Frauenstimme
Nr.19+ 43.Jahrgang
Beilage zum Vorwärts
16. September 1926
Die Frau in der Gewerkschaft.
In allen Ländern mit entwickelter Industrie zählt die Gewerkschaftsbewegung zu ihren Mitgliedern eine Anzahl Frauen, die der Bewegung angehören in der Ueberzeugung, gewerkschaftliche Organisation ist notwendig auch für die weiblichen Arbeitnehmer. Diese Ueberzeugung ist leider noch nicht bei allen gewerkschaftlich. organisierten Frauen vorhanden und sie fehlt ganz selbstverständlich all den im Erwerbsleben stehenden unverheirateten und verheirateten Frauen, die der Bewegung fernstehen. Das ist in jedem Lande eine recht erhebliche Zahl.
Rund 1 800 000 Frauen gehören heute der gewerkschaftlichen Internationale als Mitglieder an. Der Bufall will, daß nach 25 Jahren internationaler gewerkschaftlicher Verbindung, die jetzt im August abgelaufen waren, 25mal so viel weibliche Gewerkschaftsmitglieder in den angeschlossenen Organisationen vorhanden waren als im ersten Berichtsjahre.
Ueber diese Entwicklung werden sich alle diejenigen freuen, die da wissen, daß die Lebensbedingungen der zur Arbeiterschaft zählenden Menschen von dem Einfluß der Gewerkschaften auf die Arbeitsbedingungen abhängen und denen bekannt ist, welche Bedeutung nach Umfang und Art die Frauenarbeit im Erwerbsleben hat.
Die seit Bestehen der gewerkschaftlichen Internationale festzustellende erhebliche Zunahme des Anteils der Frauen an der Bewegung zeigt uns deutlich, daß auch die Frauen für die Gewerkschaftsbewegung zu gewinnen sind. Diese Feststellung wird den Erfolg der Werbetätigkeit fördern, die aus Anlaß des fünfundzwanzigjährigen Bestehens des Inter nationalen Gewerkschaftsbundes entfaltet wird, weil sie nicht nur das Vertrauen zur Gewerkschaftsbewegung bei den ihr noch fernstehenden Arbeiterinnen stärten, sondern auch denen Mut und neue Kraft geben wird, die sich zwar um die Organisierung der weiblichen Arbeitskräfte bemüht haben, durch viele Mißerfolge aber sich der Meinung zuneigen, daß die Mehrzahl der Arbeiterinnen eben nicht zu ge winnen ist.
Im Augenblick steht die Mehrzahl der weiblichen Arbeitnehmer tatsächlich der Gewerkschaftsbewegung noch fern. In Deutschland gehören rund 870 000 weibliche Arbeit nehmer aus Industrie, Handel und Landwirtschaft jetzt den freien Gewerkschaften an. Gemessen an der Gesamtzahl der Gewerkschaftsmitglieder machen die weiblichen Mitglieder nur 19 Proz. der Mitglieder aus. Stellt man nun die Zahl der weiblichen Gewerkschaftsmitglieder der Zahl der weiblichen Arbeitnehmer gegenüber, dann ergibt sich eine noch größere Differenz.
In Bezug auf die Zahl weiblicher Arbeitnehmer in Deutschland ist man noch immer auf Schätzungen angewiesen, da die Ergebnisse der amtlichen Berufszählung vom Juni 1925 noch nicht vorliegen. Die Annahme, daß allein in der Industrie und im Handel fünf bis sechs Millionen Frauen als Arbeitnehmer tätig sind, dürfte der Wirklichkeit nahe tommen. Dann sind aber noch nicht die Frauen mitgezählt, die in der Landwirtschaft arbeiten und auch nicht entfernt alle Heimarbeiterinnen. Gemessen an diesen Angaben sind erst sehr wenig arbeitende Frauen gewerkschaftlich organisiert. Diese sollen noch gewonnen werden für die Gewerkschaftsidee und sie müssen gewonnen werden, wenn die Gewerkschaftsbewegung nicht auf Erfolg verzichten will und wenn die Arbeiterschaft nicht verzichten will auf Berbesse
rung ihrer Lohn- und Arbeitsbedingungen und auf größeren Anteil an der Gestaltung des Wirtschaftslebens und des Staates im allgemeinen.
An die vielen unorganisierten weiblichen Arbeite nehmer denken nämlich und mit ihnen rechnen die Unternehmer, wenn fie Stellung nehmen zu den Forderungen der organisierten Arbeiterschaft auf größeren Anteil der Arbeitnehmer am Ertrage ihrer Arbeit, auf Verkürzung der Arbeitszeit und anderes, was der Arbeiterschaft das Leben erleichtern und ihr mehr Lebensgenuß und Lebensfreude geben kann. Die Unternehmer rechnen mit diesen Frauen auch, wenn sie den organisierten Arbeitern zumuten, zu niedrigeren Löhnen zu arbeiten und Verlängerung der Arbeitszeit und andere Verschlechterungen. hinzunehmen. Es ist bezeichnend, daß solche Anforderungen insbesondere dort gestellt worden sind, wo die Frauen die Mehrheit der Arbeitnehmer bilden. Das ist der Fall in den sogenannten typischen Frauenberufen, im Bekleidungs- und Reinigungsgewerbe und in der Textilindustrie.
Diese Tatsachen dürften allein schon genügen, um zu beweisen, wie notwendig es ist, auch die der Gewerkschafts bewegung noch fernstehenden weiblichen Arbeitnehmer für diese Bewegung zu gewinnen. Die Gewerkschaften tönnen nachweisen, daß jede Verbesserung der Arbeitsbedingungen der gewerkschaftlichen Organisation zu verdanken ist. Die Mehrzahl der weiblichen Angehörigen der besiglosen Bevölkerung ist gezwungen, ihren Lebensunterhalt ganz oder teilweise durch Arbeit zu erwerben. Mit verhältnismäßig wenig Ausnahmen bleibt dieser Zustand 3wang für sie für die Dauer ihres Lebens. Die Ehe bietet heute den Frauen nicht mehr in dem Maße Versorgung fürs Leben, wie es früher der Fall war. Außerdem kommt heute und in absehbarer Zukunft ein erheblicher Teil der Frauen nicht mehr zur Ehe und muß allein schon aus diesem Grunde für den Lebensunterhalt arbeiten.
Es bleiben also in der auf Erwerbsarbeit angewiesenen Bevölkerungsschicht nur verhältnismäßig wenig Frauen übrig, die von Erfolgen oder Niederlagen gewerkschaftlicher Arbeit nicht unmittelbar berührt werden. Berührt werden aber alle Frauen davon, soweit sie zur Arbeiterschaft gehören, auch die nicht Erwerbsarbeit verrichtende Hausfrau und Mutter. Deshalb aber müßten auch alle weiblichen Angehörigen der besiglofen Bevölkerung interessiert sein an den Erfolgen gewerkschaftlicher Werbearbeit und sie sollten, wo sie nur fönnen, diese Werbearbeit unterstützen.
Auch die weiblichen Arbeitskräfte sind für die Gewertschaftsbewegung zu gewinnen. Das beweist die Entwicklung der Gewerkschaftsbewegung in den Reihen der Arbeiterinnen in allen Ländern. Zwar ist die Arbeit nicht leicht. Alte Gewohnheiten aus Beitepochen mit gänzlich anders gelagerten Lebensmöglichkeiten haben bisher größere Erfolge verhindert. Nicht immer haben die Gewerkschaften und noch viel weniger hat die Familie das zur Aufklärung der weiblichen Arbeitnehmer getan, was zu tun möglich war. An diesen Unterlassungsfünden krankt die Gewerkschaftsbewegung und kranken die Arbeitsbedingungen insbesondere der auf Arbeit und Berdienst angewiesenen Frauen.
Wenn Gewerkschaften und Familie sich in Zukunft mehe als bisher dieser Aufklärungs- und Erziehungsarbeit widmen, wird der Erfolg nicht ausbleiben. Gertrud Hanna .