Für unsere Kinder
Nr. 15 ooooooo Beilage zur Gleichheit ooooooo 1912
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Inhaltsverzeichnis: Adler und Lerche. Von K. E. v. Ebert.( Gedicht.) Frühling. Von Jürgen Brand. Wilde Tiere Südafrikas und ihr Schicksal. Von James Bryce . Sepp der Jrokese. Bon Robert Grötzsch . Frühlingsglocken. Von Robert Reinick .( Gedicht.)
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Adler und Lerche.
Don K. E. v. Ebert.
Adler, ich seh' von der Erde dich fliehn, Adler, Adler, wo steigst du hin?
„ Ich steige zur Sonne mit keckem mut, Und sauge voll Wonne Die himmlische Glut, Und wiege mich droben Jm goldenen Schein, Es winken nach oben Die Flächen so klein. Da schau' ich hernieder 3um Erdenschoß, Und schaue wieder, Und fühle mich groß.
Als währte doch immer
Das stolze Glück,
Als müßt' ich dort nimmer 3ur Erde zurück!"
Lerche, ich seh' von der Erde dich fliehn, Lerche, Lerche, wo steigst du hin?
„ Ich steig' in die Lüfte,
Don Luft durchglüht,
Und atme die Düfte,
Und singe mein Lied. Ich schaue die Felder Tief unter mir, Dort schattige Wälder Und Wiesen hier, Und Flüsse, glühend 3m Morgenglanz,
So schön und so blühend Die Erde ganz!
Da zieht es mich nieder Dom Himmelszelt, Da berg' ich mich wieder Jm Saatenfeld."
Frühling.
Als ich gestern durch den Garten ging und unter Gebüsch versteckt das erste Veilchen fand, da durchströmte mich das alte wonnige Gefühl: Er ist auf dem Wege! Er kommt, der Frühling! Mit Dankbarkeit betrachtete ich das bescheidene Blümchen. Und doch weckt gerade das Veilchen in meinem Herzen zugleich eine wehmütige Erinnerung aus meiner Kindheit.
Die Gedanken schweifen weit zurück. Ich war noch ein kleiner Bube und sollte demnächst in die Schule kommen. Noch schien der Himmel in ungetrübter Heiterkeit, und meine Tage vergingen mit fröhlichem Spiel. In jener Zeit war ein kleines Mädchen meine einzige Spielgefährtin; sie war, wenn meine Erinne rung mich nicht täuscht, etwa ein Jahr jünger als ich und hieß Nanni. Ich erinnere mich ihrer als eines wunderschönen Kindes: In ihrem pausbäckigen Engelsgesichtchen leuchteten zwei tiefblaue Augen, und um die Stirne ringelten sich kraus und widerspenstig dichte helle Locken, die wie der feinste Flachs glänzten. Wenn gelegentlich Besuch fam, dann wurde Nanni von allen geliebkost und verhätschelt. Aber ich bin nie neidisch auf meine kleine Freundin gewesen, und als mir eines Tags meine gute Tante versicherte, ich hätte von allen die schönste Gespielin, da fand ich das ganz in der Ordnung. Weil die Gärten unserer Eltern aneinander grenzten, so waren Nanni und ich den ganzen Tag über beisammen. In einer Ecke des Gartens lag für uns ein großer Sandhaufen, an dem wir stundenlang unsere Kuchen und Torten backten und„ Vater und Mutter" spielten. Nannis Puppe war unser Kind, und wir haben sie, obschon sie nur einen Arm hatte, mit großer Zärtlichkeit gepflegt. Die Puppe war unsere ständige Begleiterin und wurde, wenn wir umhertollten, erbarmungslos an ihrem einen Arme mitgeschleift. In allen Dingen waren wir ein Herz und eine Seele; was wir taten, das taten wir gemeinsam. So kam es denn, daß wir uns auch bei den Mahlzeiten nicht trennen konnten: heute war ich bei Nanni zu Gaste und morgen sie bei mir; damit hatte man sich hüben wie drüben abgefunden. Bei solcher Gelegenheit sah ich zum erstenmal Nannis Mutter. Sie