Freiheit

Nr. 270 2. Jahrgang

Einzige unabhängige Tageszeitung Deutschlands

Saarbrücken, Dienstag, 4. Dezember 1934 Chefredakteur: M. Braun

Zweite Abstimmung gesichert

Seite 2

Die Volksfeent

an der Saar   stürmt

Seite 3

Die verlorene Preisschlacht"

Seite 4

Keine Entmannung

bei homosexueller Veranlagung

Seite 7

Am Grab des braunen Sozialismus

Schachts Verordnung für die Bank- und Börsenfürsten- Bestätigung des hodkapitalistischen Kurses

Berlin  , 3. Dezember

Reichswirtschaftsdiktator Schacht hat eine Verordnung über den Aufbau der gewerblichen Wirtschaft erlassen. Diese. Berordnung stellt den Versuch einer organisatorischen Zu­sammenfassung der Unternehmerschaft dar, dir zur Wahruch­mung ihrer Interessen eine gemeinsame Vertretung in der neu zu schaffenden Reichswirtschaftskammer haben wird.

Fachlich wird die gewerbliche Wirtschaft in einer Reichs: gruppe der Industrie, in Hauptgruppen und in den Reichs­gruppen Handwerk, vandel, Banten, Versicherungen und Energiewirts' t zusammengefaßt. In den Hauptgruppen der Industrie und den Reichsgruppen der übrigen gewerb lichen Wirtschaft werden Wirtschaftsgruppen gebildet, die fich nach Bedarf in Fachgruppen und Fachuntergruppen glie: dern. Bezirklich wird die gewerbliche Wirtschaft in Wirt­schaftsbezirken zusammengefaßt. Wirtschaftsgruppen, Fach­gruppen und Fachuntergruppen tönnen sich bezirklich unter: gliedern, wenn ein zwingendes wirtschaftliches Bedürfnis besteht, einen bestimmten Wirtschaftszweig für einen Wirt­schaftsbezirk oder innerhalb eines solchen zusammenzusaffen. Auf Anordnung des Reichswirtschaftsministers fönnen Be­zirksuntergruppen und Zweigstellen mit Industrie: und Handelskammern verbunden we den. Gruppen verwandter Wirtschaftszweige tönnen Arbeitsgemeinschaften bilden. Die Wirtschaftsgruppen, ihre selbständigen Fachgrup pen, Fachuntergruppen, bezirkliche Gruppen sowie Bezirks­gruppen haben die Stellung von rechtsfähigen Ver= einen.

Wir haben in letzter Zeit wiederholt auf die großen Gegen­sätze hingewiesen, die innerhalb der nationalsozialistischen Führung über die weitere Gestaltung der Wirtschaftspolitik bestehen. Besonders stark sind sie zwischen dem Wirtschafts­diftator Dr. Schacht, der die Interessen der Bank- und Börsenherren vertritt, und dem radikalen Phantasten Darré, der den Reichsnährstand führt Der Gegensat zwischen den beiden Rivalen offenbarte sich vor allem bei der Ernennung Dr. Goerdelers zum Preiskommissar. Auf der Reichsbauerntagung in Goslar   haben Darré und seine nächsten Mitarbeiter deutlich zum Ausdruck gebracht, daß sie der Tätigkeit des Dr. Goerdeler Mißtrauen entgegenbringen, weil der Preiskommissar den zahmen Versuch gemacht hat. auch die Preise für Agrarprudufte zu senfen. Vorläufig ist dieser Versuch von dem mächtigen Reichsnährstand mit Er­folg abgewehrt worden.

Inzwischen setzte Dr. Schacht seine hochfapitalistische Politik unermüdlich fort. Denn die führenden Unternehmer­freise blicken nach wie vor sehr unzufrieden. Die Zeitschrift " Der Volkswirt" schrieb in diesen Tagen folgendes:

Man glaubt sich vielfach auf den abschüssigen Weg wirt: fchaftlich untragbarer Zugeständnisse gedrängt und fühlt fich, wo die alten Arbeitgeberverbände mehr oder weniger freiwillig aufgelöst und die nenen Ständischen Organisa= tionen noch nicht geschaffen sind, vereinfamt und ohne halt So wird die Arbeiterschaft um ihre Verfassung und die Landwirtschaft um eine Droonilation beneidet, die ihren sämtlichen Angehörigen ausreichende Preise aaray: tiert. Dazu droht jezt Goerdeler   noch mit dem Lahmiegen oder überhaupt Auflösen der Kartelle. Auf der einen Seite also greift die Ar= beitsfront die Löbne on uns auf der andern Seite Breis: diftator Goerdeler   die Preise Die Sorgen und zahl: reich. Steuern, Rohstoffe, Preise, Absatz, Export, Verbands=

Goebbels   als Nikolaus

Aber sein Sack ist teer

Sucht man nach untrüglichen Stimmungsbarometern aus dem dritten Reich", so muß man jetzt die Reden des Herrn Goebbels   genau nachlesen. Er hat in diesen Tagen in den Messehallen in Stettin   gesprochen, so bekümmert, so lahm, und so ohne propagandistische Kraitentfaltung, daß man aus jedem Satz erkennen konnte, wie schlecht es den braunen Herrschaften geht.

Manche wollen heute nichts sehen, daß auch diese Beit ihre Schönheiten besitzt, daß man nur Augen haben muß, um sie zu sehen und zu finden." So be= gann Goebbels  . Tas Unglück will, daß die Untertanen des Hitlerreiches selbst bei redlichstem Bemühen solche Schön­beiten" nicht mehr entdecken können.

weien, jedes ein Problem für sich. Dabei hat in die

sen umwälzenden Zeiten mancher das Ge= fühl, feiner Zukunft nicht sicher zu sein.

Die Bereitwilligkeit, fich der Forderung des Nationaljoa

lismus zu stellen: Scharfe Auslese nach Gesinnung und Leistung, ist vorhanden. Woran es fehlt, ist Vertrauen, immer wieder Vertrauen, beim Unternehmer zu sich sel= ber und bei Staat und Volk zum Unternehmertum."

Es gibt zu denken, daß ein zensiertes Blatt eine solche offene Sprache wagt. Typisch für die Schwierigkeiten, die trotz aller Begünstigungen dem Unternehmertum durch die Willkür einzelner nationalsozialistischer Führer drohen, war die kürzlich in Bayern   durch den Minister Effer anbe=. fohlene enfung des Bierpreises, verbunden mit der Absage an der Steuersenkungswünsche dieser Industrie. Gerade diese Tatsache daß Esser eine Bierpreissenkung gegen den Wunsch der Industrie anbefohlen hat. steigerte die Unzufriedenheit bei den Unternehmern noch mehr. Die verschiedenen Industrieverbände haben beim Reichswirtschaftsminister wegen dieser Maßnahme Essers Einspruch erhoben, weil sie darin ein Symptom für die weitere Gestaltung der Preispolitif erblickten. Die Unter­nehmerverbände erklärten, daß eine derartige Einmischung amtlicher Stellen in die Preisgestaltung, wie sie in Bayeri Det der Bierpreisientung erfolgte, die Interessen der Unternehmerschaft aufs ich merite schädige.

Es zeigt sich an diesem Beispiel wieder einmal, daß die Bolitik der Bolfsgemeinschaft" auf fapitalistischer Basis ein Unding ist. Man kann nicht auf der einen Seite der Land­wirtschaft zuliebe die Preise erhöhen und auf der anderen Seite eine Preissenfungsaktion vornehmen. Man kann nicht den Export fördern wollen und zu gleicher Zeit durch eine wahnwißige Schutzzollpolitik der Ausfuhr den Todesstoß versetzen Man kann nicht auf der einen Seite in verant­wortungsloser Weise eine Arbeitsbeichaffung inizenieren und zu gleicher Zeit das Niveau der Reichsmart halten. Und man kann nicht die Löhne drücken und gleichzeitia er= warten, daß die Arbeiterschaft zufrieden ist, und man kann ebenso nicht den Unternehmern größte Profite gemähren und gleichzeitig, wenn es schief geht. amtlich eine Preis­senfung für Fertiowaren bei aufrechterhaltung der über­höhten Robitoffpreise befehlen.

Die neue Verordnung ch a chts stellt den verzweifelten Versuch dar, in diesem wirtschaftlichen Wirrmar die Poii= tton des Unternehmers zu stärken. Mit der Schaffung der Reichswirtschaftsfammer erhalten die Unter­nehmer eine felbständiae Vertretung, wo sie ihre Interessen gegenüber den Interessen der Landwirtschaft aufs wirf= jamite vertreten können. Die neue Verordnung. zu der Sitler feinen Sonen gegeben hat, bedeutet einen Sieg des kapitalistischen   Gedankens, über das sozia­Ti stiiche Aushängeschild der Hitlerbewegung. Der Binsbrecher" eder ist länait abeebalfert worden, von Zinsbrechmna iit feine Rede mehr. Dafür fönnen die Bonf und Börienfürsten, die Kripps und Thyssen, die Peiter der arnñen Ponzerne triumphieren.

Die neue Verordnung bedeutet auch einen vorläufigen Sieg Schachts über Darre und Ley und führt vor dem gan­zen Volke den Nachweis, daß die führenden Männer des ,, britten Reiches" ihrem obersten Programmpunkte, dem So­zialismus, was sie darunter verstanden, offiziell nicht einmal ein festliches Begräbnis bereiten können.

Sie hatten auf den Aufbruch gehofft, auf die Erfüllung der braunen Versprechungen. Jetzt verlangt man nichts als Opfer von ihnen. Dabei müsse man, so meinte Goebbels  , immer bedenken, was schon für Taten vollbracht worden seien:

Kurz und gut: wir haben auf dem Gebiet der Sozial­fürsorge getan, was wir überhaupt nur tun konnten. Das alles haben wir getan in einer Zeit, in der die Welt in tiefften strisen verfangen war, in einer Zeit, in der andere Länder von schweren Erschütterungen heim= gesucht wurden, Könige und Politiker er: mordet wurden und Kabinette fast monat= lich famen und gingen." Fortsetzung stebe 2. Seite,

Erlebnisse

in spanischen Gefängnissen

Von Ilse Wolff  

In den Tagen der revolutionären Kämpfe in Spanien  , am 7. Oftober, wurde unsere bisherige spanische Korrespondentin Ilie Wolff von der Madride: Polizei verhaftet. Ihr Schicksalsgefährte war Hans Theodor Joel, der Vertreter einer Reihe nordischer Blätter. Nach mehrwöchiger Haft( erst in Madrid  , dann in Barcelona  ) erlangten beide, nachdem die Weltöffentlichkeit alarmiert worden war, ihre Freiheit wieder. Ilse Wolff   wurde ausgewiesen und lebt jegt in Paris  . Sie schreibt uns einen langen, tem= geramentvollen Bericht über ihre spanischen Gesäng nis- Erlebnisse. Wir entnehmen ihm einige Partien, die für sich selbst sprechen mögen.

Redaktion der Deutschen Freiheit". Meine Verhaftung

Während der Nacht vom 6. zum 7. Oktober war heftig in Madrid   geschossen worden. Von meinen Fenstern aus hörte man das Knattern der Maschinengewehre und das schneidende Einschlagen von Pistolenschüffen. Der Kriegs. zustand war verhängt worden.

Am Morgen des 7. Oktober, Sonntag früh, beschlossen der Korrespondent von Politiken  ", Hans Joel und ich, nach Cuatro Caminos herunterzufahren, um uns persön lich über die nächtlichen Vorgänge zu informieren. Bor dem Polizeipräsidium standen zwei lange Schlangen von etwa je 500 bis 1000 Menschen. Alle warteten auf den Bassierschein. Es war gegen 1 1hr mittags. In einer dieser Schlangen zu warten, hätte für uns den Zeitverlust von zumindest 6 Stunden bedeutet. Wir mußten ver fuchen, einen anderen, schnelleren Weg zu finden, um ungehindert durch die Stadt fahren und exakte Nach­richten sammeln zu können.

Gegen 5 Uhr fuhren wir zur Polizeidirektion. Der Sekretär des Direktors bat uns, einen Moment zu warten. Nach einer geraumen Weile erschien ein anderer Beamter mit unseren Ausweisen und ersuchte uns, ihm in ein anderes Zimmer zu folgen. Er fragte, wie lange wir in Spanien   feien und wo wir uns aufgehalten hätten. Als ich meine Wohnung angab, erklärte er, daß ich dort nicht wohnte und zeigte mir eine Kartothekkarte, die zwar auf den Namen Wolff lautete, aber einer Frau Elsa Wolff gehört, mit der ich bereits des öfteren ver­wechselt worden war. Der Polizeibeamte wollte sich aber durchaus nicht davon überzeugen lassen, daß meine Person nicht seiner Kartothekkarte entspräche. Unter Bewachung eines jungen Beamten ließ er uns, trot unserer Proteste, zurück. Nach etwa zwei Stunden erschien er wieder, triumphierend: Gie sind Kommunisten! Wir haben lauter kommunistische Literatur bei Ihnen gefunden!" Meinen bescheidenen Hin­weis darauf, daß ich seit meines Aufenthaltes in Madrid  , also seit 1932, der dortigen Sozialistischen Partei ange­hörte, belächelte er nur mitleidig: Sie sind uns beereits von deutscher   Seite als Kommunistin gemeldet. Wir wissen auch, daß Sie sich während der letzten Wahlen als Kandidatin zur Parlamentsabgeordneten haben auf­stellen lassen..." Außerdem habe man in meinem Schreib­tisch eine Reihe von Ausweisen, u. a. Gewerkschafts- und Parteibuch gefunden, man htbe aber nur einige Artikel und Manuskripte mitgenommen. Bitte kommen Sie noch einen Augenblick mit," meinte der Beamte. Man führte uns ins Erdgeschoß, wo ein anderer Beamter zwei Zettel ausfüllte. Sind wir verhaftet?" erlaubte ich mir jetzt zu fragen. Der Beamte antwortete nicht, zuckte nur die Achseln.

Zwei Minuten später befanden wir uns in einem durch eine Eisentür abgeschlossenen Gang, der in die Keller­räume der Präfektur führt. Joel mußte sich von mir verabschieden. Man führte mich durch einen schmalen Korridor.

Ich befand mich in einem Raum von etwa 24 Quadrat­meter, an dessen einer Längs- und zwei Querwänden Holzbänke ohne Lehnen standen. Von der hinteren Querwand aus führen zwei Zellen ab, die je für zehn Personen Platz bieten. Von Pritschen keine Rede.