Das andre Venedig  .

Von Gina Kaus  .

Auf dem Markusplatz hatte ich immer das Gefühl, in einer Traumstadt zu sein oder zu mindest zwischen Kulissen. Es gibt keine Häuser hinter solchen Fassaden. Und fast ist es wahr. Die rüdwärtige Wand des Palazzo Reale  , von Der Lagune aus gesehen, ist wirklich so fahl, grau, so glatt wie die unbemalte Seite eines Theater­prospektes. Solche graue Prospektrüden tragen meist große schwarze Chiffren, die der Ordnung dienen und auch das ist fast wahr. Auf der tahlen grauen Wand steht: ,, Evviva il N. F. P.!", das heißt: Es lebe die nationale fascistische Partei!"

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führen? Das Vorstadtviertel von Venedig   ist ein Angsttraum.

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fönnen zur übrigen Welt nur über die endteje Brüde. Diese Quartiere sind nicht einmal billig achtzig Lire im Monat für die Familie aber die Wohnungsnot ist groß und kein Geseh erlaubt dem Staat, die großen, leerstehenden Paläste an Obdachlose abzugeben.

Und da sind wieder die alten Weiber, die Der Pfad mündet in einen Steg, der die unzählige Perlen auffassen. Die Perlenfajferin Mauer der Arsenale entlang führt, denn diese nen sisen auf ganz niedrigen Stühlen, fast auf Mauer fällt in die Lagune, die große, breite der Erde, eine große Holztasse mit einem Haufen Lagune, die Venedig   vom Festland trennt. Hier winziger Glasperlen liegt auf ihren Knien und ist der Blick weit, man sieht die Friedhofsinsel in der Rechten halten sie ein Dutzend langer, San Michele, wo Zypressen die weißen gotischen dünner Drähte, die jeder in einen Zwirnsfaden Spitzbogen der Umfriedung dunkelfarben wieder übergehen. Die Drähte tauchen sie in die Perlen holen, die Glasinsel Murano  , die Spitzeninselhausen und mit der Linken schieben sie die auf Torcello und blau zwischen helleren Wolfen die gespießten Perlen auf die Fäden. Von dieser Umrisse des Karst. Dort, wo der graue Hangar Arbeit haben fast alle entzündete Augen. Zwi von Mestre steht wie eine hingeworfene Zigar- fchen ihnen auf den Steinen spielen Kinder. Sie renschachtel, wird einmal, vielleicht bald, die sind blaß und mager, und es sind auffallend viele große, moderne Haſenſtadt ſein, die, wie es Verwachsene unter ihnen. Aber sie sind frech, einst Venedig   tat, den Orient mit Italien   ver- mutig; sie haben Sonne und salzige Luft vom Meere, und es sind ihrer so viele wie Gräser an der Mauer und Krabben in der Lagune.

Die großen Palazzi   am Canale Grande  , be­sonders wenn einige von ihnen erleuchtet sind ( jene nämlich, die Antiquitätenhändlern gehören) scheinen Kulissen und werden von Hochzeitsreisen- binden wird. Hier also endet das alte Venedig  . Diese den, die mit schlanken Gondeln zu den Klängen der ,, Serenata" an ihnen entlang gleiten, als solche endlose Mauer, hinter der die Waffen, die Ma­benüßt, für jenen Akt, der zur Perspektive jedes schinengewehre und Kanonen einer übermütigen Lustspiels und zur Exposition der meisten Tra- Militärmacht ſtarren, ist sein Rücken, der letzte gödien gehört. Feinschmecker besuchen lieber die mächtigste Prospekt. Auch diese Mauer ist einige fleinen Rios und Calles hinter dem Kanal, die hundert Jahre alt. Aus ihren Risen und Spal­ten wachsen fleine Gräser, wenn man näher zu­unten von zart geschwungenen kleinen Brücken, oben aber von bunter zum Trocknen ausgehänglicht, zwanzig verschiedene Arten von Grünem, ter Wäsche überspannt sind; da kann man von solches mit dreieckigen, behaarten Blättchen, sol­hinten. in die Paläste hineinsehen und erfahren, ches mit rhombischen, die rückwärts rot sind. daß in manchen zu Hunderttausenden aus Bronze unscheinbare, primitive Gewächse, die beginnen, kleine Abbildungen jener schlanken Gondeln her- as alte Gemäuer zu bearbeiten, wie ihresglei­gestellt werden, die vorn vorübergleiten, und den vor Jahrmillionen das Urgestein zu be­man fann sie auch als Tintenfaß benützen. arbeiten begann, ein junges Dasein, das mutig von vorn beginnt, wo das alte endet.

Diese ganze Stadt mit dem Lächeln eines Feiertages, in der noch die feuchte Wäsche über den Straßen wie festliches Geflagge wirft wo ist hinter dem Lächein ihr Herz?

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Wenn man von der Dampferstation Bra­yora hinein in der Richtung nach Castello geht, so sind es noch dieselben kleinen Gäßchen und Stanäle wie auf der ganzen Riva degli Schia­voni, dieselben zerfressenen sterbenden fulissen­Haften Hinterwände, aber sie warten auf ein anderes Stück, denn sie tragen andere Chiffren: ,, Evviva la Terza Internationale!"( Es lebe die Dritte Internationale!")

Zwischen diesen Stoßgebeten der äußersten Linken und der äußersten Rechten gibt es kleine Höfe, die wie der Friede ſelbſt ſind, wo für ewig alles schmerzvoll aufbegehrende Ungenügen zu einem innerlichen Selbstgenügen geschichtet scheint. Wo auf warmen Steinplatten, zwischen

Bettler.

Von Marie Harder  .

Es sind ihrer immer dreißig oder vierzig. Manchmal auch zehn weniger oder zwanzig mehr. Hinter den starken Gittertüren des vor hundert Jahren erbauten Untersuchungsgefäng nisjes löffeln sie ihre dünne Suppe, die sie sonst stehend in einem Hausflur oder jihend auf einent Treppenabjak, selten auf einem Küchenstuhl, nie an einem gedeckten Tisch, zu.essen gewohnt sind. Einige von ihnen mögen zwanzig Jahre alt fein, mehr dreißig oder vierzig, nicht wenige sechzig oder siebzig.

Als ich sie das erste Mal sah, fragte ich den Aufseher, obgleich ich es hätte selber wissen müssen: Was sollen die vielen Untersuchungs gefangenen hier?"

Auf der Lagune stehen ungefüge schwarze Boote, die mannshoch beladen sind mit Mist, mit Kohiſtrünken, Papiersehen, zerschlagenem Ge­schirr. All das wird hier versenkt in dieses tote stille Wasser, weithin ist der Boden bedeckt von diesen ausgedienten Reſten täglichen Lebens, man kann sie deutlich sehen, denn die Lagune ,, Das sind Bettler, die gleich dem Amts­ist hier sehr seicht. Ich habe jellen Lebendigeres richter vorgeführt werden," wußte mir der Mann gesehen als dieses Leichenfeld schon bei Lebzeiten zu antworten. Und dann sah ich sie, immer toler Dinge; aus alten Töpfen hervor, unter zwei und zwei, die gewundene Treppe aus dem Strautföpfen hervor, aus dem verwesenden Kellergeschoß emporsteigen. Zerrissen und ver Schlamm, von allen Seiten friechen Krabben, hungert, in feinem Gesicht ein lebensfroher Zug, große, rötlichweiße, wohlgenährte, achtfüßige seit vierundzwanzig oder achtundvierzig Stunden Strabben, friechen, wie Krabben tun, nach der schon im Polizeigewahrsam. Manchmal auch be Seite, auf einander zu, paden eins das andere reits einen Tag länger. Und da die Strafen mit den kräftigen hornigen Scheren ist es ein in verschiedener Höhe verhängt werden, viele sie dieser Tiere, die lange vor den Menschen waren die Rückfälligen" aber oft ein paar Wochen in Kamps, ist es Liebe? Unheimlich ist das Treiben schon durch die erwähnte Vorhaft verbüßt haben, und die sich im Abfall menschlichen Lebens be- Haft bleiben müssen, so teilen sich ihre Wege, haupten, die so kräftig und entschloſſen über das wenn sie die Wendeltreppe wieder abwärts stei­Verwesende weg zur Seite gehen. gen. Die einen können gleich in die Freiheit" Sie müssen umkehren," sagt ein alter Ita- wandern und finden vielleicht noch Zeit, sich für fiener, der einen leeren Karren vor sich her- die Nacht ein Lager oder ein Stüd Brot zu er schiebt, dort ist kein Ausgang," und geht wei- betteln. Die anderen aber freuen sich, wenn ihr ter. Das iſt die Stimme aus dem Angsttraum. Hemd einmal gewaschen wird und sie sich in so langen, langen" Steg die Arsenalmauer ent- als das bei Mutter Grün. Giwas muß doch dori sein, wenn man einen einent Bett ausstrecken können, sei es auch härter lang gebaut hat. Aber was?

denen Gras und Strandhafer wächst, schlafende Razen liegen, gelbe und graue, und an den offenen Fenstern Holzgeräte hängen, die aus­sehen wie gestielte Tambourine und auf denen am Abend die Polenta zu Tisch getragen wird. Ein einziger Feigenbaum lehnt an der halbzer: fallenen Mauer nud nur in einem besonders Nach der Haft schickt man sie wieder heim, schön geschwungenen Fenster blüht eine rosa Einen halben Kilometer weit nichts als ohne daß sie ein Heim besiben. Die Alten, die Pelargonie. Niemand außer den Katzen ist in Mauer, Sieg und Wasser. Dann tritt die Mauer sich lange schon Ruhe wünschen, und die Jun­diesem schönen warmen Hose, aber gleich neben­zurück und schief an sie gefügt springen Betongen, die gesunde Arme haben, für die es feine an in dem dunklen kühlen Haustor, wo es nach platten vor mit kleinen Deffnungen, die wohl Arbeit gibt. Tausendfach ist ihre Zahl. In allen Jahrhunderte alten Moder, nach Schwefel- erst vor kurzem gebaut wurden. Und da sind Gefängnissen löffeln sie ihre dünne Suppe und waſſerſtoff und Abtritt riecht, ſpielen die blassen, geben den Richtern Antwort und Auskunft über mageren italienischen Kinder zu Rudeln um den Grund ihrer Betteleien. Nie werden sie; wie die Füße alter Weiber, die Glasperlen fajjen. vor dem Kriege, einmal gefragt: Und weshalb haben Sie nicht gearbeitet?"... Sollte ein Richter sich einmal in der Zeit irren und heute diese Frage iun, es würde ein einziger Schrei der Entrüstung durch die Gefängnisgitter sich brechen.

auch Baraden, eine ganze kleine Stadt primiti ver, wie hingebauter Vier- Wände mit Dach. Das find die Kasematten, die man im Kriege gebaut Andre Träume als die Fata Morgana der hatte, als Unterſtände für die Soldaten, wenn Markusſchönheit werden hier lebendig. Die kaum oben die österreichischen Kriegsschiffe freuzten, meterbreite, dunkle Gasse ist zu Ende und du und in die man nach dem Kriege die Aermsten findest nicht zurück. Ein dunkler Torbogen läßt der Stadt einquartiert hat. Im Sommer glüht dich noch einmal entwischen. Aber der leere die Sonne auf diese Steinwüste und im Winter Platz, auf den du kommst, ist allseitig versperrt. denn Venedig   hat einen Winter- gibt sie Dann schleicht ein schmaler Fußpsjad zwischen wenig Schutz gegen die Kälte. Und hier gibt zwei fensterlojen Mauern. Wird er je ins Freie es wirklich feinen Ausgang mehr. Diese Leute

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Arbeit??

Arbeit?!?!!..

Sie ist gesucht wie Brot und Dach.