194 Für unsere Kinder sie gesorgt und gewacht hat so manche stille Nacht, warum muß sie ihn fortgeben, daß er erschossen wird? Gar oft haben sie beide ge darbt um ihres Sohnes willen; sie haben ge hofft. er werde einst, wenn er erwachsen, für sie, die dann alt und schwach sind, sorgen und ihnen«ine Stütze sein. Was soll nun werden, wenn er in der Schlacht fällt? Und sie sieht ihn jetzt schon auf dem Schlachtfeld im Blute liegen, die Kugel im Herzen, und seine lieben Augen schauen starr und schrecklich in die Ferne.... Träne auf Träne rinnt aus ihren Augen. Am nächsten Morgen schreien es die Kinder auf der Gasse: Krieg! Krieg! Von den Mauer wänden leuchten rote Anschläge. Die Menschen drängen sich herum und lesen, was drin steht: Der Krieg ist erklärt! Die Mobilmachung be ginnt! Manche freuen sich. Aber die meisten sind beklommen. Was wird der Krieg bringen? Wird er lange dauern? Er kann nur Not und Sorge über viele Menschen bringen. Gar manche Frau wird ihres Mannes, unzählige Kinder werden des Vaters beraubt werden. Die Ge schäfte werden stocken. Wer wird die Ernte in die Scheune bringen? Fabriken werden ge schlossen werden müssen. Ist denn wirklich der Krieg nicht abzuwenden gewesen, der so viel Unglück bringen wird? Ob die Menschen in Frankreich   nicht das Gleiche dachten wie sie? Ja, wer wollte eigentlich den Krieg? Kurz vor Mittag kommt Karl nach Hause. Wie alle hat auch er die Mobilmachungsordre gelesen. Heute Nachmittag muß er sich mit seinem Militärpaß auf dem Kasernenhof ein finden, und morgen, in der Frühe schon, wird die Bahn ihn und seine Kameraden an die Grenze führen. Die letzte Nacht in der Heimat wird er in der Kaserne zubringen. Die Mutler hängt an seinem Halse. Sie will ihn nicht lassen.Karl, mein Einziger!" Er tröstet sie mit sanften Worten und lächelt. Aber auch ihm ist gar nicht so fröhlich zumute. Stumm packt er leine Sachen zusammen, die er nötig hat, und dann heißt's Abschied nehmen. Er küßt die Mutter. Aber die klammert sich mit zitternden Händen an ihn. Nur mit Mühe kann er ihre Finger von seiner Schulter lösen. Tann drückt er dem Vater die Hand. Ach, ihm ist sein Herz so schwer. Wer weiß, ob er seine Eltern je wiedersieht? Wie mag es ihnen er gehe», wenn er umkommt? Noch einmal um fängt er die Mutter; leise schließt er dann die Tür hinter sich. Er sieht nicht mehr, wie die Mutter vor Qual zusammensinkt. Am folgenden Morgen herrscht auf dem Bahnhof ein reges Leben. In dem Eisenbahn zug. dem man noch einige Wagen angehängt hat, sitzen die Soldaten. Auf dem Bahnsteig stehen dichtgedrängt die Verwandten und Freunde. Hier Vater und Mutter, dort die Frau mit ihren Kindern, das jüngste auf dem Arme. Alle sind ernst und bedrückt; viele schluchzen. Nur bei den Soldaten ist's laut und lustig. Sie schreien und lachen. Aber mit ihrem Lärmen suchen sie nur ihre eigene Weh mut, ihren Abschiedsschmerz zu betäuben. Ein Pfiff, und der Zug setzt sich in Bewegung. Für einen Augenblick herrscht tiefe Stille. Dann setzt das Weinen und Lärmen wieder ein. An den Fenstern drängen sich die Gesichter der Soldaten» Jünglinge mit hellen Augen und ernste Männer. Mancher hat eine Träne im Auge, die meisten sind blaß. Noch einmal schauen sie zu ihren Lieben zurück, ein letzter Gruß flattert hinüber; dann ist nichts mehr von ihnen zu sehen. Eintönig rollen die Räder über die Schienen.... Langsam schleicht ein Tag nach dem anderen dahin. Schweigend gehen der alte Marlins und seine Frau in ihrer Wohnung umher. Still verrichten sie ihre Arbeit, kein lautes Wort fällt. Alle ihre Gedanken sind bei ihrem Sohne, der weit fort ist. Ob er noch lebt? Des Nachts weint die Mutter in die Kissen. Ihr Mann tröstet sie; aber seine Worte ver fangen nichts. Die Zeitungen melden von den ersten Kämpfen.200 Tote, 1000 Verwundete," steht großgedruckl auf der ersten Seite; Blut, Blut in jeder Zeile, Nachrichten von erbitter ten Kämpfen um Bauerngehöfte, um Wein berge, um jeden Fußbreit Landes. Da kommt ein Brie; von ihrem Karl. Er lebt! Die beiden Menschen atmen auf. Hastig öffnen sie, und dann schauen zwei Augenpaare verlangend hinein. Zeile um Zeile lesen sie, was Karl schreibt. Er erzählt von der Reise durch Deutsch   land. Überall stehe das Korn in goldener Pracht und harre der Schnitter, und die Dörfer und Städte lägen so ruhig, als wäre nichts geschehen. Stach endloser Fahrt seien sie an die Grenze ge kommen; der Ort, wo er diesen Brief schreibe, sei schon französischer Boden. Noch habe er keine Schlacht mitgemacht. Alle Augenblicke führen Wagen mit Verwundeten vorbei, denen ein Arm oder ein Bein abgerissen sei, die laut stöhnten und ächzten. Und Pulverdampf läge in der Luft. Bald müßte auch sein Regiment mit dran. Morgen vielleicht schon.Aber fürchtet nichts, liebe Eltern, ich komme schon