Das Griftenzminimum im Juni 1920

Von Dr. R Kuczinski, Direktor des Statistijden Amts

Berlin- Schöneberg.

Die Verbilligung von Schubwerf, Kleidern und Wäsche und die über Erwarten starke Zufuhr von Kartoffeln baben die Kosten des Existenzminimums im Juni gegenüber dem Mai bedeutend gesenkt. Die rationierten Nahrungsmittel waren allerdings im allgemeinen noch unverändert hoch im Preise. In Groß- Berlin z. B. foſteren Zucker und Milch 9mal soviel wie vor dem Kriege, Brot und Kartoffeln 10mal fovicl, Butter 14mal soviel, Margarine 20mal fobiel, Schmalz 29mal soviel. Beschränkt man sich auf die ratio= nierten Mengen, so ergibt sich im ganzen eine Bertenerung auf das Dreizehnfache. In den vier Wochen vom 31. Mai bis 27. Juni wuzten an die Bevölkerung verteilt:

7600 g Brot

887 Nährmittel

ge

450 g Gülsenfrüchte

15000 g Kartoffeln

80 g Butter

Prets Juni 1914 93f. 187

Preis Juni 1920 93f.

1800

226

34

840

20

1060

105

2015

170

300

21

2370

120

200 g Schmalz

800

28

1075 g Zuder.

428

47

770

10104

45 777

1000 g Fleisch

750 g Margarine

750 g Warmelade, Kunsthonig

Dieselben rationierten Mengen, für die man jetzt 101,04 m. zahlen muß, konnte man vor sechs Jahren für 7,77 M. fanfen. Diese rationierten Mengen enthalten nun aber im Wochendurch­schnitt nur etwa 12 600 Kalorien, b. h. reichlich soviel, wie ein Kind von sechs bis zehn Jahren benötigt. Man wird also das Griflenzminimum der Ernährung eines solchen Kindes in Groß­Berlin bei äußerster Einschränkung auf 20 M. anfeßen fönnen. Eine Frau braucht etwa 7X2400= 16 800 Kalorien. Sie müßte zu den rationierten Mengen noch Lebensmitttel im Nährwert von 16 800-12 600== 4200 Kalorien hinzukaufen. Das könnte sie am billigsten tun, indem sie sich noch 3 Pfund Kartoffeln für 1,05 M., Pfund Graupen für 8,40 M. und Pfund weiße Bohnen für 1,75 m. verschaffte. Ihr wöchentlicher Mindestbedarf für Nahrungsmittel bätte also 31 m. gefoftet. Ein Mann benötigt wöchentlich etwa 7X3000= 21 000 Kalorien. Die 4200 Kalorien, die er mehr braucht als eine Frau, fönnte er fich zuführen in Form von noch Pfund weißen Bohnen für 1,75 M., Nudeln für 2 M., Pfund Reis für 4 M., Pfund Mar­garine für 11 M. Sein wöchentlicher Mindestbedarf für Nahrungs­mittel würde also etwa 50 m. tosten. Eine Familie von Mann, Frau und zwei Kindern von sechs bis zehn Jahren würde mit 121 M. wöchentlich für Nahrung austommen

Pfund

Rechnet man für den Mindestbedarf an Wohnung den Preis von Stube und Küche, für Heizung 1 Zentner Briketts und für Beleuchtung 6 Kubitmeter Gas, so ergeben sich als Wochenbedarf für Wohnung 9 M., für Heizung 16,10 M., für Beleuchtung 6 M.

Für Bekleidung, b. h. für Beschaffung und Instandhaltung von Schuhwerk, Kleidung und Wäsche, sind mindestens anzusehen: Mann 36 M., Fran 24 M., Kind 12 M.

Für alle sonstigen lebensnotwendigen Ausgaben( Wäschereini­gung, Fahrgeld, Steuern usw.) wird man, da der Steuerabzug bom Lohn im Juni noch faum wirksam geworden ist, wie in den Bormonaten einen Zuschlag von 25 Proz. machen müssen. Als wöchentliches Eristenzminimum ergibt sich somit für den Juni 1920 in Groß- Berlin:

Ehepaar mit 2 Kindern Mk. 121

Mann

Ehepaar

Mk.

Mk.

Ernährung

50

81

Wohnung

9

9

Bekleidung

Helzung, Beleuchtung.

22

22

22

36

60

84

Sonstiges.

29

48

59

146

215

295

Auf den Arbeitstag umgerechnet, beträgt der notwendige Mindest verdienst für einen alleinstehenden Mann 24 M., für ein kinder­lofes Ehepaar 36 M., für ein Ehepaar mit zwei Kindern von sechs bis zehn Jahren 49 M. Auf das Jahr umgerechnet, beträgt bas Existenzminimum für den alleinstehenden Mann 7600 M., für das tinderlose Ehepaar 11 200 m., für das Ehepaar mit zwei Kindern 15 400 M.

Bom Juni 1914 bis zum Juni 1920 ift das wöchentliche Eriftenz­minimum in Groß- Berlin gestiegen: für den alleinstehenden Mann von 16,65 M. auf 146 M., b. h. auf das 8,8fache, für ein tinder­lofes Chepaar von 22,20 m. auf 215 M., b. h. anf das 9,7fache, für ein Chepaar mit zwei Kindern von 28,70 m. auf 295 M., b. b. auf das 10,8fache. An dem Existenzminimum in Groß- Berlin gemessen, ist die Mart jetzt 10 bis 11 Pf. wert.( Im Mai und April war die Mart nur 8 bis 9 Pf., im März nur 9 bis 10 Pf., im Februar allerdings noch 12 Pf. wert gewefen,)

Unternehmer- Sabotage aus Profitfucht

Die Abfagmöglichkeiten der Firma Stod Motorpflug A. G.  Find seit geraumer Zeit ins Stocken geraten, da infolge des Balutaunterschiedes der Preis des einzelnen Objektes für bie Abnehmer folloffal gestiegen ist. Die Firma fieht sich das burch veranlaßt, den Betrieb zunächst einzuschränken, und um einer Stillegung zu begegnen, fab sich der Betriebsrat gezwun gen, bei den einzelnen Ministerien vorstellig zu werden, soweit te einen evtl. Einfluß auf den Absatz der landwirtschaftlichen Maschinen haben.

Der Betriebsrat ersuchte die betreffenden Ministerien um thre Vermittlung oder um ein Kompenfationsverfahren, das mit den Oststaaten in die Wege zu leiten wäre.

Es war ein Erfolg gewiß, und zwar erklärte der Referent für Rumänien  , Professor Dr. Schlawe, sofort die Vermittlung der Motorpflüge in die Hand nehmen zu können, wenn ein großes Quantum gleich greifbar wäre, und wenn der Preis ets heblim herabgelegt würde, da die Nachfrage in Rumä­ nien   gerade für Stodpflüge sehr groß ift.

Der Betriebsrat segte sich sofort mit der Geschäftsleitung der Firma in Verbindung und war sehr erstaunt, daß sich trotz des fchlechten Geschäftsganges und der billigen Herstellung der auf dem Plaze stehenden Maschinen, die Firma sich nicht zu einer Herabsetzung des Preises entschließen konnte, Der Direktor, Herr Dr. Serini, lehnte bei der ja sehr begreiflichen Profit gier des beteiligten Geschäftsführers jede Preisreduzierung ab. Die Firma legt es darauf an, den Betrieb vollkommen tillzu legen, was ja an und für sich eine gute Geschäftspolitit iſt. da sich die auf Lager stehenden Maschinen auch ohne Arbeiter verkaufen lassen, and dadurch notgedrungen einen größeren Ber dienst abwerfen. Ferner liegt es der Firma am Herzen ja Herr Dr. Serini dem Betriebsrat erklärt vornehmen zu können, was nur erfolgen darf bei erheblicher Arbeitseinschränkung. Man sieht wieber cinmal, wie rüdsichts. los der Unternehmer feinen Borteil wahrnimmt, und sein fo= 3tales Empfinden in der Weise zum Ausdruck bringt, daß er tausende von Arbeitnehmer auf die Straße setzt und brotlos

macht.

wie

Entlassungen

Durch das Eingreifen des Betriebsrates fonnte zunächst die für die Arbeiter geplante 24stündige wöchentliche Arbeitszeit auf 30 Stunden herausgesezt werden nunmehr geht die Firma riidfichtslos vor, um auch den geringen Verdienst der Ange stellten zu beschneiden, indem sie am 30. Juni d. 3. die Kündi gung aller Angestellten ausspricht, um alsdann ab 1. August ein neues Vertragsverhältnis mit den ngestellter einzugehen, bas auch nur eine 30stündige wöchentliche Arbeitszeit vorfieht. und den Gehalt um verfürzt. Diese Verfügung hat, laut Aussprache( mit) der Geschäftsleitung, der Aufsichtsrat erlassen, dessen Borsigender derallen Arbeitnehmern der Metallindustrie

rühmlichst bekannte Justizrat Dr. Waldschmidt ist.

Der Mann, welcher bei den Tarifverhandlungen redit bezeichnende Aussprüche getan hat, die auf derartige Maßnahmen einreißen, wie sie gegen die Arbeitnehmer oben genannter Firma in An­wendung gebracht ist. Dieser Herr Waldschmidi macht seine Drohungen zur Wirklichkeit, es wird nun an den Arbeitnehmern liegen, diese Drohungen nicht mit einem Revolutionstheater( ich halte mich an einen Ausspruch dieses Herrn), sonocen mit Taten zu begegnen.

Es ist erwiesen, daß die Maschinen 40 bis 50 Prozent billiger verkauft werden können, eingerechnet wäre dabei schon eine Konventionalstrafe, die seitens eines Inter­essenverbandes der Arbeitgeber festgefeht, ist und 10 000 W. pro Stiid beträgt. Es würde bei einer 40prozentigen Ermäßigung, und einer evtl. zu zahlenden Konventionalstrafe von 10 000 M. noch ein Verdienst für die Firma sich ergeben

Es ist an der Zeit, die breite Masse des deutschen Volkes aufzuklären; die Machenschaften der Unternehmer ans Licht zu zerren, und den Arbeitnehmern, vornehmlich den Angestellten zu sagen, für wen sie darben müssen. Eine Firma, wie die vor= genannte, entblödet sich nicht, nachdem sie jahrelang immense Dividenden gezahlt hat, und das Aftientapital, man fann lagen, mehreremal amortisiert ist, die Arbeitnehmer in sowerer Zeit auf ein Minimum zu sehen, damit den Heren Aktionären ja nicht weniger Geld in den Hals geworfen wird, als in den Vorjahren.

Gemeinwirtschaftliches

Uns wird geschrieben: Die Bemerkungen über den Vortrag Rathenaus scheinen auf einer unvollständigen oder irrtüm lichen Wiedergabe des Berichts zu fußen. Herr Rathenau   führte in seiner Kritit des Kapitalismus zwar aus, daß der Kapitalis mus sehr billig verwaltet hätte, fügte aber hinzu, er hätte sehr teuer gearbeitet infolge der Verschwendung von Arbeitskraft und der mangelnden Organisation der Wirtschaft. Damit war ausdrücklich hervorgehoben, daß eine sozialistische Orga= nisationsform der fapitalistischen überlegen sei. Die billigere Berwaltung meini Rathenau in dem Sinne, daß der Kapitalismus, eben weil das gesellschaftliche Produkt in der Ber­fügung einer an Zahl geringen Klasse stünde, verhältnismäßig viel und rasch affumuliert hätte. An der Tatsache an sich, die Marr mit Nachdruck hervorgehoben hat, besteht wohl fein Zweifel. In einer sozialistischen   Gesellschaft würde die Akku­mulation Sache der Gesamtheit fein. Sie müßte dafür sorgen, daß ein ausreichender Teil aus dem Gesamtprodukt zur Er­weiterung der Produktion alljährlich zur Verfügung gestellt werde. Denn davon ist die ständig bessere Ausstattung der Ges sellschaft mit Gütern und sonstigen Leistungen abhängig. Eben deshalb darf man aber erwarten, daß das dauernde Interesse der Gesellschaft und ihr Streben nach einer reichlicheren Entfaltung der Kultur dafür sorgen wird, daß die Attumulationsinteressen der Wirtschaft nicht hinter den Konsumtionsinteressen zurüd­bleiben. Insofern halten auch wir die Besorgnisse Rathenaus für unbegründet, ohne deshalb die Rathenausche Gemein wirtschaft mit dem alten Kapitalismus zu identifizieren. Diese Gemeinwirtschaft selbst, die Rathenau   offenbar als eine Ueber­gangsform zur Vorsozialisierung ansieht, halten wir allerdings aus bestimmten ökonomischen und sozialen Gründen nicht für einen geeigneten Weg. Eine große Reihe gerade der ent= scheidenden Industrien zeigt bereits eine solche Entwicklungss stufe, daß sie in sozialistische Formen unter voller Ausschaltung des Kapitalismus überführt werden können.

3n den Lebensmittelunruhen

Gestern abend fand in Darm st a dt eine Versammlung der Rechtssozialisten und im Anschluß daran eine Demonstration ber Gewerkschaften gegen die Teuerung statt. Die Demons stration selbst verlief völlig ruhig. Nach der Beendigung blieben aber die Menschenmaffen zusammen auf dem Marktplatz und bes brängten die Sicherheitswehr, die infolgedessen schoß. Die Unruhen von gestern, bei denen die Menge zweimal versuchte, den verhafteten Kommunistenführer Paul aus dem Polizeipräsidium. zu befreien, haben auf seiten der Zivilisten vier bis fünf Ver wundete, auf der Seite der Sicherheitswehr einen Verwundeten zur Folge gehabt. Heute herrscht wieder Ruhe, es ist Wochen­markt, der reichlich beschickt ist.

In Remscheid   wurden anläßlich eines fleinen Krawalles einige Gemüse- und Obstläden gestürmt; zu schwereren Ausschrei tungen ist es nicht gekommen.

In Ilmenau   tam es gestern nachmittag zu einer unb gebung gegen die Teuerung der Lebensmittel. In einer Bersammlung auf dem Marktplage wurde beschlossen, die Lebensmittelpreise auf die Hälfte herabzusetzen und diesen Bes schluß den Händlern sofort mitzuteilen. In einem Geschäft wurden bie Lebensmittel au ben um 50 Prozent herabgesetzten Preisen von Demonstranten sofort selbst verkauft. Zu Ausschreitungen ist es sonst nicht gekommen.

In Freiburg   i. Br. fam es heute auf dem Wochenmarkt zu einem Aft der Selbsthilfe des Publikums. Eisenbahner und organisierte Arbeiter erschienen morgens auf dem Markt und fezten die Breife fest. Es ereigneten sich aber sonst keine Aus­schreitungen.

Wahrfpruch oder Sendenzurfell?

Von den Spigeln, deren Anwesenheit zur Aufklärung der Er mordung des Inspektors Blau dringend notwendig gewesen wäre, ist nur einer, Ottomar Toifl, erschienen. Dieser Zeuge hat auf die Fragen, ob er eine Reihe schwerer Verbrechen be gangen hat, oder ob er zum mindesten an diesen beteiligt war, die Auskunft mit der eidlichen Versicherung verweigert, daß die wahrheitsmäßige Beantwortung der Fragen ihn der Gefahr strafrechtlicher Berfolgung aussehen würde. Wer in der Gerichtspraxis Erfahrung hat, weiß daß 3eugen sich bes gründeter Weise scheuen, von diesem Aussage- Verweigerungsrecht Gebrauch zu machen, weil in allen erheblicheren Fällen der Staatsanwalt die Ausübung dieses Rechtes mit dem Antrag auf Verhaftung des Zeugen zu beantworten pflegt. Der Zeuge Tofft erscheint nach seinem Verhalten dringend der Be­teiligung an Sandlungen verdächtig, auf die hin der Anges flagte Ficht mann von einem außerordentlichen Kriegsgericht auf 12 Jahre ins 3uchthaus geschickt wurde. Eine Ver­haftung des Toift tst nicht erfolgt, von einem Verfahren gegen ihn nicht die Rede. In der Monarchie war nur der König un­Derleglich. Soll dieses Recht in dem neuen republikanischen Catswesen nicht nur auf Offiziere, sendern auf i den Poli Beispiel ausgedehnt werden? Wollen sich die Schwurs gerichte dazu hergeben, die eine Klasse der Wolfsgenossen mit den härtesten Strafen zu belegen, und die andernt für gleiche Sandlungen frei zu lassen?

Eine Verurteilung, die sich auf dem 3eugnis eines Mannes, wie Toifi, aufbauen würde, fann vor der Gerechtigkeit nicht Stand halten. Das Gesetz tennt teine mysteriösen Zeugen, die das Recht haben, über ihren Beruf hie Auskunft zu verweigern. Die Befragung bes Zeugen beginnt mit den Befundungen über seine Person. Der Eid bezieht sich auch auf diese Angaben, damit die Richter, insbesondere die Geschworenen, über die Persönlichkeit des Zeugen voll im Klaren sind. Die Befreiung des Zeu gen von seiner Austunftspflicht über seine Berson aus Gründen der persönliche Sicherheit widerspricht dem geltenden Recht. Mit der glei­chen Begründung könnten die Richter und Geschworenen für ihre Gicherheit fürchten. Es hat Zeiten gegeben, in denen aus sol­chen Gründen die Richter vermummt und heimlich amtierten. Aber das moderne Recht tennt teine mastierten Richter, ebenso­

wenig aber fennt es Zeugen mit derartigen Geheimnissen. Das mit der Aufgabe einer gerechten Strafjustiz unvereinbare Vers halten der Strafverfolgungsbehörden wird ganz offen, chtlich, in ihrer Haltung gegenüber den verdächtigten Persönlichkeiten des Schreiber und des Stolz, ohne die eine sichere Auf­flärung der Ermordung des Blau unmöglich ist. Die Ge­schworenen werden an der Tatsache nicht vorübergehen önnen, daß die Staatsanwaltschaft den Dahms, gegen den viele ge­ringere Verdachtsmomente vorlagen, durch diplomatische Vers handlungen aus Dänemark   zurückholte, während Schreiber, der nach der Aussage des Kriminalfommissars Trettin in eine dunkle Mordangelegenheit verwidelt ist, merkwürdigerweise von der Staatsanwaltschaft nicht verhaftet wurde, sondern ohne vors hergehende Gerichtsverhandlung nach der Schweiz   abges schoben wurde.

Die Geschmorenen dürfen sich nicht verleiten lassen, aus dem an sich berechtigten Bestreben, eine Mordtat nicht ungesuhnt zu lassen, die Angeklagten wegen eines Verbrechens zu verurteilen, das sie nicht begangen haben, oder dessen sie durch die Beweisaufnahme nicht restlos überführt sind. Das wäre Willkür, aber nicht Gerechtigkeit. Es sind in den letzten beiden Jahren eine lange Reihe von Morden an deutschen Volks­genossen, die der Arbeiterklasse angehörten oder mit ihr sym pathifierten, ungefühnt geblieben. Eine Verurteilung der jugendlichen Kommunisten über die Grenze ihres Geständnes hinaus, auf der Grundlage eines zweifelhaften Indi sienbeweises würde das gesamte roletariat als einen Att der Klassenjustiz und als eine Herausforderung empfinden und verurteilen.

Der Mordurozeß Blan

( Schluß der Beweisaufnahme.) Achter Verhandlungstag.

Zu Beginn der gestrigen Verhandlung befamen ber Gerichts­sachverständige Dr. Strauch, sowie der Gefängnisarzt Dr. Hirsch zu ihren Gutachten das Wort. In weitschweifiger Weise versuchten sie, den Nachweis dafür zu erbringen, daß der Gesundheitszustand, wie auch die geistige Beschaffung der An­getlagten oppe und Fichtmann kein derartiger sei, daß man eine gewisse Beschränkung der Willensfreiheit bei even­tueller Bejahung der Schuldfrage annehmen könnte.

R.-A. Liebknecht teilte dann mit, daß sich noch mehrere Zeugen gemeldet haben, die befunden wollen, daß der Lod= Spigel Toifl auch sie zu terroristischen Gewaltatten, Raub­zügen usw. aufgefordert habe. Da aber weder das Gericht, der Staatsanwalt sowie die Geschworenen erklären, in dieser Be ziehung durch die Beweisaufnahme genügens aufgettärt au sein, wird von einer Bernehmung dieser Personen Abstand ge

nommen.

Der Staatsanwalt gab dann die Erklärung ab, daß er nach dem als Zeugen verlangten Zeugen Stolz bei der Boli­zei in Magdeburg   Nachforschungen angestellt und von dort jezt den Bescheid erhalten habe, dat dieser von dort nach Stettin  , Zentral- Hotel, abgemeldet und von dort unbekannt verzogen ist. Es wird daraufhin allgemein auf diesen Zeugen verzichtet. Bor Schließung der Beweisaufnahme muß noch über den von der Verteidigung gestellten Beweisantrag, bezüglich des Lod [ pigels Schreiber beschlossen werden. Dieser Beweisantrag besagt, daß Schreiber als Zeuge bestätigen fönnte, daß er in München   als Lodjpitel tätig war und die Beseitigung des der Behörde unbequemen Lodspigels Blan übernommen hatte. Er habe zu dieseift Zweck Blau   von München   über Magdeburg  nach Berlin   gebracht, hier die Ermordung betrieben, und die Tat selbst, allein oder mit anderen, ausgeführt. Da die Vers teidigung auf diesem Beweisantrag besteht, wird Gerichtsbe= Schluß herbeigeführt. Das Gericht beschließt und verkündet, daß der Beweisantrag abgelehnt sei.

Rechtsanwalt Weinberg gab zur Kenntnis, daß ihm so­eben mitgeteilt wird, daß der Lodspitel Toift am 23. Juni 1919 wegen Erpressung verhaftet und in dem Polizeigewahr fam in der Dirtfenstraße untergebracht war. Am andern Tage fam Oberleutnant Graf Westarp   mit einer Bescheinigung vom Reichswehrgruppenkommando 20 und befreite Zoifl.

Da die Beweisaufnahme geschlossen werden sollte, verzichtete die Berteidigung auf Herbeischaffung der Atten resp. der Ver­nehmung des Beugen Toift oder des Oberleutnants Graf Westarp   über diese Angelegenheit. Damit ist die Beweiss aufnahme geschlossen.

Nach der Mittagspause erklären mehrere Geschworene, daß sie nicht imftande wären, der Verhandlung länger als bis 5 Uhr nachmittags zu folgen. Die Prozeßbeteiligten einigen sich dahin, die Plädoyers des Staatsanwalts sowie der Berteidigung erst am Montag entgegenzunehmen.

Der Vorsitzende gab dann die von ihm formulierten

Schuldfragen

bekannt. Diese Tauten für den Angeklagten Hoppe sowie auch den Angeklagten Fichtmann, ob sie sich des Mordes, im Falle der Verneinung dieser Frage, des Totschlags, im Falle der Verneinung der Beihilfe, zu einer von beiden schuldig gemacht haben. Wenn auf Totschlag oder Beihilfe erkannt wird, ob mildernde Umstände vorhanden sind.

Für den Angeklagten Winkler lautet die Frage, ob er sich der Beihilfe am Mord resp. Totschlag schuldig gemacht habe. Auf Antrag der Verteidigung werden für die Angeflagten Hoppe und Winkler die Eventualfragen gestellt, ob sie sich schuldig gemacht haben, eine ihnen zur Kenntnis gekommene Mordtat der Behörde nicht rechtzeitig mitgeteilt zu haben. Sierauf wird die Verhandlung auf Montag vormittag, 9% Uhr, vertagt.

Das neue österreichische Kabinett

Das neue Kabinett segt sich folgendermaßen zusammen: Der Tiroler Professor Dr. Mayr ist Leiter der Staatstanzlei und Staatssetretär für Verfassung und Verwaltung; Staatsjettetär des Innern ist Settionschef Walter Kreisty, Staatssekretär für Handel Abgeordneter ein 1, Staatssekretär für Landwirts schaft Abgeordneter Sausis  , Unterstaatssekretär für Kultus Ab­geordneter Mitlas, als Bertreter der Christlichsozialen. Staatssekretär für Aeußeres ist Abgeordneter Dr. Renner, Staatsjetretär für Heereswesen Abgeordneter Dr. Deutsch­Staatssekretär für soziale Verwaltung Abgeordneter Sanush Unterstaatssekretär für Unterricht Abgeordneter Glödel int Staatssekretärrang, Präsident der Sozialisierungskommission Ab­geordneter Dr. Ellenbogen, als Vertreter der Sozialdemo

fratie.

Die Ergebnisse der Boltszählung in Deutsch  - Desterreich

T.U. Wien  , 3. Juli.

Das Statistische Amt gibt das Ergebnis der Boltszählung vom 31. Januar 1920 bekannt. Die Gesamtbevölkerung beträgt 6 067 430, fie hat sich felt ber letzten ordentlichen Volkszählung vom 31. Dezember 1919 um 227 209 vermindert, das ist um 3,61%. Mehr als die Sälfte der Bevölferung entfällt auf das Land Niederösterreich  . Bon ber Bevölkerung sind 3 162 952 Personen weiblich und 2 904 478 männlich. Die weibliche Bevölkerung hat um ungefähr 1% abge nommen, bie männliche hat sich am 6,61% vermiubert.

Die Internationale Seemannstonferenz in Genua   nahm heute den Kommissionsbericht und den Entwurf des Uebereinkommens über die Stellenvermittlung und die Arbeitslosenber sicherung an. Bet Beschäftigungslosigkeit infolge Schiff­bruches sind die Reeder zur Zahlung eines zweimonatigen Loh nes verpflichtet.