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In der That, die Kleinen, über deren Schwächlichkeit man sich entsetzt, die Stellungspflichtigen, deren Untauglichkeit man mit Krokodilsthränen beheulmeiert, sind sie nicht Kinder und Enkel jener Arbeiter und Arbeiterinnen, die in unserem so christlichen Jahrhundert eine Ausbeutung erfahren, wie sie das heidnische Alterthum nie gefannt hat? Stammen sie nicht von Eltern und Voreltern ab, die in jenen goldenen Tagen, wo noch kein dürftiges Gesetz über den Schutz der Kinderarbeit eristirte ,,, im Alter von 9 und 10 Jahren um 2, 3, 4 Uhr des Morgens aus den schmußigen Betten gerissen und gezwungen wurden, für die nackte Eristenz bis 10, 11, 12 Uhr Nachts zu arbeiten, während ihre Glieder wegschwinden, ihre Gestalt zusammenschrumpft, ihre Gefichtszüge abstumpfen...."*)" Physisch, geistig und moralisch " Physisch, geistig und moralisch niedergetretene Kinder wurden die Eltern des jezigen Geschlechts."
Die Lebensbedingungen der Proletarierkinder sind keinesfalls dazu angethan, die von den Vätern überkommenen Krankheitsfeime zu überwinden. Sie wachsen vielmehr unter Umständen auf, welche förperliche Entartung und Verfall begünstigen und erzeugen.
Was die Dame der Bourgeoisie aus Eitelkeit oder Vergnügungssucht, aus Mode oder Laune ihren Kleinen verweigert, das muß die Proletariersfrau den ihrigen aus Noth versagen: die mütterliche Pflege. Kaum hat sie das Wochenbett überstanden, so heißt es für sie:„ zurück in die Fabrik, schaffen, schaffen und schaffen," um die zu Haus harrenden hungrigen Mägen zu füllen. Anstatt an der Mutterbrust genährt zu werden, erhält das Würmchen ,, fleiner Leute" fünstliche Nahrung, die im besten Falle nur gefälscht ist, der aber sehr oft Betäubungsmittel beigemischt sind, welche verdummen oder nach und nach tödten. Wie eine offizielle ärztliche Untersuchung nachwies, sind, von Lokalumständen abgesehen, die hohen Sterblichkeitsraten( der Proletarierkinder) vorzugsweise der außerhäuslichen Beschäftigung der Mütter geschuldet und der daher entspringenden Vernachlässigung und Mißhandlung der Kinder, u. a. unpassender Nahrung, Mangel an Nahrung, Fütterung mit Opiaten u. s. w." Nach Dr. Hunter nahm in ackerbautreibenden Gegenden Englands die Kindersterblichkeit bedeutend zu, als die Landwirthschaft nach dem Muster der Industrie betrieben ward und viele Frauen als Lohnarbeiterinnen außer dem Hause schafften. Während der im Gefolge des amerikanischen Bürgerkriegs auf tretenden Krise der englischen Baumwollenindustrie beobachtete Dr. Smith bekanntlich eine Abnahme der Kindersterblichkeit, und dies trop des Nothstands der Arbeiterkreise.„ Die Arbeiterfrauen Die Arbeiterfrauen fanden die Muße, ihren Kindern die Brust zu reichen, anstatt sie mit Godfrey's Cordial( Opiat) zu vergiften."
Dem Säuglingsalter entwachsen bleibt das Kind während der Abwesenheit der Mutter der Fürsorge wenig älterer Geschwister oder der Nachbarsleute überlassen. Es vergeht fast kein Tag, an dem man nicht von Unglücksfällen liest, welche so behütete Kleine betroffen, deren Mütter im Dienste des Kapitals frohnden.
Damit sind die ungünstigen Verhältnisse, welche die Entwicklung des proletarischen Nachwuchses verhängnißvoll beeinflussen, noch keineswegs erschöpft. Vater und Mutter zusammen verdienen heutzutage kaum noch genug, die nackte Existenz ihrer Kinder zu fristen. Oder was sonst bedeutet die Thatsache, daß in Berlin , Wien , Halberstadt , Aachen und Dußenden anderer Städte während des Winters armen Schülern und Schülerinnen ein Frühstück verabreicht ward oder richtiger verabreicht werden mußte, weil die halbverhungerten und erfrorenen Kleinen dem Unterricht nicht zu folgen vermochten?
Die Organe der bürgerlichen Presse, welche vor Lobgefängen auf die Trinkgelder zahlende Kapitalistenwelt überfließen, verzeichnen tagtäglich Erscheinungen, die ,, wenn Menschen schweigen, werden Steine schreien" die Ursache der Sterblichkeit und des Siechthums der Proletarierkinder verrathen.
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In den Landbezirken, wo die moderne Industrie festen Fuß faßt,„ rohe und halbgebildete Parvenus" zu hervorragenden Spinnereibesißern,"" sehr großen Wurstmachern" und„ einfluß
*) Sämmtliche im Artikel enthaltene Zitate sind aus Karl Marg' ,, Kapital" entlehnt. 8. Kapitel: Der Arbeitstag. 13. Kapitel: Maschinerie und große Industrie. 23. Kapitel: Das allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation.
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reichen Schuhwichsfabrikanten" verwandelt, da tritt auf dem Küchenzettel der proletarischen Arbeitsbienen die Kartoffel an Stelle des Brotes, der Häring an Stelle von Fleisch und Zukost. In den Großstädten nimmt gleichfalls der Fleischkonsum stetig ab. In Leipzig ist er z. B. von 1888-1891 um 3312 Prozent zurückgegangen. Dafür hat der Verbrauch von Pferdefleisch eine erhebliche Zunahme erfahren. Am stärksten ist er gerade in den großen Städten gestiegen, welche als Industriezentren und Siz der Massenarmuth bekannt sind, so z. B. in Breslau . In Schlesien ist es bezüglich der Verschlechterung der Volksnahrungsmittel nicht bei dem Pferdefleisch geblieben, dort ist man von dem Pferd auf den Hund gekommen. Im vorigen Winter wurden schlesische Behörden darum angegangen, sie möchten von Amtswegen gegen den Verkauf von Hundefleisch wegen dessen Gesundheitsschädlichkeit einschreiten. Nun braucht man wahrlich kein Prophet zu sein, um mit Sicherheit zu behaupten, daß es nicht die schlesischen Großgrundbefizer und Schnapsbrenner sind, die sich an Portionen Hottehü und Wauwau ergößen. Der Ausfall, bezw. die Verschlechterung der Fleischnahrung betrifft lediglich die werkthätige Masse.
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Mit der Entwicklung der Maschinentechnik geht für Tausende ein Sinken der Löhne Hand in Hand, für andere Tausende der Verlust von Arbeit und Brot. Diesem Stand der Dinge entsprechend nimmt die Kauftraft des Proletariats ab, nicht nur die Nahrung, auch Wohnung und Kleidung verschlechtert sich mehr und mehr, Mangel und Elend sind stete Gäste im Heim der Arbeiterfamilie. Was Dr. Simon 1864 in seinem Bericht über die Lebensverhältnisse der englischen Proletarier sagt, das gilt noch heutzutage für die Mehrheit ihrer deutschen Brüder.„ Daß die Fälle zahllos sind, worin Nahrungsmangel Krankheiten erzeugt oder verschärft, wird Jeder bestätigen, der mit medizinischer Armenpraris oder mit den Patienten der Spitäler... vertraut ist. Jedoch kommen hier vom sanitären Standpunkt noch andere, sehr entscheidende Umstände hinzu.... Kleidung und Heizung werden noch dürftiger gewesen sein als die Speise. Kein hinreichender Schutz wider die Härten des Wetters; Abknappung des Wohnraums zu einem Grad, der Krankheiten erzeugt oder verschärft. Kaum eine Spur von Hausgeräth oder Möbeln; die Reinlichkeit selbst wird kostspielig oder schwierig geworden sein. Werden noch aus Selbstachtung Versuche gemacht, sie aufrecht zu erhalten, so .. Dies repräsentirt jeder solche Versuch zuschüssige Hungerpein.
sind die Gesundheitsgefahren, denen die Armuth unvermeidlich ausgefeßt ist, wenn diese Armuth Nahrungsmangel einschließt.. Dies sind qualvolle Gedanken, namentlich wenn man sich erinnert, daß die Armuth, wovon es sich handelt, nicht die sebstverschuldete Armuth des Müssiggangs ist. Es ist die Armuth von Arbeitern." Wer darf sich wundern, daß angesichts solcher Lebensverhältnisse der Theil des Proletariats am schwersten geschädigt wird, der, in der Entwicklung begriffen, günstiger Bedingungen am dringendsten bedarf: die proletarische Kinder- und Jugendwelt.*)
Hunderttausende von Kinderleichen und Hunderttausende und Aberhunderttausende von Siechen und Krüppeln bezeichnen den Entwicklungsgang der kapitalistischen Wirthschaftsweise. Leute, welche angesichts dieser„ Timur- Tamerlan'schen Verschwendung von Menschenleben" auf Friedensfongressen über die Greuel des Kriegs und seine Opfer jammern, aber keinen Finger rühren, um dem .herodischen Kindermord" durch den kapitalistischen Industrialismus Einhalt zu thun, das sind entweder furzsichtige Narren oder Heuchler.
Siechthum und früher Tod des proletarischen Nachwuchses, das sind Erscheinungen, welche mit der heutigen Gesellschaftsordnung unauflöslich verbunden sind, welche der schamlosen Spekulation mit der Waare Arbeitskraft folgen wie der Schatten dem Licht. Verschwinden werden sie erst, wenn in der sozialistischen Gesellschaft die Arbeitskraft aufgehört hat, eine Waare zu sein, welche Proletarier und Proletarierinnen bei Strafe des Verhungerns zu jedem Preis losschlagen müssen. Denn erst mit der Beseitigung der
*) Wir sehen für den Moment davon ab, wie schwer das Unternehmerthum dadurch an der nämlichen Jugend frevelt, daß es, um mit Shelley zu reden, Kinder in leblose und blutlose Maschinen verwandelt in einem Alter, wenn sie sonst vor den Thüren ihrer Eltern zu spielen pflegten."