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Mittwoch, 1. September 1920

Nummer 360

Morgen- Ausgabe

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greiheit

Berliner   Organ

der Unabhängigen Sozialdemokratie Deutschlands  

Die Wahrheit über

Rußland  

Von Wilhelm Dittmann  .

Die neue Sühneforderung

Die französische   Sühnenote

Berlin  , 31. August.

folgenden Wortlaut: Die von dem französischen   Botschafter heute überreichte Note hat

Here Minister!

Im Anschluß an meine Note vom 27. d. M. beehre ich mich Euerer Exzellenz die Bedingungen der Regierung der Re publit für die Beilegung des ernten Zwischenfalles bekanntzu­geben, der sich auf dem französischen   Konsulat in Breslau   am 26. August d. 3. zugetragen hat:

1. Das Konjulat wird von der deutschen   Regierung auf ihre Kosten wieder in Stand gejezt.

und nachdrückliche In diesem Sinne beehre ich mich, im Auftrage meiner Regies rung die Forderung zu stellen, daß die Deutsche   Regierung für alle Zwischenfälle, deren Opfer franzöfifche Vertreter ober Staats angehörige gewejen find, mir in der Botschaft binnen türzester Frist durch Seine Egellenz den Reims. fanzler ihr Bedancen ausspricht und zugleich die Zu jage erteilt, daß die in der vorliegenden Rote geforderte Genug­tuung in vollem Umfang gewährt werde.

Strafen zeigt, daß Ende jegen

Im übrigen behalten sich die verbündeten Regierungen selbst verständlich vor, die Sühne und Wiedergutmachung zu verlangen, die bie Uebergriffe gegen die Interalliierten Kontrollfommissionen und ihre Mitglieder zu erfordern jaheinen.

Genehmigen Sie, Herr Minister, die Versicherung meiner aus gezeichneten Hochachtung. gez. Charles Laurent.

Im deutschen   Proletariat herrschen sehr verworrene An- Die Früchte der nationalistischen Hezze Regierung nicht durch deutliche Mizbilligung fichten über die Zustände in Rußland  . Die Sympathie mit der russischen Revolution verleitet oft zu den wunderlichsten Illusionen. Man begegnet nicht selten der naiven Vorstellung, in Rußland   lägen eigentlich Lebensmittel und Naturschätze aller Art in Sülle und Fülle bereit und es fehle nur an Transportmitteln, um alles nach Deutschland   zu bringen und hier der Not ein Ende zu machen. Mancher Arbeiter, der in Deutschland   der heimischen Misere entfliehen möchte, wartet nur auf eine günstige Gelegenheit, nach Rußland  , dem Biel   seiner Wünsche, auswandern zu können. Romantiter träumen gar davon, daß die russische rote Armee nach Deutsch­ land   marschieren, hier die Räterepublit errichten, dann ge­meinsam mit dem revolutionären deutschen   Proletariat bie Revolution nach Frankreich   tragen und so die Weltrevolution verwirklichen werde. Daß in Rußland   die Diftatur des Proletariats auf der Grundlage des Rätesystems errichtet und der Wille der Massen in Politik und Wirtschaft be­timmend sei, gilt so sehr als ausgemachte Sache, daß Zweifel daran einfach abgewiesen werden. Blinde Schwär merei und gläubige Inbrunst haben Sowjet- Rußland zu dem Idealland gemacht, in dem alles Leid des Proletariats ein Ende hat. Die Aufnahme wirtschaftlicher Beziehungen zu Rußland   und der Anschluß unserer Partei an die 3. Inter­nationale wird nicht selten deshalb gefordert, um bald­möglichst teilhaben zu fönnen an dem Wohlstand und der Freiheit, die man in Rußland   errichtet wähnt. Rußland   ist der helle Hoffnungsstern in der Nacht des Elends, aus dem Erlösung ersehnt wird. Alles Heil wird mit fast religiöser Zuversicht von Moskau   erwartet.

Die bisherige Abgeschlossenheit Sowjet- Rußlands von Westeuropa   hat nicht wenig dazu beigetragen, daß diese wirtlichkeitsfremden Vorstellungen sich herausbilden und fest­fegen tonnten. Sätten deutsche revolutionäre Proletarier unausgesett in enger persönlicher Fühlung mit dem boliche­mistischen Rußland sein können, dann hätten solche Illusionen gar nicht aufkommen, geschweige denn sich festsetzen tönnen. Kommen jetzt deutsche   Arbeiter voller Begeisterung für das erträumte Eldorado nach Rußland  , so sind sie entsetzt und niedergeschmettert über die Zustände, die sie vorfinden, wie es dem größten Teil des ersten Auswanderertransports deutscher   Industriearbeiter ergangen ist, mit dem uns der Zufall auf unserer Reise nach Moskau   zusammengeführt hatte. Solche unvermittelten Ernüchterungsfuren auf russi­chem Boden führen leicht zur Entfremdung und wirken der Anna erung zwischen dem deutschen   und dem russischen Pro­letar entgegen, die im beiderseitigen Interesse notwendig ist. .um ist es erforderlich, daß alle, die in Rußland   die Bufte an Ort und Stelle fennengelernt haben, sie den deutschen   Arbeitern ohne Voreingenommenheit und ohne Schönfärberei so schildern, wie sie wirklich sind.

Bei der Betrachtung russischer Verhältnisse muß man vor allem denten an die fulturelle, wirtschaftliche, soziale und politische Rückständigkeit und Eigenart dieses Riefen reiches und darf sich nicht einbilden, daß die Revolution diese Erbschaft der Vergangenheit plöglich hätte abschütteln fönnen. Des weiteren muß man sich stets vor Augen halten, daß der ununterbrochene Kriegszustand, in dem sich das Land seit 1914 befindet, seine Wirtschaft aufs äußerste geschwächt und zerrüttet, seine Kräfte aufgerieben hat. Die einfachste Ueberlegung muß schon aus diesen beiden Gründen zu der Erkenntnis führen, daß in Rußland   selbst dann keine rofigen Zustände herrschen könnten, wenn das ganze Land in vollster Sarmonie an feinem Wiederaufbau arbeiten würde. Tatsächlich aber befindet es sich seit 3% Jahren im schärfsten Bürgerkrieg im Innern. Es wird in allen feinen inneren Einrichtungen von Grund auf revolutioniert und umgestellt, während es gleichzeitig nach außen um seine Existenz fämpfen muß. Wie können da derart idyllische Verhältnisse entstehen, wie sie sich die Phantasie bei uns aus

gemalt hat?

Der Hauptrepräsentant der russischen Rüdständigkeit ist der Bauer. Und in diesem Lande sind 75 Prozent der Ge lamtbevölkerung Bauern! Aber nicht Bauern im westeuropäischen Sinne. Nein, Bauern, die noch vor wenigen Jahrzehnten Leibeigene waren, weibeinige Tiere", wie Däumig vor den deutschen   Industriearbeitern in Kolomna   bei Mostau sagte. Bauern, die noch bis zur Revo lution unter der Knute des Barenregiments in Rechtlosig feit und schwarzer Unwissenheit hinnegetierten. Die Revo Intion hat diese primitiven Menschen nicht ändern fönnen. Sie sind auch heute weder Sozialisten noch Kom­munisten, haben von Politik, Staat und Gesellschaft überhaupt faum rechte Vorstellungen. Sie tönnen meist nicht lesen und nicht schreiben, ihr allgemeiner Horizont reicht faum über ihre eigene Scholle hinaus, wie es etwa beim deutschen   Bauern im Mittelalter der Fall gewesen sein mag. Diese träge Bauernmasse, dieser gewaltige Blod von 75 Prozent der Gesamtbevölkerung, wurde troz seiner In­differenz, ja Antipathie gegenüber Sozialismus und Kom munismus zum Fundament der bolichewistischen Herrschaft.

2. Die Deutsche   Regierung zahlt 100 000 ranten zur Entschädigung der Konsulatsbeamten für die bei der Plünde rung erlittenen materiellen Verluste, für den Schaden, der ihnen etwa durch Vernichtung ihrer auf dem Konjulat hinterlegten Wertpapiere und Urkunden entstanden sein fönnte, und für die besonderen Aufwendungen, zu denen der Vorfall fie genötigt hat. 3. Alle an dem Ueberfall Beteiligten werden ermittelt und bestraft. Das Ergebnis der Ermittelungen wird der Botschaft binnen acht Tagen mitgeteilt.

4. Gegen die Ortsbehörden, durch deren Einverständnis, Fahrlässigkeit oder Gleichgültigkeit die Ausführung des Ueber falles möglich geworden ist, werden disziplinarische Maß­regeln getroffen, von denen die Botschaft innerhalb der gleichen Frift Mitteilung erhält.

Die französische   Note enthält, wie vorauszusehen war, außerordentlich harte Bestimmungen. Sie fallen denen zur Last, die fortgesett in unverantwortlicher Weise das deutsche   Ansehen herabwürdigen und durch ihre Pöbeleien den unfreundlichen Empfindungen, die be greiflicherweise jenseits des Rheins vorherrschen, Vorschub, leisten. Mitschuld tragen auch die Hez organe vom Schlage der Deutschen Tageszeitung", der Deutschen Zeis tung" und des Lokal- Anzeigers". Wie dort liebevoll jede bauscht wird, um die nationalistischen Instinfte wachzurufen. noch so nebensächliche und formale Angelegenheit aufge bas fann nur zu fotchen Exzessen führen, wie wir fie in Bet lin und jetzt in Breslau   erlebt haben. Das wird dies

5. Nach vollständiger Erfüllung dieser Bebin gungen wird das Konsulat in Gegenwart des Oberpräsidenten Der Proving Schlesien   und des franzöfifchen Botschaftsrats wiederfelben Blätter nicht abhalten, aufzuschreien über die neue De­eröffnet. Die Flagge wirb gleichzeitig gehißt und weht bis 7 Uhr abends. Eine Kompagnie Reichs= wehr mit Musit erweist die Ehrenbezeugung und defiliert vor dem Konsulat. Das Programm des Her gangs wird im Einverständnis mit der Botschaft festgesetzt.

Da die Regierung der Republit der Ansicht ist, daß die Gewalttat gegen das französische   Konsulat in Breslau   auf die nämlichen Ur fachen wie die Beleidigung der französischen   Botschaft vom 16. Juli zurüdzuführen ist verlangt sie außerdem sofortige diszi­plinarische Maßregeln gegen Hauptmann von

Arnim.

Die Regierung der Republik   wünscht mit der deutschen   Regierung in einer Atmosphäre der Beruhigung und Arbeit friedliche Beziehungen zu unterhalten. Aber sie muß feststellen, daß eine lange Reihe feindjeliger Rundgebungen und Angriffe ge gen ihre zivilen und militärischen Vertreter in Deutschland   bezeugt werden; daß es gewisie Clemente auf Herausforderungen ab­gesehen, zu denen das regelmäßige Ausbleiben einer Bestrafung ge­radezu ermutigt. Sie ist überzeugt, daß dieser unerträgliche Zu stand sich von Tag zu Tag verfchlimmern wird, wenn die deutsche

mütigung. Gerade die Alldeutschen und ihre Presse, die ihr Deutschtum und ihre nationale Würde nicht oft genug an preisen fönnen, sie sind es, die am stärksten gegen die natio nale Würde verstoßen und diese fortgesetzten Demütigungen verschulden.

Aber auch die französische   Regierung soll sich feiner Täus schung darüber hingeben, daß der gemeinsame Wille zum Frieden und zur Arbeit nur verwirklicht wer den tann, wenn auch sie alle Rüdsicht auf die Rechte ber deutschen   Bevölkerung nimmt und Streitfälle wie diese in weniger aggressiver Form verfolgt. Sonst bleiben die Beteuerungen von Frieden und Arbeit nur schöne Worte. Sie darf nicht vergessen, daß das deutsche Volf in seiner er­drückenden Mehrheit und ganz besonders die Arbeiter schaft diese Ausschreitungen entschieden verur teilt. Danach sollte die französische   Regierung handeln und nicht das ganze Bolt verantwortlich machen für die Taten einer Handvoll verheyter Menschen.

dort nicht aus dem Handwerk und der Manufaktur zum maschinellen Großbetrieb allmählig entwidelt, wie bei uns, sondern ist vom ausländischen, besonders französischem und deutschem Großkapital, erst im Laufe der letzten Jahrzehnte in Gestalt moderner Riesenbetriebe treibhausmäßig ins Leben gerufen worden. Das Proletariat rekrutierte sich vor­nehmlich aus Bauern oder Abtömmlingen von Bauern. Eine starte heimische Bourgeoisie fehlte ebenso wie ein ent wideltes städtisches Handwerk, die sich als starte poli­tische Fattoren einer proletarischen Erhebung hätten ent gegenstellen fönnen, als das alte Seer und die staatliche Bureautratie zusammenbrachen. Da die großen Industrie­werfe meist ausländischen Kapitalisten gehörten, verlegte deren Enteignung unmittelbar feine großen hei mischen Interessen. Wie auf dem Lande, so konnte deshalb auch in der Stadt und in den Industriezentren Lenins  zündende, auf die primitive Geistesverfassung der Bauern und Arbeiter eingestellte Parole: Enteignet die Ents eigner! Plündert die Plünderer! Raubt das Geraubte!" ohne große Widerstände wörtlich befolgt werden. Wie die Bauern das Land der, Gutsherren, so nahmen die In­mittelbar an sich.

Das materielle Interesse fettete die Bauern an das revolutionäre Regiment, das ihnen nicht nur Frieden, sondern auch and in beträchtlichem Umfange brachte, das Land der Gutsherren. Der russische Bauer hat jetzt mehr Land, zahlt jetzt weder Steuern an den Gutsbesitzer noch an den Staat, braucht deshalb Getreide, Vieh, Milch, Butter usw. nicht mehr wie früher zu verkaufen, um das Geld für die Steuern aufzubringen. Er kann diese Produkte teils selbst verzehren, teils im Schleichhandel verkaufen und den Erlös behalten, soweit er sie nicht bei Requifitionen zu den staatlich festgesetzten Preisen abtreten muß. Ist es da ein Wunder, daß die antifollektivistischen" Bauern die bol­schewistische Regierung, die ihnen diese gewaltige Ver besserung ihrer materiellen Lage beschert hat, verteidi gen, aus Angst, daß ihnen ein anderes Regime Land und Steuerfreiheit wieder nehmen fönnte? Nebenbei: W haben wir in Deutschland   einen solchen materi­ellen Ritt, der drei Viertel der Gesamtbevölkerung so fest an eine sozialistische Regierung bindet, wie die Land­frage die russische   Bauernmasse an die Bolschewistenherrschaft fesselt? Allerdings nur solange fesselt, als der Eigentums­teufel im Bauern nicht durch ernstliche Versuche, den Kom- dustriearbeiter die Werte und Betriebe der Kapitalisten un munismus auf dem Lande in die Praxis umzusetzen, zur Gegenwehr aufgestachelt wird. Einstweilen hat der russische  Bauer davor noch Ruhe, und so ist auch er noch ruhig. Es zeigen fich aber die kommenden Konflikte schon darin, daß Der Bauer seine Produkte nicht mehr gegen wertlose Papier­rubel, sondern nur gegen Industriewaren hergeben will und aus Furcht vor den Requisitionen viel Land unbebaut liegen läßt. Vorläufig haben die bolfchewistischen Experi­mente mit fommunalen und genossenschaftlichen Gütern für die russische   Landwirtschaft nicht mehr. Bedeutung als etwa unsere landwirtschaftlichen Versuchsgüter und Musterfarmen für die deutsche   Landwirtschaft. Sozialismus und Kommunismus gibt es in Rußland   auf dem Lande zunächst noch nicht.

Wie auf dem Lande, so lagen auch in den Städten und Industriezentren Rußlands   die Verhält­nisse für eine proletarische Erhebung durch die eigenartige soziale Schichtung der Bevölkerung günstiger als in irgend einem anderen Lande der Welt. Der Kapitalismus ist ünstlich nach Rußland   verpflanzt worden. Er hat sich

=

Das war jene erste Zeit der bolfchewistischen Revolution, in der das Wort: Alle Macht den Arbeiters Bauern und Soldaten Räten!" alles beherrschte. Diese Zeit ist heute längst vorbei! Sie hat faum ein Jahr gedauert. In ihr tamen die bolschewistischen Führer zu der niederdrüdenden Erkenntnis, daß weder die stupide Bauernmasse in den Dörfern, noch die Mehrheit des In­dustrieproletariats für die demokratische Selbst­verwaltung der Wirtschaft und des Staates in fozia­listischem Sinne reif und fähig war. Das war uns jhon im Gommer 1917 während der Kerensti- Periode in mod holm von den Führern der internationalen Mensch piti vorausgefagt worden. Die Bolschewiti bestritten es damals, fie bauten auf die Schöpfertraft ber Maffe". Gie haben dann die Probe auf das Erempel gemacht. Die Masse hat die Probe nicht bestanden, sie hat versagt, fie mußte ver sagen! Die Masse der russischen Bauern und Arbeiter! Das heißt: eine fulturloje, wirtschaftlich und