Nr. 11.
Die Gleichheit
2. Jahrgang.
Beitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen.
Die„ Gleichheit" erscheint alle 14 Tage einmal. Preis der Nummer 10 Pfennig, durch die Post( eingetragen unter Nr 2564 a) vierteljährlich ohne Bestellgeld 55 Pf.; unter Kreuzband 85 Pf. Inseratenpreis die zweigespaltene Petitzeile 20 Pf.
Mittwoch, den 1. Juni 1892.
Nachdruck ganzer Artikel nur mit Quellenangabe gestattet.
Schwindelhaber.
Seitdem die Proletarier angefangen haben, sich als Klasse zu fühlen und als solche sich gegen den Druck ihrer Klassenlage auf zubäumen, seitdem ihr Streben nach Befreiung in der sozialistischen Arbeiterbewegung eine feste, bewußte, zielflare Gestalt gewonnen, da hat auch die Bourgeoisie ihr Herz für Arbeiter und Arbeiterinnen entdeckt. Wahrhaftig, sie hat lange genug gebraucht, ehe sie es bis zu dieser ihrer Entdeckung gebracht! Jahrzehnt auf Jahrzehnt schien es, als ob die Unternehmersippe an Stelle des Herzens nur einen riesigen Geldsack mit sich herumtrüge, als ob ihr jedes Mitgefühl für das Leiden und Elend ihrer Lohnsklaven und Lohnsklavinnen fremd sei, als ob sie nur ein Empfinden kenne: das fieberhafte Interesse für die Erzeugung von Mehrwerth, für das Steigen der Profite. Kühl und in verdauungsseliger Stimmung vor sich hinlächelnd sah sie mit an, wie nach den Männern die Frauen, nach den Frauen die Kinder des Proletariats dem Moloch Kapitalismus in die glühenden Arme gelegt wurden. Generation um Generation von Arbeitern, die werkthätige Bevölkerung ganzer Induſtriedistrikte ward dem körperlichen, geistigen, sittlichen Vertommen überantwortet. Das durchschnittliche Lebensalter der Proletarier sant, die Sterblichkeitsziffer ihrer Kinder stieg, der Alkoholismus richtete unter der Masse grauenhafte Verwüstungen an, die proletarische Jugend wuchs unter schwerster Vernachlässigung auf. Durch Nichts, absolut Nichts verrieth sich angesichts dieser schrecklichen Thatsachen das gute Herz der Bourgeoisie. Und wenn aus der Hölle von Qual und Elend allzuvernehmlich Wimmern und Stöhnen an ihr Ohr schlug, wenn wohlmeinende Leute im Namen der Menschlichkeit sie anflehten, ein Wenig, nur ein ganz Klein Wenig ihrer Profite fahren zu lassen, damit sich die auch im Arbeiter, der Arbeiterin steckende menschliche Streatur etwas erheben fönne aus dem Staub, in welchen sie die Plusmacherei getreten, da versicherte sie mit sehr überlegener Miene:" Die Menschlichkeit ist zwar eine sehr schöne Sache, aber Menschlichkeit hin, Menschlichkeit her. Die gedeihliche Entwicklung der Industrie, d. H. unserer Profite ist eine andere schöne Sache, und mit Rücksicht auf diese kann die Lage der Arbeiter auch nicht um das Tüpfelchen auf dem i verbessert werden."
Aber siehe, durch die Leiden ihrer Klassenlage zum Bewußt sein wachgerüttelt, entdeckten die Arbeiter ihr gutes Recht auf eine Verbesserung derselben in der Gegenwart, auf ihre völlige Befreiung in der Zukunft; sie entdeckten ihre Macht, durch ge= eintes und zielflares Vorgehen das Eine und das Andere zu erringen. Und nachdem die Bourgeoisie vergeblich versucht hatte, dieses Recht zu leugnen, diese noch junge Macht zu Boden zu schmettern, da entdeckte sie plößlich ihr Herz, das gar so warm, gar so gefühlvoll für die Proletarier und Proletarierinnen schlug. Ueber Nacht war ihr die Erkenntniß gekommen, daß die Millionen von Händen," die ihr bisher nur als billiger und profitlicher Theil des großen wirthschaftlichen Mechanismus erschienen, daß diese Hände" doch sozusagen auch Menschen seien, mit menschlichen Bedürfnissen und Ansprüchen, denen etwas Rechnung getragen werden müsse. Nach und neben der Peitsche der Gewalt
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Zuschriften an die Redaktion der„ Gleichheit" sind zu richten an Fr. Klara Bettin( Eißner), Stuttgart , NothebühlStraße 147, IV. Die Expedition befindet sich in Stuttgart , Furthbach- Straße 12.
maßregeln da sollte das Zuckerbrot der Arbeiterfreundlichkeit das Proletariat in alter Botmäßigkeit erhalten. Auf jeden Vorstoß der Arbeiterbewegung, auf jede kräftige, Klassenbewußtsein verrathende Lebensäußerung des Proletariats ward je nach der Situation und den Leuten, welche das Heft in Händen hielten, entweder mit der Peitsche gedroht oder mit dem Zuckerbrote gelockt. Je mehr das Proletariat erstarkte, je mehr es in selbständig freier Bethätigung als Klasse nach besseren wirthschaftlichen Verhältnissen, nach Bildung, Erkenntniß, gesellschaftlicher Gleichberechtigung strebte, desto zahlreicher und üppiger schossen auf Seiten des Unternehmerthums und seiner Zuhälter die Johannistriebe der Arbeiterfreundlichkeit empor. Das katholische und evangelische Pfaffenthum suchte einander im Punkte der Arbeiterfreundlichkeit den Nang abzulaufen, liberale und konservative Politiker, Geheimräthe, Kommerzienräthe und Solche, die das Eine oder Andere werden wollten, machten in lieblichem Wetteifer in ,, Arbeiterwohlfahrtseinrichtungen." Es wurden Kongresse einberufen, in deren Titel nie das Wort„ sozial" und auf deren Tagesordnung nie das Kapitel„ Arbeiterfürsorge, Arbeiterwohl 2c." fehlte. Es wurden Vereine gegründet für das Wohl der arbeitenden Klasse, es entstanden billige Arbeiterwohnungen, Konsumvereine, Volksküchen, Kinderbewahranstalten, Belehrungs- und Unterhaltungsabende 2c. 2c.
Die klassenbewußten Arbeiter haben sich dieser Arbeiterfreundlichkeit gegenüber mit Recht sehr mißtrauisch verhalten, sie haben sie streng auf die ihr zu Grunde liegende Absicht geprüft, um dann zu entscheiden, ob sie in den einzelnen Fällen Stellung nehmen müssen zu einer Aeußerung wirklichen Wohlwollens für das Proletariat oder zu einem Kniff plumper Bauernfängerei.
Gewiß, es soll zugegeben werden, daß in dem und jenem Falle Wohlfahrtseinrichtungen von Unternehmern lediglich zu dem Zwecke ins Leben gerufen wurden, das wirthschaftliche, körperliche, geistige Wohl der Arbeiter und Arbeiterinnen zu heben. Und es liegt kein Grund vor, weshalb sich diese gegenüber derartigen wirklich gut gemeinten, feine Nebenabsichten rücksichtlich der kapitalistischen Interessen verfolgende Unternehmen schlankweg ablehnend verhalten sollten. Prinzipiell haben sie sich indessen ganz entschieden dagegen zu verwahren, daß die Bedeutung derartiger Einrichtungen unverhältnißmäßig aufgebauscht, daß ihnen eine Tragweite für Verbesserung der Klassenlage des Proletariats beigemessen wird, die ihnen keineswegs innewohnt, daß sie als Mittel zur Lösung der sozialen Frage angepriesen werden, als Mittel, die Klassengegenfäße zu mildern und auszugleichen. Zu hüten haben sich Arbeiter und Arbeiterinnen davor, in dieser Beziehung zu verallgemeinern und Einrichtungen, welche das Wohlwollen Einzelner geschaffen, und welche dem Wohl Einzelner oder kleiner Gruppen zu Gute kommen, als bestimmend für die Stellung der Klassen Bourgeoisie und Proletariat zu einander aufzufassen. Zwischen Arbeitern und Rapitalisten fann nur von Klasse zu Klasse gerechnet und abgerechnet werden; bei aller Anerkennung der Leistungen einzelner Unternehmer darf nicht vergessen werden, daß nach dem obigen Gesichtspunkt alle Arbeiterfreundlichkeit der Welt zusammen nichts anderes bedeutet, als im Kleinen und Hellerweise zurückgeben, was in Großen und Millionenweise gestohlen worden ist.
Allein in der Regel kommen bei sogenannten Arbeiterwohlfahrtseinrichtungen wohlgemeinte Absichten seitens ihrer Urheber