Vortrag Bebel's über die soziale Stellung der Frau in der Gegenwart,

gehalten am 15. Dezbr. 1891 in einer öffentlichen Versammlung zu Berlin . Vor zwanzig Jahren war eine Versammlung wie die heutige ein Ding der Unmöglichkeit; es würden sich wohl Männer, schwerlich aber Frauen eingefunden haben. Bezüglich der Berechtigung und Bedeutung der Frauenfrage hat sich ein großer Umschwung vollzogen, und die Anschauungen hierüber werden sich in Zukunft unter dem Druck der Verhältnisse und Thatsachen noch mehr ändern. Trotzdem sind gegenwärtig die Mehrzahl der Männer und Frauen noch der Ansicht, daß die Frauen keinen Grund haben, sich für allgemeine und öffentliche Angelegenheiten zu interessiren, daß ihr eigentliches Gebiet die Häuslichkeit ist, daß die Ehe ihnen ein für allemal ihre Stellung anweist, kurz, daß Verhältnisse, die von jeher so gewesen, wie sie sind, nicht geändert werden können. Die letztere Anschauung ist jedoch grundfalsch: Nichts ist von jeher so gewesen, wie es heute ist, Alles, mithin auch das Verhältniß der Geschlechter zu einander, ist beständiger Veränderung unterworfen. Die Beziehungen der Ge­schlechter zu einander, die Eheverhältnisse haben sich im Laufe der Kulturentwicklung der Menschheit ebenso gut wie und zusammen mit den Produktions- und Eigenthumsverhältnissen verändert. Die Ver­treter der heutigen Staats- und Gesellschaftsordnung haben allerdings alle Ursache, die Dinge so darzustellen, als seien Eigenthums, Produktions, Ehe- und Familienverhältnisse ewig so gewesen, wie sie heute sind; denn geben sie zu, daß sich im Laufe der Menschheits­entwicklung dies Alles von Grund aus und in wechselnden Formen anders gestaltet hat, dann müssen sie auch zugeben, daß künftig weitere Veränderungen möglich sind, und damit verlieren sie den Boden, auf dem sie stehen. Aus der Bibel, zumal aus Kapiteln des alten Testaments, erfahre man z. B., daß bei den alten Israeliten in Bezug auf den Verkehr der Geschlechter Anschauungen herrschten, die sehr wesentlich von dem abweichen, was in unserer Zeit als Sitte und sittlich angesehen wird. Wenn nach dem alten Testament z. B. zwei so gottgefällige Männer wie die Könige David und Salomo hunderte von Frauen besitzen konnten, ohne bei Gott Anstoß zu erregen, so zeigt diese eine Thatsache schon den grundverschiedenen Charakter der Zeit in Bezug auf das, was wir sittlich nennen. Nun ist aber alles das sittlich, was in einem gegebenen Zeitalter die Menschen als Sitte an­erkennen. Die Sitte selbst wurzelt aber wieder in den sozialen Be­dürfnissen einer bestimmten Epoche und bei einem bestimmten Volk. Und die sozialen Bedürfnisse können wieder nur durch die vorhandene Produktionsweise und die bestehenden Eigenthumsformen befriedigt werden. So ist also die Produktionsweise die eigentliche Grundlage für die geistigen, sozialen und politischen Anforderungen einer Ge­sellschaft. Mit der Entwicklung der Produktions- und Eigenthums­verhältnisse haben sich die Beziehungen der Geschlechter zu einander verändert, ist die Stellung der Frau in der Gegenwart eine total andere geworden, haben sich Verhältnisse herausgebildet, welche endlich auch in den Frauenkreisen das Bedürfniß nach Verbesserung ihrer Stellung als Geschlechtswesen und als Glieder von Staat und Gesell­schaft hervorriefen. Immer stärker arbeiten die Verhältnisse darauf hin, der Frau die Ausübung ihres sogenannten Naturberufs als Hausfrau, Gattin und Mutter unmöglich zu machen, sie vielmehr zur Berufsthätigkeit auf dem Gebiete von Gewerbe, Handel und Industrie zu drängen. Die Verweisung der Frau auf ihren Naturberuf als Ehefrau und Mutter ist in keinem Zeitalter übler angebracht, als in dem gegenwärtigen, was sich einestheils an der stets wachsenden Zahl der Frauen gegenüber jener der Männer, anderntheils an der relativ abnehmenden Zahl der Eheschließungen schlagend beweisen läßt. In allen modernen Kulturstaaten sind die Eheschließungen in verhältniß­mäßiger steter Abnahme begriffen, das zeigt am besten Frankreich , das beweist aber auch Deutschland . Obgleich Deutschland seit 1872 um mehr als 9 Millionen Menschen zugenommen hat, steht die Zahl der Eheschließungen noch heute erheblich hinter jener der Jahre 1872 und 1873 zurück. In Preußen kamen in den Jahren 1830 bis 1835 auf je 100 000 Personen jährlich 1849 Eheschließungen, in den Jahren 1881 bis 1885 nur noch 1592 und sie weichen beständig zurück. Zahl reiche Ursachen sozialer und ökonomischer Natur haben die Vermin­derung der Eheschließungen im Gefolge. Es ist eine große Täuschung, wenn man annimmt, daß eine scheinbar so rein persönliche Sache wie die Heirath unabhängig von den allgemeinen sozialen Zuständen sei. Die letzteren sind allein entscheidend und ihre Wirkung kommt deut­lich in den vorgetragenen Zahlen zum Ausdruck. Jedes Jahr un­gewöhnlicher Theuerung vermindert die Zahl der Eheschließungen und die Zahl der Geburten sehr erheblich und so müssen dauernd un­günstig wirkende soziale Ursachen die gleichen Wirkungen haben. Mit der steigenden Ungunst der sozialen Verhältnisse und dem Wachsen

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der Ansprüche an das Leben stehen in engster Beziehung die Geld­und Standesheirathen, die immer mehr in Aufnahme kommen und auch wieder zeigen, wie rein materielle Ursachen der Eheschließung zu Grunde liegen. Die christliche Darstellung der Ehe steht im schroffsten Widerspruch mit den Thatsachen. Der materielle Charakter der Ehe erzeugt aber auch wieder die Ehezerwürfnisse und die große Zahl der unglücklichen Ehen. Männer und Frauen suchen immer mehr außerhalb der Ehe, was sie in der Ehe nicht finden, nur ist dabei wieder die Frau am ungünstigsten gestellt. Der Mann nimmt sich die größten Freiheiten und betrachtet sie als selbstverständlich, einen Theil dieser Freiheiten von den Frauen ausgeübt, sieht die Männer­welt als Verbrechen an. Die soziale Unterdrückung der Frau zeigt sich auf allen Gebieten als Thatsache. Die geschilderten Ehezustände und die große Zahl der Hindernisse, die sich einer frühzeitigen Ehe­schließung oder der Eheschließung überhaupt in den Weg stellen, er­zeugen die Prostitution und machen sie zur Nothwendigkeit. Die Zunahme der Prostitution ist unter solchen Verhältnissen ganz natur­gemäß, und diejenigen, die da glauben, durch künstliche Maßregeln, wie Kasernirung derselben u. s. w., die Prostitution unterdrücken oder beschränken zu können, beweisen nur, daß sie von der Natur der Uebel feine Kenntniß besitzen.

Die außerordentlich traurigen Erwerbsverhältnisse eines großen Theils des weiblichen Geschlechts üben einen verhängnißvollen Ein­fluß auf das Anwachsen der Prostitution aus. Gewisse Unternehmer zwingen durch schamlos niedrige Löhne und Gehälter ihre Arbeiterinnen, Verkäuferinnen 2c. geradezu, ihren Körper feilzubieten, sich gewerbs­mäßig zu verkaufen. Die Entwicklung, welche die Frauenarbeit unter der kapitalistischen Gesellschaftsordnung genommen, trägt einerseits zum Anwachsen der Prostitution bei, andererseits hat sie Zerrüttung des Familienlebens, körperliches Verkommen der Rasse im Gefolge. Dem bürgerlichen Recht, den staatlichen Rechten gegenüber ist die Frau die Benachtheiligte, die Entmündigte, die Rechtlose. Des­halb muß der Ruf erhoben werden nach vollständiger Gleichberech tigung beider Geschlechter, nach Herstellung eines sozialen Zustandes, der die Gleichheit, die Freiheit und die Gerechtigkeit für Alle ermög­licht, der keine Unterdrückten und Ausgebeuteten mehr kennt. Die Frauen müssen so gut wie die Männer sich organisiren, sei es in ihren Vereinen, sei es in Gewerkschaften in Vereinigung mit den Männern, oder in Frauengewerkschaften; sie müssen ihre Presse und die bezügliche für ihre Befreiung kämpfende Literatur unterstützen und soweit sie durch unsere öffentlichen Einrichtungen von der Ein­wirkung auf dieselben ausgeschlossen sind, die Männer zur Bethätigung anspornen. Die Männer ihrerseits müssen begreifen, welch ungeheurer Machtfaktor in der Unterstüßung ihrer Bestrebungen durch die Frauen vorhanden ist. Dies letztere hat Niemand besser begriffen, als die katholische Kirche , die allezeit ihren Haupteinfluß durch die Frauen zu gewinnen versucht hat. Die Bewegung, auf deren Seite die Frauen stehen, wird in Zukunft die siegende sein.

Madame Legros.

Gleichsam an der Schwelle der großen französischen Revo­lution, in welcher die Frauen eine so hervorragende Rolle spielten, in der Frauen die Lorbeeren des höchsten Heldenthums, der größten Opferfreudigkeit errangen, steht die einfache und schlichte Gestalt einer Frau, die aus tiefstem, reinstem Mitleid mit einem unglück­lichen Mitmenschen zur Heldin ward.

Madame Legros gehört nicht zu den wenigen Auserwählten ihrer Zeitgenossinnen, welche tapfer in den Schlachten des Gedankens vor und während der Revolution mitſtritten; sie zählt auch nicht zu Denen von ihnen, welche thätigen Antheil an dem Leben der politischen Parteien nahmen und ihre Mitarbeiterschaft an dem Werke ihrer Tage vielfach mit dem Tode bezahlten; wir begegnen ihr ebensowenig in den Reihen der kühnen Frauen, die beim Bastillen­sturm und anderen großen Tagen jener großen Zeit Schulter an Schulter mit den Männern kämpften und fielen. Und dennoch verdient sie eine Heldin genannt zu werden, eine Heldin an Mit­leid und selbstloser Aufopferung, eine Heldin an Unerschrockenheit, willensstarker Thatkraft und zäher Ausdauer, und ihr Werk, so unscheinbar es Dem oder Jenem vorkommen mag, hat ein Pläschen in der Geschichte der großen Revolution gefunden, denn es ist seiner Bedeutung nach der erste Hieb, der aus der Mitte des Volkes zur Schleifung der Bastille geführt ward. Madame Legros bewirkte durch ihre aufopfernden Bemühungen, daß Latude, ein Gefangener, der seit langen Jahren unschuldig in der Bastille und anderen Ge­