Nr. 22 der ,, Gleichheit" gelangt am 2. November 1892 zur Ausgabe.
Strenge, welche Sophie sich selbst gegenüber an den Tag legte, die unbezähmbare Energie ihres Willens, ihre Fähigkeit, eine Sache oder ein Ereigniß leidenschaftslos, ohne Vorurtheil und trügerische Illusion von allen Seiten zu betrachten, ihre Begeisterung für den Sozialismus machten die Perowskaja bald zu einem der einflußreichsten und angesehensten Mitglieder des Zirkels. Unermüdlich war sie darauf bedacht, die Organisation zu kräftigen und ihr Wirkungs feld zu erweitern. So war es zum größten Theil ihr Werk, daß der Zirkel seine Propaganda von der studirenden Jugend auf die Arbeiter der großen Städte ausdehnte und später zur Agitation unter der bäuerlichen Bevölkerung überging. Sie selbst war eine eifrige und ungemein erfolgreiche Propagandistin. Ihrer klaren, überzeugen den Beweisführung und begeisterten Beredsamkeit vermochte Niemand so leicht zu widerstehen, und die Arbeiter liebten sie wegen ihres Ernstes und ihrer Einfachheit. Um die sozialistischen Jdeen in der Provinz zu verbreiten, nahm sie eine Stelle als Lehrerin in einer großen Käsefabrik im Gouvernement Twer an, wo sie von ihren großen und fleinen Schülern und Schülerinnen buchstäblich vergöttert ward.
Nach Petersburg zurückgekehrt, gründete sie mehrere revolutionäre Gruppen, u. a. eine solche, welche der Hauptsache nach aus Arbeitern bestand, und nahm thätigen Antheil an der Gründung geheimer Druckereien. Im November 1873 wurde sie zusammen mit einer Gruppe Arbeiter verhaftet, unter denen sie Propaganda gemacht hatte. Sie blieb ein Jahr lang in Untersuchungshaft und ward dann gegen eine Kaution von 5000 Rubeln in provisorische Freiheit gesetzt, mußte aber Petersburg verlassen. Die drei Jahre ihres nun folgenden unfreiwilligen Aufenthalts in der Provinz nutzte sie dazu aus, einen Kursus über Chirurgie zu absolviren und ihre medizinischen Studien zu beendigen. Als Krankenpflegerin und Wundärztin suchte sie Berührung mit dem Volke und nahm jede Gelegenheit wahr, ihm das sozialistische Evangelium zu verkünden. Da sie eine unübertreffliche, gewissenhafte und liebevolle Krankenpflegerin war, so gewann sie schnell die Sympathien der Bauern und übte großen Einfluß auf sie aus.
Sophie wurde mit den meisten Tschaikowzi zusammen in den großen Prozeß der 193 verwickelt und zwar freigesprochen, sollte aber auf polizeiliche Verfügung hin in einer nördlichen Provinz internirt werden. Auf dem Wege nach ihrem Bestimmungsort gelang es ihr, zu entweichen, sie verbarg sich in einem großen Wald und kam von dort aus allein, ohne Jemandes Hilfe in Anspruch genommen zu haben, nach Petersburg zurück. Hier schloß sie sich an eine geheime Gesellschaft an, welche das Ziel verfolgte, politische Gefangene zu befreien, das revolutionäre Blatt ,, Semlja i Wolja"( Land und Frei heit) herausgab- natürlich in einer geheimen Druckerei hergestellt und nach kurzer Zeit eine große Bedeutung erlangte. Jedes Mitglied der Gesellschaft war zu unverbrüchlichem Gehorsam verpflichtet, und dem erhaltenen Auftrag gemäß begab sich Sophie nach Charkow , dem Sitz des Zentralgefängnisses, wo sie die Unternehmungen zur Befreiung von Gefangenen plante und leitete und zahlreiche Beweise ihres hohen organisatorischen Talentes gab. Uebrigens war sie ebenso muthig als flug, sie entwarf nicht nur kühne Pläne, unterhielt nicht nur Verbindungen bis ins Innerste des Gefängnisses, so daß sie über alle Vorgänge daselbst auf das Genaueste unterrichtet war, sondern sie setzte sich selbst unerschrocken allen Gefahren aus. Als Kammerfrau, Dienstmädchen, Bäuerin verkleidet verkehrte sie mitten unter den Polizisten, Gensdarmen und Spionen. Daß sie trotz ihres aufreibenden Wirkens für die Befreiung der Kameraden die Propaganda nicht vernachlässigte, war bei ihrem thatkräftigen Charakter selbstverständlich.
Auf dem Kongreß, den die russischen Revolutionäre 1879 zu Woronesch abhielten, spaltete sich die Organisation der ,, Semlja i Wolja" in zwei Gruppen, in die des Tschorni Perediel( Schwarze Theilung, d. h. Theilung des Ackerlandes), welche die rein sozialistische Propaganda fortsetzen wollte, und in die der Narodnaja Wolja ( Volkswillen), welche als nächstes Ziel des Kampfes den Sturz des Despotismus bezeichnete. Sophie Perowskaja erklärte sich auf dem Kongreß gegen jede politische Aktion der Revolutionäre, jedoch überzeugte sie sich bald, daß angesichts der politischen Lage in Rußland ein Fortführen der Propaganda unmöglich geworden war. Sie schloß sich den Terroristen an und gab sich deren Kämpfen mit einer Energie, Unerschrockenheit und Ausdauer hin, welche ihre muthigsten Gesinnungsgenossen mit Erstaunen und Bewunderung erfüllten. So wurde sie bald die Seele des revolutionären Exekutivkomités und erwies sich als unermüdlich im Entwerfen neuer Pläne, neuer weitzielender Unternehmungen, an deren Verwirklichung sie selbst thatkräftigen Antheil nahm. Nach jedem stattgehabten Attentat schickte das Exekutivkomité diejenigen seiner Mitglieder ins Ausland, welche eine hervorragende Thätigkeit entfaltet hatten. Sophie Perowskaja, eines der belastetsten Mitglieder von allen, weigerte sich beharrlich, vom Kampfplatz abzutreten. Mit dem Worte:„ Ich will lieber in Rußland gehangen werden, als im Aus
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lande unthätig dahinleben," pflegte sie alle diesbezüglichen Aufforderungen zurückzuweisen. Ihr Wunsch sollte erfüllt werden.
Die geradezu unwiderstehliche Gewalt, welche sie über die Menschen ausübte, ihr heldenhafter Muth, der sich unter ruhiger, heiterer Oberfläche barg, ihre Kaltblütigkeit, welche sie nie aus der Fassung kommen ließ, brachte es mit sich, daß ihr die Kameraden die schwierigsten und gefahrenreichsten Posten anvertrauten. Als die Revolutionäre bei Moskau die Bahn unterminirten, um den kaiserlichen Zug in die Luft zu sprengen, so miethete Sophie Perowskaja das Häuschen, von dem aus die Mine angelegt wurde. Sie spielte die Rolle der Hausfrau und verstand es geschickt, während der langen Wochen, in denen die Verschworenen Maulwürfen gleich die Erde durchwühlten, jeden Verdacht der Nachbarn und der Polizei fernzuhalten. Als die Polizei ihre Wohnung besichtigte, wie in Rußland alle Häuser einer Stadt inspizirt werden, sobald der Zar durchreist, lachte und scherzte Sophie unbefangen mit den Beamten, während sich in ihrem Handbereich die Flasche Nitroglyzerin befand, mit welcher im Falle einer Entdeckung das Haus in die Luft gesprengt werden sollte. Ihre Heiterkeit und muntere Laune verkürzte den Gefährten die Abgeschlossenheit von der Welt und die Beschwerden ihrer gefährlichen Arbeit.
Die Perowskaja leitete auch das erfolgreiche Attentat vom 13. März 1881, das Alexander II. das Leben kostete. Sie hatte den Plan der Dertlichkeit aufgenommen und jedem Verschworenen seine Rolle und seinen Posten zuertheilt. Schon am Morgen des 13. war die kühne Frau selbst an Ort und Stelle, empfing von den aus: gestellten Schildwachen die nöthigen Nachrichten über den Weg des Kaisers und ertheilte mittels eines Taschentuchs die nöthigen Befehle und Signale.
Eine Woche später ward sie in Petersburg in einer Droschke verhaftet. Obgleich ihre Verhaftung seit dem Tage des Attentats als sicher bevorstand, hatte sie die Hauptstadt nicht verlassen, weil Sheljaboff, der hochbegabte, energische, weitsichtige Vorkämpfer der revolutionären Sache, den sie liebte, verhaftet worden war, und sie sein Schicksal theilen wollte.
Ernst, ruhig und würdevoll erschien sie vor dem Gerichtshof; sie suchte sich weder ihrer That zu rühmen, noch sie zu entschuldigen, ihre Haltung war von Prahlerei ebenso weit entfernt, als von Aengstlichkeit und Furcht. In einer kurzen Ansprache forderte sie, daß man sie in ihrer Eigenschaft als Frau nicht von ihren Gefährten trennen möge, daß deren Geschick das ihrige sei. Ihr Wunsch ward ihr gewährt, sie ward, wie die verhafteten Kampfesgenossen, zum Tod durch den Strang verurtheilt.
Sechs Tage, anstatt der üblichen drei, verstrichen bis zur Vollstreckung des Urtheils. Dem Gerücht nach soll die Zeit von den Schergen des Zaren dazu angewendet worden sein, den heldenhaften Streitern für Volksfreiheit durch Folterqualen Geständnisse zu entreißen. Die Wahrheit darüber ist nie festgestellt worden, jedenfalls ist die Möglichkeit des scheußlichen Verbrechens den zaristischen Henters knechten wohl zuzutrauen. Thatsache ist, daß Niemand mehr in der Zeit nach der Verurtheilung zu den Gefangenen zugelassen wurde. Sogar der Mutter Sophies, welche aus der Krim herbeigeeilt war, um mit der geliebten Tochter ein schmerzensreiches Lebewohl zu tauschen, ward ein Wiedersehen mit dieser unter allerhand Vorwänden verwehrt. Wohl sah sie ihr Kind ein letztes Mal, aber nur auf dem Karren, welcher die Verurtheilten zur Richtstätte führte.
Sophie Perowskaja starb muthig, wie eine Heldin. Der Korrespondent der„ Kölnischen Zeitung ," welcher gewiß keiner Sympathien mit den Revolutionären verdächtig ist, schrieb über die Hinrichtung: „ Ich habe im Orient einem Dußend Hinrichtungen beigewohnt, aber eine ähnliche Schinderei habe ich nie gesehen..... Sophie Perowstaja legte Beweise einer ganz ungewöhnlichen Seelenstärke ab. Ihre Wangen bewahren rosige Färbung, während ihre allzeit ernsten Züge, die nicht die geringste Spur einer Effekthascherei tragen, wahren Muth und grenzenlose Entsagung ausdrücken. Ihr Blick ist ernst und friedlich, man bemerkt nicht den leisesten Schatten eitler Prahlerei."
Mehr noch als ihr muthvoller Tod am Galgen sichert Sophie Perowskaja das, was sie während ihres Lebens gewesen und gethan, einen hervorragenden Platz in der Geschichte der Freiheitstämpferinnen und Heldinnen aller Zeiten und aller Länder. Alles in Allem ist es nicht leichter, zu sterben, wie sie starb, als zu leben, zu handeln, wie sie gelebt und gewirkt. Ihre Eristenz war von dem Augenblicke an, wo sie die sozialistischen Ideale mit glühender Seele aufnahm, bis zu ihrem Sterben ein ununterbrochenes selbstverleugnendes Wirken, eine einzige große That für Freiheit und Volkswohl.
Itzehoe . Der Arbeiterinnen- Bildungsverein Itzehoe hält jeden letzten Freitag im Monat seine Mitgliederversammlung ab. Erste Vorsitzende des Vereins Frau Muhs, Kaiserstr. 15.
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