Hilfe für Kinderreiche.
Am 1. Januar 1926 ist eine 2 enderung des Eintommensteuergeleges in Kraft getreten, durch die in stärferem Maße als seither die Familien der Kinderreichen begünstigt werden. Bisher blieben steuerfrei: für das erste Kind 120 Mr., für das zweite Kind 240 Mt., für das dritte Kind 480 Mr. Ein sozialdemokratischer Antrag auf Erhöhung diefer Sätze wurde abgelehnt. Dagegen wurde der steuerfreie Betrag erhöht: für das vierte Kind von 600 Mr. auf 720 Mr.
und für jedes weitere Kind von 600 Mt. auf 960 Mr.
Alle Bergünstigungen für Kinderreiche, die aus öffentlichen Mitteln gewährt werden, sei es in Form von Steuerbefreiungen, Allokationen, Prämien, Schulgeldbefreiungen, Lehrmittelfreiheit, Kinderspeisungen usw. werden überall die ungeteilte Zuftimmung aller Sozialisten finden. Anders steht es dagegen mit dem sogenannten Soziallohn, der vor einigen Jahren in Deutschland und auch in Franfreid) eingeführt wurde. Wenn den Beamten Frauen- und Kinderaulagen gewährt werden, so ist das aus der Doppel. Intereffen und zugleich als Arbeitgeber eines großen Beftellung, die jede Regierung als Organ der öffentlichen In Frankreich und England ist der Grundsatz, amtenheeres einnimmt, zu erklären und auch zu rechtfertigen. daß der Staat den findereichen Eltern einen Teil ihrer mate- Gegen die Gewährung der Frauen- und Kinderzulagen durch riellen Sorgen abnehmen muß, viel wirkungsvoller die privaten Unternehmer hat sich aber mit Recht durchgeführt. Bereits vor dem Krieg hat Frankreich sein Ge- der größte Teil unserer Gewerkschaften gewendet, weil sie nur fetz über die Generalsteuer des Einkommens zugunsten der zu einer Herabsetzung des allgemeinen Lohnniveaus führen. Kinderreichen verbessert. Die französische Steuergesetzgebung Arbeitsleistung und der Bedarf einer durchschnittlichen Die Grundlage des Arbeiterlohnes ist dann nicht mehr die ist außerordentlich vielgestaltig und in fehr vielen Steuer gesehen finden sich Vergünstigungen für die Kinderreichen. Arbeiterfamilie. Die von ihren privaten Interessen Dr. Hans Harmsen zählt in Band XIX der„ Beröffent- geleiteten Unternehmer werden dem Lohn die Bedürfnisse lichungen aus dem Gebiete der Medizinalverwaltung" noch eines unverheirateten jungen Arbeiters zugrunde legen und folgende Steuergesetze auf, die Vergünstigungen für die dazu den Familienvätern dürftige Zulagen zahlen. Das liegt Kinderreichen enthalten: Grundkontributions-, Schuld- und nicht im Interesse der Arbeiterschaft, und es beschwört außerEinkommensteuergesetz, das Vermögenssteuergesetz, die Ge- dem für die Familienväter die Gefahr der Entlassung herauf. bührenermäßigungen für Erbschaften und Schenkungen, außer Auch Ausgleichstassen sind nicht der rechte Weg. Die Er dem zahlreiche verschiedenartige Erleichterungen bei den Gefahrungen, die in Deutschland mit dem Soziallohn gemacht wurden, müssen jeden Sozialisten nur bestärken in seiner meindefteuern. Forderung, daß die Kosten für die Erziehung der Kinder in zunehmendem Maße aus öffentlichen Mitteln zu bestreiten sind.
Als wichtigste Unterstützung erhalten in Frankreich die Eltern von mehr als drei oder vier Kindern sogenannte Allotationen, das sind Erziehungsbeihilfen, die in monatlichen Raten ausgezahlt werden. Bei der Geburt eines Kindes werden Wochenhilfe und Stillgeld ähnlich wie bei uns, gezahlt. Außerdem erhalten die Eltern sogenannte Prämien der Aufmunterung( d'encouragement), die bei der Geburt des dritten und der weiteren Kinder gezahlt werden. Eine weitere Prämie wird in diesen Fällen als Beitrag zu einer Altersfürsorge und zu einer Lebensversicherung der Eltern eingezahlt. Der Betrag diefer Allokationen und Prämien mußte wegen der Entwertung des französischen Frank in den letzten Jahren
mehrmals erhöht werden.
Bei Militärdienst werden den Soldaten aus finderreichen Familien einige, allerdings nicht sehr wesentliche Vergünstigungen gewährt. Maßnahmen zur Bekämpfung der auch in Frankreich bestehenden Wohnungsnot werden häufig mit Bergünstigungen für die Kinderreichen verbunden. In der Praxis find diese Vergünstigungen allerdings oft ebensowenig wirffam wie in Deutschland .
Bedeutungsvoller sind die Fahrpreisermäß gungen. Es wird eine Fahrpreisermäßigung von 30 Pro3. für alle Mitglieder einer Familie mit drei Kindern gewährt. Für jedes weitere Kind erhöht sich diese Ermäßigung um 10 Proz. bis zu 70 Proz. für Personen aus einer Familie mit sieben Kindern.
Neben diesen materiellen Formen der Begünstigung von Kinderreichen finden sich auch äußerliche Symptome einer hohen Wertung des Kinderreichtums. So erSo er halten die Mütter von fünf lebenden Kindern in Frankreich , das so sehr die große Geste liebt, feierlich und öffentlich am Nationalfeiertag die médaille de la familie française". Bei Müttern von acht Kindern wird diese Prozedur wieder holt, nur erhalten die Mütter nun an Stelle der vordem aus Bronze bestehenden Medaille eine silberne und bei zehn Kindern gar eine goldene Medaille.
Dem an Berliner Berkehrsfitten und unfitten Gewöhnten fällt bei einem Gang durch Baris auf, daß es selbst bei startem Andrang zu Straßenbahn, Autobus oder Untergrund ganz allgemein üblich ist, Bersonen mit fleinen Kindern den Bortritt zu laffen. Diese Bersonen" sind, nebenbei bemertt, in Paris mindestens ebenso häufig Männer wie Frauen. Das Tragen eines Kindes scheint dort nicht so ausfchließlich ein Borrecht" der Mütter zu sein wie bei uns.
In England, das im Gegensatz zu Frankreich und Deutschland ein viel einheitlicheres Steuersystem hat, bleibt ein Jahreseintommen bis zu 150 Pfund Sterling 3000 mt. Steuerfrei. Die Freigrenze erhöht sich bei Verheirateten auf 5000 Mt. jährlich, außerdem für das erste Kind um weitere 720 Mr. und für jedes weitere Kind um 540 mt. Durch den im Verhältnis zu Deutschland hohen Betrag des vollkommen fteuerfreien Einkommens erhalten in England die finderreichen minderbemittelten Familien eine viel größere Vergünstigung als in Deutschland und auch in Frankreich . Die Steuerpflicht für einen Vater von drei Kindern beginnt überhaupt erst bel einem Einkommen von mehr als 6800 Mt.
Geburtenrückgang und Kinderwohlfahrt.
Seit einigen Jahrzehnten ist in allen Ländern Europas ein wachsender Rückgang der Geburtenziffer zu tonftatieren. Ungefähr feit der gleichen Zeit ist auch die Sterblichkeit geringer geworden. Die niedrigere Sterblichkeitsziffer ist zu einem wesentlichen Teil darauf zurückzuführen, daß nicht mehr so viel Kinder, vor allem nicht mehr so viele Säuglinge sterben als früher. Es hat sich also auch auf diesem Gebiet eine Rationalisierung vollzogen. Es werden weniger Kinder geboren als früher, und es sterben auch weniger Kinder. Das bedeutet eine gewaltige Schonung der Frauengesundheit und der körperlichen und seelischen Kräfte der Mütter. Die kleine Familie, die wir heute häufiger finden, bietet unter den gegenwärtigen Berhältnissen für die Pflege und Erziehung der Kinder ungleich günstigere Voraussetzungen, als die außerordentlich finderreiche Familie früherer Generationen. Dr. Herta Riese, die Leiterin der Sexualberatungsstelle des Mutterschuh in Frankfurt a. M. hat in der Neuen Generation" Seite 250/1925 einen Bericht über ihre Tätigkeit veröffentlicht, der diese Erfahrungstatsache neu bestätigt. Bei den kleinen Familien von ein bis drei Kindern tam auf 17 Kinder ein Todesfall, während große Familien mit mehr als drei Kindern schon bei sechs Kindern einen Todesfall zu beklagen hatten. Dabei entfiel auf die fleinen Familien die überwiegende Mehrzahl der franken Familien, die die Beratungsftelle in Anspruch genommen hatten. Dr. Herta Riese fommt zu dem Resultat:„ Der Unterschied ist so auffallend, daß Kinder aus tranten fleinen Familien in bezug auf Lebensaussichten und Gesundheit beffer dran find als Kinder aus gefunden großen Familien. Bei fleinen franten Familien ist die Sterblichkeit noch nicht einmal halb so groß wie bei gefunden großen.... Damit wäre gejagt, daß die gefündeste Beranlagung der Uebermacht der schädlichen Umwelteinflüsse erliegen muß, daß aber Hygiene, Pflege, Ernährung, wie sie die kleine Familie bieten, über eine frankhafte Beranlagung zu liegen imftande find."
Wenn auch heute in Deutschland die Diskussion über Kinderzahl und Geburtenrüdgang nicht mehr mit der gleichen Lebhaftigkeit geführt wird als zu der Zeit, da Deutschlands Machthaber um feine Wehrkraft noch sehr besorgt waren, und in jedem Kind den zufünftigen Kriegstnecht fahen, so wird doch die Debatte über die Aufhebung des§ 218 start bestimmt von der Stellungnahme der einzelnen Schichten zu dem Problem des Geburtenrüdganges. Wenn die rechtsstehenden Parteien zum größten Teil die Beibehaltung der veralteten Baragraphen fordern, so spielen dabei militärische Machtgelüfte nicht mehr die ausschlaggebende Rolle wie früher. Aber bei ihrer Forderung einer hohen Geburtenzahl ist doch immer der Untergebante, daß die anderen die Arbeiterfrauen die vielen Kinder bekommen sollen. Finden sie später einmal nicht als Soldaten Ber wendung, so ist ihre Eristenz als induftrielle Reservearmee" auch nicht unerwünscht.
-
Die Stellungnahme der Sozialdemokratie für die Aufhebung des 8218 erscheint demgegenüber als ein Zugeständnis an eine indi. vidualistische Regelung dieser Frage. In der Tat ist der Geburtenrückgang ein Ausdruck dafür, daß die breiten Waffen die Zahl der Geburten nicht mehr in gleichem Maße mie früher einfach Natur und Zufall überlaffen. Das einzelne Individuum hat sich das Recht genommen, hier seinen eigenen Willen durchzusehen.
Man könnte nun von einer so individualistischen Regelung dieses Problems ein wahres Chaos erwarten. Die Statiftif zeligt