Die Bibliothek der Universität Göttingen ziert die Büste einer Frau. Es liegt ein scheinbarer Widerspruch in dem lieblichen Antlitz, welches Meister Trippel dargestellt hat. Die oberen Partien des Kopfes, vor Allem die Stirn, verrathen Energie, Ernst, Reise und Hoheit der Gedanken, während den Mund das anmuthige Lächeln eines Kindes umspielt. Die Büste stellt Dorothea Schlözer dar, welche, 17 Jahre alt, von den Vertretern der Universität Göttingen zum Doktor der Philosophie ernannt wurde.
Dorothea war die Tochter des Göttinger Universitätsprofessors August Ludwig von Schlözer, eines tüchtigen Charakters und in seiner eine frühere Schülerin Zeit angesehenen Gelehrten. Die Mutter
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war eine selten begabte Frau.
des Professors Die hervorragenden geistigen Fähigkeiten der Eltern hatten sich nicht auf ihre drei Söhne, sondern auf die Tochter allein vererbt. Diese war und blieb der Stolz und die Freude des Paares. Schlözer , der schon die Gattin als Kind unterrichtet hatte, widmete sich mit wahrer Begeisterung der Erziehung seines Dortchen, wie die Kleine von den Eltern genannt ward. Da er vielfach als Hauslehrer bei Mädchen thätig gewesen war, so hatte er beobachtet, wie leicht bisweilen diesen das Begreifen wissenschaftlicher Gegenstände fällt. Er war deshalb der Ansicht, daß die Bildung und Erziehung der Frauen mit denselben Mitteln, wie die der Männer, gefördert werden sollte, und er beschloß, seine eigene Tochter dieser seiner Anschauung gemäß zu erziehen. Dortchens natürliche Klugheit und Begabung festigte ihn in seiner Ueberzeugung und begünstigte die Verwirklichung seines Vorhabens. Der Sitte der Zeit entsprechend, begann der Unterricht des Kindes sehr früh, nach seinem vierten Geburtstage. Das Lesen, Schreiben und Rechnen erlernte die kleine Dorothea spielend; geradezu staunenswerthe Fähigkeiten entwickelte sie beim Erlernen fremder Sprachen: mit zehn Jahren sprach sie fertig lateinisch, französisch, italienisch und englisch. Das Erwerben anderer Kenntnisse war über dem Sprachunterricht nicht verabsäumt worden, und so wußte Dorothea schon damals in Physik, Mathematik und Geschichte Bescheid. Griechisch erlernte sie mit dem 16. Jahre.
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Das elfjährige Kind begleitete Schlözer auf einer Reise nach Italien . Der ganze Zauber einer großartigen Natur, die Kunstschätze des Alterthums, sowie der Verkehr mit hervorragenden Menschen übten einen mächtigen Einfluß auf die geistige Entwicklung Dorotheas aus. Der sonderbare Professor" mit seinem Wunderkinde" ward überall angestaunt. Denn wenn auch Niemand die Gelehrsamkeit der Kleinen kannte, so mußte man doch die geistige Gewandtheit bewundern, mit der diese sich über alles äußerte, was sie in Italien kennen lernte. Die Sprache des Landes beherrschte Dorothea nun so vollkommen, daß sie derselben mündlich und schriftlich sicherer war, als 15 jährige italienische Mädchen, mit denen zusammen sie in Rom eine Schule besuchte. Dorothea führte auf der Reise ein Tagebuch, in dem sie viel natürlichen Verstand zeigte bei Beurtheilung von Land und Leuten. Trotz aller Zerstreuungen, die die Reise bot, arbeitete das Kind doch täglich einige Zeit wissenschaftlich. So konnte Schlözer aus Verona an die Gattin daheim über Dortchen schreiben:" Sie nahm zum ersten Male das Mathematikheft vor und studirte ganz gewaltig." Aus Rom berichtet er über ihr Leben und ihre Studien und sagt unter Anderem:„ Deine Tochter führt in Rom ein so gutes und dabei nützliches Leben, als Du und kein anderer Mensch in Göttingen sich je hätte träumen lassen. Sie behält alles was sie sieht und spricht gescheid davon.... Sie hat nur einen schweren Stand, daß sie nicht zur Thörin wird, denn was ihr die Leute schmeicheln, ist unaussprechlich." Trotz der Bewunderung, welche ihr gezollt ward, blieb Dorothea ein natürliches und bescheidenes Mädchen und war weit entfernt von jeder Gefallsucht.
Besondere Anerkennung verdient es, daß der Vater die Tochter geistig nie überanstrengte und auch ihren Körper zu entwickeln und) zu kräftigen suchte. Er unternahm mit ihr große Fußtouren, sogar bei Wind und Wetter, und rühmte, daß Dorothea dabei mehr Anstrengung ertragen könne, als er selber. Die blühend rothen Wangen, die braune Gesichtsfarbe, sowie die kräftige Körperentwicklung des Kindes sprachen dafür, daß der Geist nicht auf Kosten der physischen Kraft und Gesundheit gepflegt und ausgebildet wurde. Und daß die " gelehrte Bildung" Dorotheas Gemüthsleben nicht beeinträchtigte und verkümmern ließ, das zeigt uns ein kleiner Vorfall, welcher sich auf der Heimreise zutrug, welche Vater und Tochter nach sechsmonatlichem Aufenthalt in Italien antraten. Der Reisewagen, welcher Vater und Tochter führte, hielt im südlichen Deutschland an einer Dorfschenke. Fuhrleute und Reisende waren in der Wirthsstube versammelt, wo ein armes Mädchen zur Harfe sang. Als es geendet hatte, nahm Dorothea wahr, daß der traurig dreinblickenden Spielerin nur wenig
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Beachtung geschenkt wurde. Von ihrem mitleidigen Herzen getrieben, ergriff da Dorothea ihren runden Reisehut und sammelte bei Allen für das Mädchen ein. Ihre That fand so viel Beifall, daß selbst jeder Fuhrmann lächelnd sein ledernes Beutelchen zog und reichlich spendete.
In Göttingen widmete sich Dorothea nach ihrer Rückkehr den wissenschaftlichen Studien mit erhöhtem Eifer. Die Liebenswürdigkeit und Natürlichkeit ihres Wesens erlitt dadurch nicht die geringste Einbuße. Nie rühmte sie sich ihrer geistigen Vorzüge, mit einer sanften, bescheidenen Gemüthsart verband sie einen festen und standhaften Sinn, außerdem besaß sie viel Lebhaftigkeit, natürlichen Wiz und Entschlossenheit.
Im Jahre 1787 sollte gelegentlich der Jubelfeier der Universität Da Göttingen eine Reihe junger Leute die Doktorprüfung ablegen. machte Professor Michaelis, ein Freund Dorotheas und ihres Vaters, den Vorschlag, daß auch das junge Mädchen an dieser Prüfung theilnehmen solle. Damals hatten die Gelehrten noch nicht ihr Herz für das„ Ewig- Weibliche" im Punkte der Bildung und Berufsthätigkeit entdeckt. Sie standen noch nicht im Zeichen der Konkurrenzfurcht und des Konkurrenzneides und fanden deshalb noch nicht, daß dem weiblichen Geschlecht die gleiche Bildung wie dem männlichen verwehrt sein solle, und dies prinzipiell verwehrt mit Rücksicht auf die„ Natur, Begabung und Rolle der Frau" und mit Rücksicht auf das Gedeihen der Wissenschaft“ und„ unserer Kultur." Als sich Dorothea und deren überraschter Vater mit Michaelis' Vorschlag einverstanden erklärt hatten, stießen sie bei seiner Verwirklichung seitens der Prüfungstommission auf kein Hinderniß. Von acht Professoren wurde das junge Mädchen in dreieinhalbstündigem Examen, das in lateinischer Sprache stattfand, über Horaz , Mineralogie und Bergwerkswissenschaften, Algebra und Architektur geprüft. Geradezu hervorragend fiel Dorotheas mathematische Arbeit aus.
Nach bestandener Prüfung wurde ihr einstimmig der philosophische Doktorhut feierlich zuerkannt. Freudig erglühend nahm Dorothea den Spruch entgegen, und der Vater war nicht weniger glücklich als sie, hatte sich doch seine Ueberzeugung an seiner eigenen Tochter erfüllt: daß die Frau wissenschaftlich dasselbe leisten könne, wie der Mann. Obgleich dies nicht blos durch das eine Beispiel, vielmehr durch viele Thatsachen bewiesen ist, hat die öffentliche Meinung in Deutschland auch jetzt, hundert Jahre später, noch nicht den Schluß gezogen, daß den Frauen die wissenschaftliche Ausbildung ermöglicht und auch ihnen die dieser entsprechenden Rechte zugebilligt werden müßten. Der deutsche Durchschnittsbürger ist nicht aus Fortschrittshausen. Es versteht sich von selbst, daß Dorothea auch nach der glücklich abgelegten Doktorprüfung die Wissenschaften mit Eifer und Liebe weiter pflegte und das Gebiet ihrer Kenntnisse zu erweitern bestrebt war. 1790 reiste sie mit dem Vater nach Hamburg und Lübeck , und diese Reise sollte für ihr ferneres Leben entscheidend werden. Sie lernte nämlich den aus einem Kaufmannsgeschlecht stammenden Senator Rodde kennen. Die tiefe Werthschäßung, welche dieser für das junge Mädchen empfand, ging sehr bald in Liebe über, und als sich auch bei Dorothea eine Neigung zu Rodde entwickelte, der ein liebenswürdiger und tüchtiger Charakter war, so wurde bald eine fröhliche Hochzeit gefeiert. Rodde war 36 Jahre alt, Witwer und Vater dreier Kinder, Dorothea dagegen hatte kaum das zwanzigste Lebensjahr überschritten. Sie besaß aber Reife des Geistes und Charakters genug, um dem älteren Manne eine treue, hingebende Gefährtin und seinen Kindern eine gute Mutter zu werden. Sie selbst schenkte ihrem Gatten einen Sohn und zwei Töchter.
Die Vermögensverhältnisse Rodde's waren glänzende, Dorothea liebte aber keinerlei Aufwand um ihre Person, sie blieb anspruchslos und einfach und erzog auch die Kinder zur Einfachheit. Ihren Reichthum verwendete sie zum großen Theil im Dienste einer stillen und segensreich wirkenden Wohlthätigkeit; wo immer ihr das Elend begegnete, fand es ihre Hand offen. Leider sollte ihre Lage keine so günstige bleiben. Ünvorhergesehener Weise war das Handelshaus Rodde's durch Verwickelung in ausländische Unternehmungen geschäftlich an den Rand des Abgrunds gerathen. Eine Katastrophe brach herein, in welcher das ganze Vermögen des Senators verloren ging. Nur eine Lebenspolice, die er seiner Gattin geschenkt hatte, blieb zur Sicherung von deren Zukunft und derjenigen der Kinder übrig. Da aber behufs Aufrechterhaltung der Versicherung jährlich eine größere Summe gezahlt werden mußte, so galt es nun für Rodde, die Last dieser Zahlung zu tragen und zugleich auf das Angestrengteste für den Unterhalt der Familie zu arbeiten. Die drückenden Sorgen und Kümmernisse, welche die veränderte Vermögenslage mit sich brachte, vermochten nicht Dorotheas Muth zu beugen; in stiller Pflichterfüllung waltete sie im Hause und war ihrem Gatten eine Stütze in den schweren Tagen. Ganz besondere Sorgfalt verwendete sie auf die Erziehung