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Frauenstimme

Nr. 4+ 43.Jahrgang

Beilage zum Vorwärts

18. Februar 1926

Das weibliche Proletariat.

Die meisten der statistischen Untersuchungen, die sich mit| der Verteilung der Bevölkerung auf die verschiedenen Zweige des Wirtschaftslebens beschäftigen, beschränken sich auf die Feststellung der arbeitenden und nichtarbeitenden Menschen in den einzelnen Erwerbszweigen. Aus diesen Statistiken ist der zahlenmäßige Anteil an den beiden Klassen, in die der moderne kapitalistische Staat zerfällt, nicht mit Sicherheit festzustellen. Wir hatten bisher wohl Angaben darüber, welchen Prozentsaz die Frauen im Verhältnis zu der ge­samten arbeitenden Bevölkerung ausmachen, aber es fehlte uns ein Ueberblick darüber, wie groß der Anteil der Frauen an dem Gesamtproletariat ist.

Diese Lücke füllt der zweite Band des Werkes von Wla fimir Woytinski Die Welt in Zahlen"*) aus, der soeben erschienen ist und ein bedeutendes und wichtiges Kapitel Frauen und Kinderarbeit" enthält. Es ist klar, daß wir heute nicht mehr, wie in den Anfängen des modernen Kapi­talismus, Proletariat mit Fabritarbeiterschaft identifizieren fönnen. Wir zählen zum Proletariat alle diejenigen, die von dem Verkauf ihrer Arbeitskraft an die Besizer der Pro­buftionsmittel leben. Es gehören also, entgegen der früheren Betrachtungsweise, die sich nur auf die Produktion be­schränkte, zu dem Proletariat alle Angehörigen der Haus industrie, des Handwerks, der Landwirtschaft, des Handels und Verkehrs, ferner auch des Staats- und Gemeinde­dienstes, die häuslichen Dienstboten und Angehörige der freien Berufe, soweit das oben angeführte Klassenmerkmal auf sie Anwendung findet. Von dieser weit gefaßten Grund­lage geht Wontinfti in seinen Untersuchungen über den An teil des weiblichen Geschlechts an dem Proletariat aus und liefert uns mit seiner Arbeit ein unentbehrliches Hilfsmittel in unserem Kampf um die Gewinnung der ungeheuren An­zahl von Proletarierinnen, die wohl nach ihrer Klaffenlage, aber noch nicht mit ihrem Bewußtsein und ihrem Willen zu uns gehören.

Die vergleichende internationale Uebersicht ergibt, daß burchschnittlich in allen Ländern 30 Proz. der erwerbstätigen Bevölkerung auf die Frauen entfallen. Hierbei zeigt sich fein Unterschied in bezug auf die Agrar- und Industriestaaten. In Deutschland find doppelt soviel Frauen in der Landwirt­schaft tätig wie in der Industrie; anders in England, wo 1911 der Landwirtschaft nur 0,9, der Industrie aber 2,5 Millionen Frauen angehörten.

Entscheidenden Aufschluß über die Klaffenzugehörigkeit biefer Frauen gibt eine Uebersicht über ihre Stellung inner­halb der Produktion. Nach einer Zählung 1921 waren in Deutschland von den rund 11,6 Millionen erwerbstätiger Frauen 7,7 Millionen Arbeiterinnen, 1,2 Millionen felb­ständig Arbeitende. Im Vergleich hierzu ist interessant das Beispiel des Rentnerstaates Frankreich , wo 2,7 Millionen felbständig Arbeitende und 2,5 Millionen Arbeiterinnen ge­zählt wurden. Sehr interessant sind auch die Ergebnisse der Berechnung, wieviel Frauen in den einzelnen Wirtschafts­zweigen dem Proletariat angehören. In Deutschland 3. B. machen die in der Landwirtschaft arbeitenden Frauen etwa 41 Proz. des Landproletariats aus, während etwa 45 Broz. ber gesamten in der Landwirtschaft beschäftigten Bevölkerung dem weiblichen Geschlecht angehören. Die in der Industrie beschäftigten Frauen machen etwa 16 Proz., im Handel 20 Broz, im öffentlichen Dienst und den freien Berufen *) Verlag Rudolf Mosse , Berlin 1926.

28 Broz., von den Dienstboten 90 Proz. des Proletariats aus. In der Gesamtheit ergibt sich, daß die Zahl der Pro­letarierinnen in Europa sich auf rund 30 Millionen beläuft. Davon entfallen auf die Industrie 8 bis 10 Millionen, auf Handel und Verkehr 2 bis 3 Millionen, auf die Dienstboten etwa 7 Millionen, auf die Landwirtschaft und die übrigen Berufsgruppen 10 bis 13 Millionen. Rechnet man zu diesen 3ahlen noch die Zahl der Frauen, die zwar selbst nicht er­werbstätig sind, aber als die Frauen von Proletariern von dem leben, was ihre Männer durch den Verkauf ihrer Ar beitskraft verdienen, so wäre diese Zahl noch um eine erheb liche Summe zu steigern. Auch die Zahl der erwerbs. mäßig tätigen Proletarierinnen ist ja, wie wir wissen, noch erheblich zu steigern. Ein Beispiel dafür bietet die Kriegszeit. Während in Deutschland zum Beispiel 1907 auf 100 Erwerbstätige in der Großindustrie 20,2 Frauen tamen, stieg diese Zahl während des Krieges auf 35,6, um nach dem Kriege( 1922) auf 21,4 zu sinken. All diese durch das eber­angebot an Arbeitskräften wieder aus dem Produktions prozeß herausgedrängten Frauen gehören ebenfalls dem Pro­letariat, sie gehören der industriellen Reservearmee an.

Angesichts dieser Zahlen muß es uns zu denken geben, wenn wir auf der anderen Seite lesen, daß die Zahl der dem Amsterdamer Gewerkschaftsbund angehörenden Frauen 1923 nur 2,2 Millionen betrug, gegenüber 14,6 Millionen männlichen Mitgliedern. Hieraus sehen wir nur zu deutlich, wieviel Kämpfe wir noch zu führen haben, bis die Millionen von Proletarierfrauen sich ihrer Klaffenzugehörigkeit bewußt werden. Arbeiten, wie die in dem vorliegenden Buche ge leistete, können dazu helfen, das Material und die tatsäch­lichen Grundlagen für unseren Kampf zu liefern.

a n.

Dora Fabian .

Kind und Politik.

Erst kürzlich hörte ich wieder: Ein Kind hat feinerlei politische Erkenntnis. Soziale Unterschiede sind ihm unbekannt, Es fennt nicht einmal Hunger, denn auch in der ärmften Familie wird es fatt gemacht. Alles, was das Kind an politischen Aeußerungen von fich gibt, ist von seiner Umgebung hineingetragen." Daraus wurde gefolgert, daß wir dem Kinde jede Politit fernhalten müßten. Ist das wirklich so?-

Zunächst: alles, was wir von uns geben an geistigen Aeuße rungen, ist von der Umwelt in uns hineingetragen. Teils als sinn­licher Eindrud, teils als fertige Anschauung anderer trat es an uns heran, wurde unserer individuellen Betrachtungsart gemäß ver arbeitet und wiedergegeben. Ebenso ist es natürlich beim Kind. Daß das Kind dabei häufig zu anderen Ergebnissen fommt wie wir, liegt baran, daß es oft noch nicht imftande ist, aus finnlichen Wahrnehmungen die richtigen Folgerungen abzuleiten und vorge tragene Meinungn kritisch zu prüfen. Aber eine primitive Art der Erkenntnis ist da.

Wie start die Kinder von der politischen Atmosphäre, in der sie heute aufwachsen, beeinflußt find, zeigt sich schon im Kindergarten, wo ein Dreijähriger beim Anblick einer Fahne im Bilderbuch Nieder, nieder!" zu brüllen beginnt, wo der Kindergärtnerin bie Frage vorgelegt wird: Tante, was find die Deutschnationalen: hoch oder nieder?", wo Fünfjährige fich darüber streiten, ob die Kommu Aeußerungen lachen und sie unbeachtet beiseite legen. Aber das niften Zigeuner sind oder nicht. Man kann natürlich über diese wäre nicht richtig, denn tatsächlich liegt hier eine primitive Form der Erkenntnis vor; Begriffe beginnen sich zu bilden, deren Richtig teit oder Unrichtigkeit uns nicht gleichgültig lassen darf. Das Kind, das Kommunisten als Zigeuner bezeichnet, will damit den Eindruck des Verabscheuungswürdigen wiedergeben: Räuber, Mörder, Z