Wahrheit übeeÄeutfchland Für einen toten Genossen. Du hast die Wahrheit geliebt— nun ist efi vorbei: Die Wahrheit ist tot. Zehn Klafter Himer Mauern, zehn Klafter in der Erbe, zehn Klafter im Meer: et ist, als hätte es sie nie gegeben! Du darfst ihren Namen nicht nennen, darfst dich zu ihr nicht bekennen, schon der Gedanke an sie ist eine Sünde— nimm dich in acht! Man könnte ihn dir von der Stirn oblesen. Am liebsten möchlen sie die tote Wahrheit ausgraben aus der Erde, dem Meer, den Särgen, um sie noch einmal zu töten. Denn in ihren Herzen ist die große Unsicherheit und sie brüllen täglich lauter um ihre Stimme zu übertönen. Könnten sie doch die Wahrheit noch einmal mit ihren Messern zerfleischen, um sicher zu sein. Sie starren aus die vom Blut gerötete Erde, in die.sie sie stampfen, und sie sehen nicht: die Wahrheit ist längst z» den Sterne» entfloh'»! Da leuchtet sie über die entsetzte Welt, herniederslammend die Schande ihrer Mörder. Einmal wird sie, ein Komet, nieder stürzen! Dann wehe ihren Schändern! Ignotn«. WMMWWIIIIWIMIWMlMMMIIMMlWMMMMIIllWlll Meilen von hier. Ich komme dort öfter Vorbei." Ich saß so, daß ich den breiten Rücken des Schauspielers de Metz sehen mußte. Während der Erzählung meines Freunde« siel mir ans, daß die Zeitung in de» Händen des Manne« zu tanzen begann. Ich dachte, ihn schüttle da« Fieber. Als Kent aber die letzte» Sätze sprach, bemerkte ich etwas ganz Sonderbare«; der ölglatte Scheitel de« Filmschauspieler« geriet in Unordnung, und zwar ohne jede äußerliche Einwirkung. Zuletzt lösten sich einzelne Haare an« der zähen Umklammerung des Brillanlinö, dann stellten sich in rascher Reihenfolge ganze Büschel auf und schließlich blieb kein Zweifel mehr: dem Manne standen die Haare zu Berge. Da wandle er tut« auch schon sein aschgrau gewordenes, verzerrte« Gesicht zu.„Verzeihen Sie," fragte er mit bebender Stimme,„lote heißt jener aller Herr mit der Tochter?" Mein Freund zog die Augenbrauen ganz in die Höhe, tat einen tiesen Zug au« seiner Zigarette und sagte:„Sanford!" „Auuuuh—" brüllte de Meh, schnellte von seinem Sitz empor, schlug mit den Fäusten gegen die Stirn, daß e« knallte, warf «Inen Tisch um und raste die Treppe hinaus. „Er ist verrückt geworden," vermutete ich bestürzt.„Bielleicht hat er gar die AnS- fähige geküßt," meinte vollkommen ruhig mein Freund. Am nächsten Morgen, dem Tag meiner Abreise, vermißten wir de Meu. Vom Hotelmanager erfuhrett^wir, daß er noch mit dem Nachtschiff nach Svdneh abgereist sei. Mn tags begleitete Kent mich nach dem Hafen. Mir ging die tragische Geschichte mit de Meh und der leprakranke» Miß nicht auS dem Kopf, daher sagte ich zu meinem Freund: „ES ist schrecklich. Glauben Sie, daß da« Mädchen und nun auch der Filmschauspieler wirklich rettungslos verloren sind?" „De Mey ist mir schnuppe," erklärte Kent gelassen,„der ist jetzt über alle Berge und kommt bestimmt nicht wieder. Und was Miß Sanford anbelangt, so ist sie im Begriff, meine Braut zu werden." „Was?" schrie ich,„sind Sie wahnsinnig?"—„Im Gegenteil," versicherte Kent mit saunischem lächeln,„gerade so wenig wie Miß Sanford jemals mit Lepra zu tun Gkhutz Bon F. In den Straßen hängt der gelbe Rebel eines frühen Herbjtmorgenr. Tick, stinkend von Kohlenranch, Stand und Benzin. Mau sieht nicht di« zur nächsten Straßenkreuzung; die Konturen der Häuser und der paar schüchternen, dürftigen Kastanien verschwimmen, und die Menschen, die zu ihren Arbeitsstätten, in ihre Kontore eilen, haben etwa- Wesenloses: sie tauchen au- dem Richt-, gewinnen einen Augenblick Form und sind im nächsten wieder verschwunden. Das Klingeln der Straßenbahn, da- Tuten der Automobile ist gedämpfter; man hat da- Gefühl, in einer Glocke von Milchglas zu gehen. Drei Meter im Umkreis beginnt bereits die Ferne. TaS Unbekannte. Tie Unendlichkeit. Ta knallt plötzlich in dieses gedämpfte Summen und Surren der großen Stadl ein Schuß.„Päug!" Im Augenblick ändert sich das Bild. Die Menschen gehen nicht mehr, sie lausen. Strömen einem nnbekannten Ziele zu, daß da vorne irgendwo aus dem großen Platz liegt. Man wird mitgeschoben. Tie Straßenbahn klingelt lebhafter, die Autos tute» heftiger: die große Milch» glaSglocke ist mit eiuemmal erfüllt von lautem, verworrenem, gespenstischem Lärm. Zehn Schritte weiter, und ich stehe vor einer Meufcheumauer, die vergeblich nach vorwärts drängt. Hälse recken sich, Rücken suchen sich zu heben. Man sieht Hüte, Mäuneihüle, Frauenhüte, bloße Köpfe. Verzweifelt klingelt die Straßenbahn. Ein Gemurmel legt sich breit über den Platz, der nichl zu übersehe» ist, scknvilll an: die hundertfache Frage: wa- ist geschehen? Da wendet sich ein Mann, der die anderen fast um Haupteslänge überragt, nach rückwärts, und sagt kurz und kalt:„Ra— erschossen hat sich mal wieder einer!" Stimmen eine- halben Bedauern« werden laut, Frauenstimmen vor allem. „Der arme Mensch!" „Aus Not natürlich; das ist doch klar!"' „Was wird feine arme Frau dazu sagen!" „Und die vielen kleinen Kinder, die nichts zu essen haben!" „Haben Sie denn den Mann gekannt?" frage ich die Frau neben mir, die die vielen kleinen Kinder so innig bedauert und bi« zu Tränen gerührt ist. „Aber iS doch alle« Quatsch", sagt ein Mann, der vor mir steht.„Er hat sich ja gar nicht selbst erschoßen. Riedergeknallt hat ihn einer. Wie sie das jetzt schon machen. Aber sie haben ihn schon. Tie Polizei ist schon da. Wie sie den Burschen zugerichtet haben! Recht so! Mörder! Am nächsten Baum sollte man ihn aushänge», den Kerl!" Tie Phantasie der Menge erhitzt sick> mehr und mehr. Tie gerührte Frau neben mir ruft: „Natürlich steckt da wieder so ein Weibsbild dahalte. Sie brachle» mich gestern ans eine glänzende Idee, als Sie vom Aussatz zu spreche» begannen und ersparten mir so, mit dem widerlichen Kerl von einem de Mey ein paar Kugeln zu wechseln!" Als ich ein Jahr später nach Europa zurückkehrte, sand ich unter den zahlreichen Postsachen auch ein Schreiben, in dem sich Mr. Kent und Mrs. Kent, geborene Sanford, als Vermählte empfahlen. n Neves. Brahn. hinter. Ich sag'S ja immer: daS kann kein gutes Ende nehmen! Es gibt ja schon bald keine anständige Frau mehr. Diese Weiber sind eS wert, daß einer für sie umgebracht wird! Hängen sich an einen Familienvater, und Frau und Kinder können zu Hause hungern. Pfui Teufel! DaS ist dann das Ende. Q Gott, o Gott!" Ich frage die gerührt« und jetzt so empört« Frau neben mir noch einmal:„Haben Sie den Mann denn gekannt?" „Aber es ist ja gar kein Manu! Eine Frau hat sich erschoßen", rüst einer von vorne. „Keine Spur! Erschoßen ist sie worde». Ein ganz junges Mädchen", sagt ein anderer.„Ein junger Bursche hat sie niedergeschoßen und sich selber auch." „Ach wo! ES ist doch nur ein Schuh gewesen. Ter junge Mann hat sich vor die Tram geworfen. Er ist auch tot." Ti« gerührte und empörte Frau neben mir rührt sich wieder:„Lieber Gott, das ist ja furchtbar! Das ist ja entsetzlich! Zwei junge Menschen! Aber das kommt davon, daß die jungen Leute heutzutage ohne Moral auftvachs/n." „Und jeder Lausbub hat einen Revolver in der Tasche", ergänzt jemand. Bon vor» drängt ein Mann nach rückwärts. Er hat einen ganz roten Kopf.„DaS muß so kommen..." „Wieso? Was ist denn?" „Ra— daS ist doch sicher, daß das ein Attentat ist. Zum Vergnügen schießt man nicht ans einen Bankdirekior, der im Auto vorbei- sährt!" „Einen Bankdirektor hat er erschoßen? Einen Bankdirekior?" DaS Gemurmel wird säst ehrfürchtig. „A was, so'u Unsinn!" ruft eS von vorn«. „Das ist doch der dicke Stadtrat Emmerling.'" „Aha! DaS ist doch der, der mit der Ar» beitsiosensürsorge zu tun hat." „Natürlich! Der Ticke, der die Leute so anschnauzt..." ES folgen nun noch einige sehr markant« Bemerkungen, die ich nicht niederschreiben möchte. Daun schieben sich zwei Schutzleute durch die Menge:„Weitergehen! Weitergehen!" Die Straßenbahn klingelt Verziveiselt; ein Auto trillert. Tie Menschenmauer öffnet sich langsam, widerwillig, teilt sich, löst sich auf. An- und ausgeregt bilde» sich noch da und dort debattierende Knäuel, aber rasch schluckt sie der Rebel ein. Und man geht wieder in einer Milch- glaSglocke. „WaS ist denn nun eigentlich geschehen?" frage ich einen der Schutzleute, der am Bürgersteig steht und der sich verlausenden Menge nachblickt. „Ein Autoreifen ist geplatzt!"
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13 (26.8.1933) 33
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