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3. Jahrgang
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Sonntag, den 15. August 1920
Nummer 332
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Morgen- Ausgabe
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greiheit
der Unabhängigen Sozialdemokratie Deutschlands
Rußlands Friedensziele
Eine Rundgebung Tschitscherins ministers hat folgenden Wortlaut:
Das zweite, ausführliche Telegramm des russischen Außen
Mostan, 10. August.
Der Berliner Korrespondent des International News Service", Mr. Frant Mason, hat sich an den russischen Bolts tommissar für auswärtige Angelegenheiten, Tschitscherin , mit meherern Anfragen gewandt und von ihm gestern folgende Antworten auf telegraphischem Wege erhalten:
Uns liegt jeder Wunsch fern, Polen zu erobern. Wir werden selbstverständlich Bolens Unabhängigkeit völlig respektieren, und das polnische Bolt hat nichts von uns zu fürchten. Auch denken wir nicht daran, die Sowjet- Regierungsform irgendeinem widerStrebenden Bolte aufzuzwingen. Die Rote Armee ist gut organifiert und ausgezeichnet diszipliniert. Es gibt bei ihr feine Blün berungen und feinen Weibertroß. Alle Behauptungen über Blünderungen und Brandschahungen durch die Rote Armee verdienen als falsch teinerlei Glaubwürdigkeit.
gez. Tschitscherin.
Die ruffische Regierung beabsichtigt nicht im mindesten, Bolen 3 reinigen"( to wipe out), sie wünscht lediglich, sich Garan= tien gegen neue Angriffe zu verschaffen und verlangt deshalb die Herabsetzung der polnischen Heeresstärke auf 50 000 Mann. Zu gleicher Zeit aber sollen die polnischen Arbeiter ber organisierten Gewerkschaften bewaffnet werden, um Ruhe und Ordnung aufrechtzuerhalten. Diese Ar beitermiliz wird das Gegengewicht gegenüber den polnischen impes rialistischen Großgrundbefizeru bilden. In der Bewaffnung der polnischen Arbeiter sucht sich die Sowjetregierung die wirksamste Garantie zu verschaffen, indem sie barauf vertraut, in ihnen ein Bollwert für den Frieden zu finden.
Dies ist ein ganz neuer Gedante in der internationalen Bolitit. Das polnische Bolt verdient weitgehende Aufmerfjamfeit. Gleich zeitig mit der Bewaffnung der polnischen Arbeiterschaft wird die russische Armee aus Polen und von den polnischen Grenzen zurüdgezogen werden, wo nur 200 000 Mann belassen wer den sollen. Anstatt auf eine russische Ottupation, verläßt sich die Sowjetregierung auf die bewaffneten polnischen Arbeiter, zur Aufrechterhaltung des Friedens.
Bolen wird Waffen und Kriegsmaterial behalten tönnen, soweit oben
Sowjetrußland hat am Bersailler Vertrage feinen Teil und ignoriert ihn. Seine Beziehungen zu Polen und Deutschland bas fieren auf seinen eigenen Grundsägen, an erster Stelle auf der Anerkennung des Rechts der Selbstbestimmung und des Wunsches nach Frieden. Solange nicht ein allgemeines Abkommen mit Großbritannien erzielt ist, hat Sowjetrußland völlig freie Sand im Orient. Einschränkungen nach dieser Richtung fönnen einzig und allein durch einen Vertrag oder ein anderes Abkommen be schlossen werden. Dann aber werden solche Einschränkungen allers trengstens innegehalten werden. gez. Tschitscherin
Die Kundgebung Tschitscherins ist für die Beurteilung der Ziele, die die Sowjetregierung augenblidlich verfolgt, von großer Bedeutung. Sie wiederholt den bisher proflamier ten Grundsatz der Unabhängigkeit Polens und erklärt fate= gorisch, daß Sowjetrußland nicht die Absicht habe, seine Res gierungsform einem widerstrebenden Bolte aufzuzwingen. Sie stellt aber zugleich fest, daß sie als wirksamste Garantie gegen neue Angriffe die Bewaffnung der organi. sierten Arbeiterschaft Polens betrachtet. Das mit schafft die Sowjetregierung eine Basis, auf der die Fries bensverhandlungen der engen Sphäre der bürgerlichen Geheimdiplomatie entzogen und unter die Kontrolle der polnischen Arbeiterklasse gestellt werden können.
Die Gefahr der Stunde
Es sind schicksalsschwangere Tage, in denen wir leben. Gestern haben, vorausgesetzt, daß nicht wieder neue Schwierigkeiten entstanden sind, in Minst die polnisch- russischen Waffenstill standsverhandlungen begonnen. Aber nach aller Wahrschein lichkeit wird Warschau fallen, bevor in Minst ein positives Ergebnis erzielt wird.
Wie wird dieses Ereignis auf die Konferenzteilnehmer wirten? Nach allen Mitteilungen, die aus Mostau kommen, dürfen wir annehmen, daß die Sowjetregierung sich durch den großen militärischen Erfolg nicht wird verleiten lassen, über die Grenze der in London angekündigten Friedensbedin gungen hinauszugehen, wenn die Polen den Entschluß auf bringen, sie ohne weitere Verzögerung zu akzeptieren. Von der polnischen Bereitschaft hängt zunächst alles ab. Sie sollte selbstverständlich sein und wäre es, wenn eben nicht Frant reich jene verhängnisvolle Politit triebe, die geeignet ist, bei den Polen die Neigung zum Widerstand tros der furchtbaren militärischen Niederlage zu stärfen.
Nicht Warschau , nicht Mostau, ondern Paris in stabt richten sich alle Blide, denn von den Entschlüffen, heute das fritische Zentrum. Rach der französischen Haupt bie dort gefaßt werden, hängt der Friede im Often, ja mehr als das, hängen der Friebe und die Ruhe Europas a b. Die Anerkennung des gegenrevolutionären Abenteurers in Südrußland war ein Läßt sich Polen durch ihn zur Hartnädigkeit verleiten, fo find Schritt, der die ungeheuerlichsten Folgen nach sich ziehen kann. Verwidlungen bei denen alles aufs Spiel gesetzt wird, faft unvermeidlich, und es ist zweifelhaft, ob Lloyd George start genug sein wird, Frankreich auf der schiefen Bahn, die es betreten hat, dann noch aufzuhalten.
so
Darüber hinaus find die Erklärungen Tschitscherins noch insofern bedeutungsvoll, als sie auch die Stellung Sowjetrußlands zu Deutschland und zum Versailler Friedensvertrag präzisieren und die Fortführung der gegenwärtigen russischen Orientpolitit in Abhängigkeit sehen vom Abschluß eines allgemeinen Abkommens mit Großbritannien . Die Aenderung der russischen Orientpolitit, die die britische Weltmacht mehr und mehr beunruhigt, ist der Preis, den Sowjetrußland für den Abschluß eines allge meinen Friedens bietet, ein Anerbieten, das wichtig ges nug sein dürfte, um die englische Politif aus den Fängen der engstirnigen Prozentpolitit der französischen Kleinbürgerschen Unterstützung des Generals Wrangel eine bewaffnete zu befreien. zu machen, sondern auch gemeinsam mit der polnischen Bours geoiste den Kampf gegen Sowjetpolen und
Bergegenwärtigen wir uns die Situation! Kommt es in Minst nicht zu einem schnellen Abschluß, so werden die Bol Gowietzegierung einzusehen nud sei es auch nur für schewiti taum darauf verzichten, in Warschau eine die Zeit bis zum endgültigen Frieden. Es liegt aber durch aus in der Richtung der französischen Politit, daß sie diese Tatsache zum Anlaß nehmen würde, nicht nur aus der morali
Arbetterſchaft erjo terähte Armee und für die Bewaffnung der Die englischen Bedingungen für die Anerkennung Sowjetrußland zu beginnen. Wir hätten dann ben
erforderlich ist. Der Rest muß an Rußland ausge liefert werden. Allen Familien, deren Angehörige als polnische Bürger im Kriege oder im Zusammenhang mit dem Kriege ge tötet, verwundet oder erwerbsunfähig geworden sind, ist kostenlos und zu fretem Besitz Land zu überweisen.
Dies sind die Hauptpunkte, die, wie Sie sehen, ein Neubeginn find. Ihre Vermutungen über unsere Generäle, die angeblich die ruffische Regierung in der Sand haben, find wahrlich absurd. Weder Brufsilom noch Kuropatkin üben eine Kontrolle über die Armee aus; fie gehören lediglich einer beratenden Körperschaft an. Generaliffimus ift Ramenem, bessen Generalstabschef Lebedem. Der Obertommandierende an der Westfront, Tut= hatschewsti, ist ein vortrefflicher Kommunist und ein junger Offizier. Die oberste militärische Kontrolle liegt in den Händen des Revolutionären militärischen Komitees der Front. Die Rote Armee steht vollkommen im Dienfte der Sowjetmacht.
( Eigener Drahtbericht der Freiheit".) Ropenhagen, 14. Auguft. Der russische Operationsbericht vom 13. melbet: Jm Abschnitt Sierpiez haben wir den Fleden Beslun besetzt. Unsere Truppen gehen am Flusse Wtua vor und erreichten einige Ortschaften zwanzig Werft östlich des Flusses. Nach der Einnahme von Wyschtow ridien wir weftlich und südwestlich vor. Am 11. Auguft haben wir die Städte Wengrow und Lutow besetzt. Im Abschnitt Wlabmir Wolhynst setzten unsere Truppen den Vormarsch fort. Am Dnjestr und an der Küfte des Schwarzen Meeres herrscht Ruhe. In der Krim tämpfte unsere Kavallerie im Abschnitt Oreschow hartnädig mit bedeutenden Streiträften des Generals Wrangels .
Der polnische Heeresbericht vom 13. meldet: Jm Norden bringt der Feind im Abschnitt Modlin 3egaze vor. Kleinere bolschewistische Kavallerieabteilungen gelangten bis Sierpiez, größere feindliche Intfanterieabteilungen griffen Bielst und Blonst an. Die Umgruppierung unserer Streifzäfte zum 3wede der Verteidigung der Stadt Warschau vollzieht sich weiter planmäßig ohne Fühlung mit dem Feinde. Nordwestlich von Lublin besetzten unsere Rachhuten die Ufer des Flusses Tysmieni. Feindliche Abteilungen wurden abgewiesen, wobei wir acht Maschinengewehre erbeuteten und 100 Gefangene machten. Im Abschnitt Cholm wurde der Feind ebenfalls empfindlich geSchlagen. Wir nahmen ihm Gefangene und Maschinengewehr. ab. Längs der Strypa wurden feindliche Angriffe abgewiesen. Bei Borodyst wurden bolschewistische Kavallerieabteilungen durch das Feuer unserer Artillerie aus nächster Entfernung mit großen Berlusten versprengt
der Sowjetregierung
SN. Paris, 14. Auguft. Der„ Temps" bringt aus Moskau die Bedingungen, die England endgültig für die Anerkennung ber Sowjetregierung gestellt hat:
1. Sofortige Einstellung direkter und indirekter Feindseligkeiten. 2. Gegenseitige Heimbeförderung der Kriegs- und Zivils gefangenen.
3. Abmachungen bezüglich der Wiederherstellung der von Privat perfonen erlittenen Schäden. England verlangt für diesen Puntt eine fofortige Regelung.
4. Annahme der ruffischen Bedingungen für Wiederaufnahme des Handels durch England.
Die bolschewistische Regierung hat diese Bedingungen an genommen.
Rönigsberg, 14. Auguft. (...) Solbau wurde nach Stampf am 13. Auguft abends von den Bolschewiften befegt. Die Bolen gehen auf Loebau zurück, da die Bahnstrecke Soldans Lautenburg- Strasburg bereits in Händen ber Bolschewiften ist. Ruffische Kavallerie ist im Bors marsch auf Wloclawee und hat die Gegend Sierpe Kämpfe in der Gegend Block und Nafielsk, füdwestlich erreint. Im Angriff anf Moilin waren heftige Brest - Litowsh vorausgegangen. Die polnischen Kräfte wurben hinter den Wieprzabschnitt zurückgenommen.
Nach den neuesten Nachrichten hat die russische Nordarmee weitere nennenswerte Erfolge erzielt. Durch die Einnahme von Mia wa sind die Sowjettruppen an den polnischen Korridor herangerückt. Die militärische Lage zwang sie nunmehr früheres deutsches Gebiet zu betreten, wollten sie nicht ihre rechte Flante einem gefährlichen Gegenstoß von Soldau aus preisgeben. Sie haben daher Soldau und die längs der Grenze entlanggehende Bahnlinie nach LautenburgStrasburg besetzt, wöhrend sich die Polen in Richtung auf Bordringen in den Korridor ist eine Maßnahme, bedingt die Löbau , südöstlist Deutsch- Eylau , zurückziehen. Das Notwendigkeit der Rückendedung. Der Hauptstoß richtet sich gegen Warschau , dessen Eintreifung sich langsam zu vollziehen scheint. Die roten Truppen haben Planit und Bielst besetzt und marschieren vorwärts auf 21ozlawed und Plot, zwei Städten, die bereits an der Weichsel liegen. Bei Modlin ( Nowo Georgijemst) finden Kämpfe statt. Die Mündung des Narew in den Bug. Damit haben die Kämpfe Russen melden die Einnahme von Sierbet , einem Fort an der Mündung des Narew in den Bug. Damit haben die Kämpfe um Warschau ihren Anfang genommen. Die Einnahme von Wongraw und Ludow, westlich Brest - Litowst, zeigt uns, daß sich die roten Truppen auch von dieser Seite immer näher an Warschau heranfchieben.
französisch- russischen Krieg.
Daß die Pariser Machthaber ernsthaft mit dieser Möglich feit rechnen, fann taum bestritten werden. Ihre Versuche, die Grenzstaaten, Ungarn , die Tschechoslowakei , Rumänien und Südflavien gegen Rußland mobil zu machen, find offens fundig. Der einizige Lichtblid ist der, daß fie bisher allem Anschein nach mit Ausnahme von Ungarn allenthalben taube Ohren gefunden haben. Wenn nun dieser Mißerfolg nicht schwerwiegende Rüdwirkungen auf Deutsch I and andeuten fönnte, denn je weniger die erwähnten Staaten geneigt sind, sich als Stoßtruppen des französischen Kapitalismus miß brauchen zu lassen, umso mehr muß in Paris die deutsche Neutralität als Hindernis empfunden werden.
Bon verschiednen Seiten fommen Nachrichten von neuen
Truppenverstärkungen und Truppenver
schiebungen auf der linken Rheinseite, an der Saar und in Elsaß- Lothringen . Man fann sich dem Eindruck nicht mehr entziehen, daß hier umfangreiche Vorbereitungen für eine militärische Expedition getroffen werden, deren Ziel Polen sein soll. Das aber bedeutet, daß eines Tages an Deutschland die Forderung gestellt werden kann, den Durchtransport von Truppen und Munition zu gestatten und seine Neutrali tät aufzugeben. Es ist unverkennbar, daß die franzö fische nationalistische Presse und auch die, die in engen Be Berhekungen vorarbeitet. Dahin gehört die Behauptung von ziehungen zur Regierung steht, einem solchen Schritt durch heftige Angriffe gegen Deutschland , durch Verleumdungen und dem geheimen Vertrag mit der Sowjetrepublik, dahin gehört die Behandlung der Affäre, die sich am 14. Juli vor der fran zöfifchen Botschaft in Berlin abspielte. Dahin zurechnen ist auch das Auftreten der französischen Behörden im Saargebiet und ganz neuerdings das Märchen, Deutschland habe bei dem Attentat, das in Lyon gegen den griechischen Ministerpräfi denten Benizelos verübt worden ist, seine Hand im Spiel Mit allen Mitteln wird versucht, in Frankreich eine Stim mung zu erzeugen, die einem diplomatischen Vorstoß und eventuell einem militaristischen Einmarsch günstig sein tönnte, Aber man weiß, daß die deutsche Neutralität nicht nur auf der papiernen Erklärung der Regierung, sondern auch auf dem entschlossenen Willen der Arbeiterschaft beruht. Fast fieht es so aus, als wolle man sich nicht auf Drohungen be schränken, sondern versuchen, gewisse Schichten in Deutschland für das französische Vorhaben zu gewinnen. Es wird darauf spekuliert, daß unter Umständen das Bürgertum oder zum mindesten einzelne seiner Teile bereit sein würden, sich die Neutralität abtaufen zu lassen, und wir fragen uns, ob es nicht beispielsweise auch zum deutschen Programm der Barijer Regierung gehört, wenn in diesen Tagen der„ Ma tin" ein Schriftstüd veröffentlicht, aus dem hervorgehen soll, daß der ehemalige Kronpring für den Krieg nud seine Ver längerung nicht in dem Maße verantwortlich sei, wie man bislang geglaubt hatte.