Für unsere Kinder

Nr. 14 o ooo ooo Beilage zur Gleichheit ooooooo 1912

Inhaltsverzeichnis: Eine Sage. Von R.E.Pruz. ( Gedicht.) Der Palmesel. Von Heinrich Wandt  . Geschichte des Javanen Saidjah. Von Multa­Wenn es Ostern wird. Von Vom Bauern und den Tauben. Von

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tuli.( Schluß.)

m. n.

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Friedrich Güll.  ( Gedicht.)

Eine Sage.

Don R. E. Prutz.

Da ließ ich mir ein märchen fagen, Ein feltfames aus alten Tagen, Daß, wo ein Dandrer mard   erfchlagen, Im düftern Dald, im öden Grund, Da foll aus des Erfchlagnen mund, mit warmem Blut, zu frifchem Leben, Ein weißer Dogel aufwärts Ichweben. Er schwebt empor, er schwebt hernieder, Er fträubt fein glänzendes Gefieder, Und mächtig fchmettern feine Lieder,

Wie Schlachtgefchrei, wie Hörnerklang! So fingt er laut die Delt entlang, Daß alle Täler ängstlich laufchen Und alle Bäume zitternd raufchen.

Er fingt, daß alle Felfen dröhnen, Er fingt, daß alle Cippen ſtöhnen Und alle Herzen widertönen,

Und lein Gefang ift mord! mord! mord! Don Cand zu Land, Don Ort zu Ort, Er fingt, daß felbft die Sterne hören, Und Erd' und Himmel fich empören.

Und ob auch unter feidner Decke, In feines Haufes ftillfter Ecke, Der Mörder zitternd fich verftecke,

Die weiße Taube fingt ihn mach! Die weiße Taube fliegt ihm nach, Und ob die Fellen ihn verfteckten, Und ob die Dogen ihn bedeckten!

Da wird kein netz, kein Garn gefunden, Rein Röder will dem Dogel munden, Rein Pfeil kann feine Bruft Dermunden, Er ist bald hier, bald ift er da Und immer fern und immer nah, Und alle nächte, alle Tage, Tõnt fchmetternd feine Totenklage! Bis daß fie den Erfchlagnen fanden, Bis daß ein Rächer aufgeftanden, Bis daß der Mörder liegt in Banden

Und bis fein Blut gen Himmel fprang! Da wird es ftill, da schweigt der Klang, Da linkt das leuchtende Gefieder Als Blütenfchnee zur Erde nieder.- O, alte märchen, alte Sagen, Die paßt ihr doch zu unfern Tagen! Die Freiheit ift's, die man erfchlagen, Die bleich und stumm im Sarge   liegt: Doch aus dem toten munde fliegt Die weiße Taube unfrer Lieder O Taube, mann, mann finkft du nieder?

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Der Palmesel.

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Wollte heutzutage einer es wagen, einen Esel in die Kirche zu treiben, so würde er schwer bestraft wegen Gotteslästerung. Im Mittelalter konnte die christliche Kirche mehr Spaß ertragen, da feierte man das festum asinorum, das heißt Eselsfest, als tirchliches Volksschauspiel, bei dem ein Esel in das Gotteshaus geführt wurde. In Spanien   und Frankreich   beging man dieses Eselsfest teils zur Erinnerung an Bileams redenden Esel, teils zur Verherrlichung an den Esel, der Maria und ihr Kind auf der Flucht nach Agypten   getragen haben sollte. Andernorts wieder, so in Deutschland  , wurde am Palm­sonntag ein Esel in die Kirche geritten, und dies sollte den Einzug Christi in Jerusalem  darstellen, von dem die Bibel mit den Worten berichtet: Siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer, arm, und reitet auf einem Esel und auf einem jungen Füllen der Eselin." Bei diesen Eselsfesten wurde viel Spaß getrieben, und Heiterkeit und Unfug machten auch an der Schwelle der Kirche nicht Halt.

Das wackere Langohr, das zum Palmesel auserwählt war, wurde in der Frühe des Palmsonntags   festlich herausgeputzt und dann unter dem Jubel des Volkes zum Vormittags­gottesdienst in die Kirche geritten. Auf seinem Rücken saß irgend ein Klosterbruder, der den Heiland darstellte. Alles, was Beine hatte, gab dem Palmesel das Geleite, und als die Ersten hinter dem Tiere schritten meist der Bürgermeister und die Ratsherren des Ortes in feierlicher Amtskleidung einher. Der Um­