zeit naturgemäß Sizungen, wegen der Versäumung eine Kürzung hätte erfolgen fönnen, nicht stattfanden. Der ver­storbene volksparteiliche Abg. Schneider( Dresden  ) hatte beabsichtigt, dem unsinnigen Zustand ein Ende zu machen, daß Abgeordnete, die sich eigenmächtig für das ganze Jahr Ferien gegeben hatten, in den Monaten, die die anderen nach schwerer Arbeit zur Erholung verwendeten, auch noch Diäten erhielten. Aber der volksparteiliche Fraktionschef Dingelden nollte seinen Nazifreunden nicht an ihrer empfindlichsten Wo hast du das Geld her?" Stelle meh tun und verbot Schneider die Stellung eines ent­sprechenden Antrags.

Die Tagesgelder aber, die die 106 Naziabgeordneten wäh rend der sitzungsfreien Zeit erhielten, haben sie nicht den Arbeitslosen überwiesen, sondern für sich behalten. Sie haben die Aermsten der Aermen doppelt verhöhnt.

Nun haben die Nazi den Parlamentarismus beseitigt, mit einer Ausnahme: Das Diätengeich haben fic bestehen lassen. Das in furchtbarster Not befindliche Deutsche Reich zahlt 660 Nationalsozialisten, die Hitler   zu ,, Abgeordneten  " ernannt hat,

jährlich insgesamt vier Millionen siebenhundertzweiund: fünfzigtausend Reichsmart Diäten dafür, daß sie im Jahre vielleicht vier Sizungen beiwohnen, die nur ganz furze Zeit dauern und in denen sie lediglich Reden des Führers" anzuhören haben.

Dabei haben die mit 7200 Mark jährlich pro Mann an Diäten gefegneten Naziabgeordreten noch samt und sonders andere hochbezahlte Pfründen: Minister, Staatsräte, Ober­präsidenten, Regierungs- und Polizeipräsidenten, Oberbürger­meister, Gauleiter oder verzehren hohe Staatspensionen. Nebeneinkommen" von 12 000 bis 150 000 Reichsmart jähr= lich. Goebbels   ist durch Heirat Millionär geworden, Hitler durch den Zwangsvertrieb seines Schundbuches Mein Kampf  ".

Reichstagsdiäten für Nichts und wieder Nichts bekommen fie aber allesamt.

Und was hat dieser nationalsozialistische Reichstag, der 4 752 000 Mark Diäten jährlich für Nichtstun schluckt, für die Winterhilfe" gespendet? Ganze 10 000( 3ehntausend) Marf! Wie wäre es, wenn diese Naziabgeordneten jetzt ihre Geste von vor drei Jahren wiederholten und die Tages: gelder für die Monate, in denen ihre Mandate ihnen die Verfügung über ihre wertvolle Arbeitskraft laffen, d. h. für das ganze Jahr, den Arbeitslosen spendeten? Das würde sich lohnen, und eine richtigere Anwendung des Grundsatzes Gemeinnus geht vor Eigennut" wäre faum denkbar.

gez. Wagner, Gauamtsleiter, Südbannover- Braunschweig."

Wir glauben nicht, daß den Genannten die amtliche Ver­schißerflärung noch so viel schaden wird, wie sie ihnen vor einem Jahre geschadet hätte. Denn die Macht der braunen Bonzen über die öffentliche Meinung schmälert sich in dem­selben Maße, in dem ihre Tressen und Erinnerungszeichen fich verbreitern.

Darmstadt  , 16. Nov. Der Reichsstatthalter von Hessen  , Sprengen, hat Hitlers   Kampf gegen den Lugus parteigetreu realisiert: er hat sich eine neue Billa   bauen lassen.

An dem Morgen, der seinem Einzug in die Villa folgte, prangte an der Maner ein großes, von unbekannter Hand angebrachtes Plakat mit der Inschrift: Jakob, wo hast du nur das Geld her? Wir dachten: Es gäbe keine Bonzen mehr."

Die Kleinen werden gehängt

Leipzig  , 16. Nov. Vor dem Amtsgericht Leipzig   hatten sich am Freitag im Schnellverfahren zwei Händler zu verant­worten, die in den ersten Tagen dieses Monats an Woh­nungstüren und auf der Straße Nähgarn zu einem un­gerechtfertigt hohen Preis verfauft hatten. Den beiden Hausierern ist auf Grund von§ 20 der Reichsverordnung über Handelsbeschränkungen vom 13. 7. 1923 wegen Ungu verlässigkeit der Handel mit Gegenständen des täglichen Be­darfs bereits untersagt worden. Eine unzulässige Ueber teuerung wurde darin erblickt, daß die Händler den Zwirn ( Obergarn) mit 10 Pfennig die Rolle eingefauft und mit 25 bzw. 20 Pfennig wieder veräußert hatten, während der angemessene Preis 13 höchstens 15 Pfennig, oder, da es sich zum Teil um geringwertigere Ware gehandelt hat, höchstens 12 Pfennig hätte betragen dürfen. Der Staatsanwalt bean­tragte gegen die Hausierer je zwei Monate Gefängnis; das Gericht ging in dem einen alle über den Antrag noch hinaus und erkannte auf drei Monate Gefängnis Der andere Beschuldigte wurde mit Rücksicht darauf, daß er den niedrigsten Preis verlangte und nur wenige Rollen verfaufte, zu einem Monat Gefängnis verurteilt.

Noch gestern konnten wir feststellen, daß der Preis für deutsche Wolle um 30 Prozent höher liegt als der Welt­marktpreis. Diese Preiserhöhung ist amtlich festgesetzt. Auch hat man nichts darüber gehört, daß Goerdeler   rigoros gegen die Preistreiberei des Reichsnährstandes und der großen Konzerne vorgeht. Aber dafür werden die kleinen gehängt!

Defon, 17. Nov. In Wolfen   murde wegen erheblichen So lange die M. d. R. Diäten für Nichistun einstecken, ist Mindergewichts des Brotes eine Bäderei von der Polizei auf drei Tage geschlossen, ber ganze Deutsche   Reichstag   eine einzige Korruption,

Als Hitler   zur Macht kam, versprach er, nach dem Vor­bild Wilhelms I I. den Margismus mit Stumpf und Stiel auszurotten. Trotz unbeschränkter Machtmittel und einer beispiellosen Schreckensherrschaft hat er dieses Ziel nicht erreicht. Er vernichtete zwar alle Organisationen der Ar beiter. Er hat Hunderttausende Margisten in den Tod, in Konzentrationslager und Zuchthäuser getrieben, an­dere in Not und Elend gestürzt. Aber er hat hat damit weder den Zusammenhalt noch die sozialistische Ueber­zeugung der Anhänger der Sozialdemokratie zerstört.

Diese Treue und Standhaftigkeit der deutschen Sozialdemokraten verdient um so mehr Anerkennung, weil sie völlig auf sich selbst gestellt waren, von keiner Seite Hilfe erhielten. Ihre Organi­sationen zerstört, ihr Eigentum geraubt, ihre Vertrauens­leute hingeschlachtet oder eingesperrt, ihre eigene Existenz und ihr eigenes Leben bedroht, erbuldeten sie unbeschreib­liches. Raum, daß ihr Geschrei überhört wurde, daß man erfuhr und wußte, was an Schreckenstaten geschehen war. Das Gewissen der Welt erbarmte sich zwar der Juden, aber für die Vergewaltigung und die Not der sozialistischen   Proletarier rührte sich fast nichts. Weder die kommunistische noch die sozialistische Arbeiter- Inter­nationale konnten dem deutschen Proletariat materielle oder politische Hilfe bringen. Trotzdem blieben die Sozialdemokraten der sozialistischen   Jdee ebenso treu wie der Aufgabe, Hitler, den Todfeind des sozialistischen  Proletariats, zu bekämpfen.

Prag   der Sitz der Auslandsleitung der Deutschen Sozialdemokratie ist das Zentrum des sozialdemo kratischen Kampfes gegen Hitler  . Die wichtigste Waffe ist das gedruckte Wort, das Flugblatt, die Zeitung, die Broschüre. Unabhängige Zeitungen gibt es in Deutsch­ land   nicht. Die gesamte öffentliche Meinung steht unter dem Druck der lawinenartigen Propaganda der Diktatur. Keine Zeile darf veröffentlicht werden, die Goebbels  nicht genehmigt hat. Alles, was dem System nicht paßt, wird unterdrückt, gefälscht. Das Volk schreit nach der Wahrheit, sein Bedürfnis nach Kritik ist riesengroß. Die illegale Literatur wird willig aufgenommen. Die Nach­frage kann nirgends voll befriedigt werden, da die Ge fahren immer noch zu groß sind.

Jm ersten Jahr der Diktatur sind allein wegen Ver­breitung sozialdemokratischer Schriften weit über 300 Jahre Zuchthaus und Gefängnis verhängt worden. Hun derte wurden ohne Urteil in die Konzentrationslager gesteckt. Wie erbarmungslos die Justiz wütet, das lassen einige Einzelbeispiele erkennen.

Ein Sozialdemokrat, der in Leipzig   einige Nummern der Sozialistischen Aktion" verbreitete, erhielt zwölf Jahre Zuchthaus. Der Staatsanwalt hatte sogar die Todesstrafe erwogen. Die Leiter des Roten Stoß­ trupps  ", eine illegale Organisation von jungen Sozial demokraten, die eine auf der Schreibmaschine hergestellte Zeitung verbreitet hatten, wurden zu etwa 40 Jahren Zuchthaus verurteilt. Die Hauptangeklagten erhielten 12, 7 und 3 Jahre. In diesem Prozeß bildete die Verneh mung eines bereits verurteilten Sozialdemokraten eine Sensation. Der Vorsitzende fragte den aus der Strafhaft vorgeführten Zeugen nach seiner Straftat. Antwort: Ber­teilung von zwei Nummern der Sozialistischen Aktion". Auf die weitere Frage des Vorsitzenden nach der Straf höhe lautet die Antwort: 3wmei Jahre Zuchthaus!" Eine Zeitung ein Jahr Zuchthaus! Solche Strafen braucht das dritte Reich" um sich vor seinen sozialistischen Geg­nern zu schützen,