Für unsere Kinder Nr. 19 o o o o o o o Beilage zur Gleichheit o c> o o o o o 1910 Inhaltsverzeichnis: Mut zur Wahrheit. Bon K. Gutzkow.(Gedicht.)— Die Geschichte von dem großen Philosophen. Von Rumpelstilzchen. — Von einem schwarzen Mann.— Der Zauber leuchtturm. Von Eduard Mörike. (Gedicht.)— Das reiche und das arme Kind. Von Franz Henschel.— In Großvaters Auftrag. Bon HanS Aanrud.— Arno. Von E. Seton Thompson. (Schluß.)— Der Kleinste. Von Emam Döltz. (Gedicht.) Mut?ur Wahrheit. Wer Wahrheit will bekennen, Darf ihr die höchste Glorie nicht entziehen, Den Ruhm des ZNutes, den dieWahrheit gibt. o o O li. ouvdow. Die Geschichte von dem großen Philosophen. Von Rumpelstilzchen. ES war einmal ein Philosoph, der zeit seines Lebens in Büchern studierte. Er trug eine graue Brille aus Stahl, und das ist immer ein Zeichen von großer Gelehrsamkeit. AlleDingeerschienen ihm grau, als ob sie sämtlich aus einem trüben und dunstigen Nebel hergestellt wären; und gerade das hielt er für das Richtige.„Es ist alles zum Verwechseln ähnlich/ sagte er sich, wenn er zufällig einmal wieder einen Blick in die Welt warf. Das tat er nämlich nur sehr selten, weil er es eigentlich nicht der Mühe wert hielt. Nur mit den Büchern war es anders. Wie viele er davon durchgelesen hatte, kann ich euch nicht einmal sagen; denn ich weiß es selber nicht, aber es waren ungeheuer viele. Jede Woche ging der Philosoph zum Buchhändler und kaufte sich ein neues. Und wiewohl der Weg dahin nur durch ein paar kurze und stille Straßen führte, so war ihm doch jedesmal dabei zu. mute, als ob er auf einer wichtigen und mühe vollen Reise begriffen sei, ja, als ob der König selber ihn zu sich gerufen hätte, um sich etwas von ihm erklären zu lassen. Auf dem Rück weg aber hielt der Philosoph das neue Buch behutsam wie ein kostbares Geschenk in seiner Hand und betrachtete eS mit liebevollen und lächelnden Blicken, als hätte er es selber nicht nur ausgedacht, sondern auch gedruckt und ihm zuletzt den schmucken und haltbaren Rock an gezogen. Die Leute, die ihm auf der Straß« begegneten, schüttelten verwundert die Köpfe und lächelten, aber er merkte eS nicht. Besonders auf die Nase des großen Philo sophen hatte das viele Studieren den aller- tiefsten Einfluß. Sie sah so ernsthaft und nachdenklich aus, ganz wie es sich für die Nase eines Philosophen geziemt. Jawohl, sie hielt etwas auf sich, denn sie war gebildet. Und man kann sich kaum vorstellen, mit welcher Würde sie die graue Stahlbrille zu tragen wußte. Wenn man den großen Gelehrten an seinem Schreibtisch über die Bücher gebückt sitzen sah, so konnte man wirklich meinen, daß er nicht mit den Augen, sondern eigentlich mit seiner Nase läse,— so ernst und eifrig senkte sie sich auf die vielen Buchstaben herab. Da von war sie zuletzt ganz lang und spitz ge worden. Sie pickte ordentlich nach den schönen, goldenen Körnern der Weisheit, die in die Seiten der Bücher eingestreut waren. Und ein kleiner frecher Spatz, der sich täglich zur Mittags zeit auf dem Wipfel einer hohen Tanne vor dem Fenster des Philosophen sonnte, hielt an fangs den über das Buch gebeugten Kopf für eine richtige Henne, und die kluge Nase für ihren Schnabel. Da der Spatz sehr geschwätzig war, und nichts lieber hatte als ein gemütliches Plauderstünd chen in der warmen Mittagssonne, so rief er eines schönen Tages dem sinnendenPhilosophen ein heiteres„Piep!" zu. Mit höflichen und flinken Worten stellte er sich als Nachbar vor: er wohne seit kurzer Zeil nur wenige Schritte entfernt in einer Mansarde unter dem Dach balken,— und dabei redete er in einem fort die vermeintliche Henne mit einem vertrau lichen Du an— wie es unter Vögeln eben Sitte ist. Der Philosoph verstand natürlich kein Wort von alledem. Da ihn das laute Gezwitscher im Nachdenken störte, stand er auf und schloß das Fenster. Der Spatz aber erkannte im Davonfliegen mit Angst und Schrecken, daß es ein Mensch war. Einstmals, da der große Philosoph schon alt und grau geworden, sagte er, indem er ein dickes Buch, das er soeben zu Ende ge lesen hatte, zuklappte, laut vor sich hin:„Jetzt habe ich alles gelesen; nun will ich selber ein
Ausgabe
6 (20.6.1910) 19
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