Nr. 5 der ,, Gleichheit" gelangt am 7. März 1894 zur Ausgabe.

Winter nicht genug Beschäftigung für ihr Gesinde haben, dieses Stroh flechten lassen. Den Verdienst streichen natürlich die Herren ein, und die Strohflechterinnen müssen sich den Hungerriemen fester schnallen.

Hungerlöhne und kein Ende. Eine Zündholzfabrik in Königs­ berg   beschäftigt Mädchen. Die jugendlichen Arbeiterinnen, welche mit der Maschine das Holz zerkleinern, verdienen täglich 65 Pfennig, ihre älteren und geübteren Kameradinnen 70-75 Pfennig. Die Mädchen, welche die Zündhölzchen in Schachteln packen, arbeiten im Akkord. Sie werden per 1000 Schachteln mit 35 Pfennig entlohnt und können im Tag 2000-2500 Schachteln verpacken, also einen Tages­verdienst von 70-87% Pfennig erzielen. Alle 14 Tage bei Ab­nahme der Schachteln müssen die Mädchen einen Tag umsonst arbeiten. Die Arbeiterinnen, welche die Schachteln mit Zündmasse bestreichen, erhalten für das Bestreichen von 1000 Schachteln 12 Pfennig. Ungeübte Arbeiterinnen bestreichen täglich 3000 Schachteln und ver­dienen also ganze 36 Pfennig. Eine sehr geübte Arbeiterin kann pro Tag 5-6000 Schachteln bestreichen und verdient also im günstigsten Falle 70 Pfennig. Bringt man den Lohnausfall wegen der Feier tage in Anrechnung, und in Königsberg   sind auch die jüdischen Feier­tage in Abzug zu bringen, ferner die Beiträge für die verschiedenen Versicherungen, so bleibt einer mittelmäßigen Arbeiterin ein Jahreseinkommen von 160 Mark. Sie darf also für ihren gesammten Lebensunterhalt pro Tag nicht einmal ganz 44 Pfennig verausgaben. Solche Löhne sind für die Arbeiterin zu wenig zum Leben, zu viel zum Sterben; sie sind aber gerade recht, um den Geld­sack des Kapitalisten zu füllen.

Gewerkvereinliches Blech? Wie der Zentralrath der deutschen " Hirsche" mit der Gewerkvereinsstange im Nebel herumfährt, ersieht man daraus, daß er ein Preisausschreiben erlassen hat über die Frage: ,, Welche Art der Lohnzahlung, Stücklohn oder Zeitlohn, ist am vor theilhaftesten für die Arbeiter?" Die Preise betragen 50, 40 und 30 Mark. Das Geld hätte sich der Zentralrath ersparen können, denn jeder sozialdemokratische Schusterjunge könnte ihm sagen, daß Akkord­arbeit Mordarbeit ist. Nur Dr. May Hirsch und sein ge= dankenloser Anhang weiß das noch nicht.

Gesetz zum Schutz des weiblichen Dienstpersonals der öffentlichen Wirthschaften in der Schweiz  . Der Berner Kantonsrath hat folgenden Artikel zum Wirthschaftsgesetz angenom men: Die gesundheitsschädliche Anstrengung des Dienstpersonals in den Wirthschaften ist untersagt." Der Betrieb jeder Wirthschaft ist so einzurichten, daß von 24 Stunden wenigstens 7 Stunden ununter­brochene Schlafenszeit des gesammten, im Dienstverhältnisse des Wirthes stehenden weiblichen Personals zugesichert wird. Für be­sondere Verhältnisse kann der Regierungsstatthalter Ausnahmen für höchstens sechs Wochen bewilligen, immerhin nur so weit, daß die siebenstündige Schlafenszeit mindestens drei Mal wöchentlich ein­geräumt werde. Eine angemessene Zahl von Ruhetagen ist dem Dienstpersonal zugesichert, worüber ein Dekret das Nähere bestimmen wird. Mädchen unter dem vollendeten 18. Altersjahr, welche nicht zur Familie des Wirths gehören, dürfen nicht als Kellnerinnen ver­wendet werden. Wenn dieses Gesetz einen Fortschritt bedeutet, und es ist ein solcher, so kann man daraus klärlich ermessen, welch un­sagbar schamlose Ausnutzung der weiblichen Arbeitskräfte im Wirths­gewerbe die Regel ist.

32

Sittlichkeitsmumpit. In den Schulen der Stadt Zürich  werden Knaben und Mädchen getrennt unterrichtet, in den kürzlich ihr einverleibten Außengemeinden dagegen gemeinschaftlich. Daher ernste Erwägungen der Stadtweisen und Schulgewaltigen, ob der ge­meinschaftliche Unterricht von Knaben und Mädchen in den Außen­gemeinden nicht durch den getrennten ersetzt werden müßte. Natürlich aus Gründen der Sittlichkeit, aus Rücksicht auf die Eigenart der Ge­schlechter, zumal die Weiblichkeit, kurz aus Liebe zum alten, würdigen Philisterzopf. Daß Knaben und Mädchen gemeinsam lernen, ist an­stößig, daß gar junge Männer und junge Damen zusammen studiren, zusammen die Hörsäle besuchen und in den Kliniken arbeiten, ist ein Greuel und Scheuel. Daß aber, wie es in Färbereien, Zucker­siedereien, Brennereien und vielen anderen Betrieben der Fall ist, Arbeiter und Arbeiterinnen zusammen bei tropischer Temperatur und deshalb halb nackt und vielfach des Nachts über schanzen und rackern müssen, das ist ein lieblicher Brauch. Denn sicher, dieser Brauch mehrt die Profite der Unternehmersippe. Und vor der Majestät des Profits zerstieben alle, sittlichen" und sonstigen Bedenken des Kapitalisten wie Spreu im Winde. Sittlichkeit der kapitalistischen  Gesellschaft, dein Name ist Mumpit, Heuchelei!

Der Fortschritt des Elends in Wien  . Die Hungersnoth grassirt wieder schrecklich in der stolzen Kaiserstadt. Hunderte von

Arbeitslosen drängen sich tagtäglich in den Genossenschaftshäusern und Arbeitsvermittlungsanstalten herum, arbeitsuchend, erregt von Verzweiflung, gequält von Hunger. Den Leuten, die immer nur für Andere gearbeitet, welche die Taschen Anderer gefüllt, fehlen selbst die nöthigsten Existenzmittel. Nach fruchtlosen Bittgängen um Arbeit und vergeblichem tagelangen Warten in den Arbeitsvermittlungen kehren sie Abends zurück in die armseligen Behausungen, soweit sie noch welche haben, oder in diverse schmutzige Unterstandslöcher, um dort bei Nacht zu frieren, wie sie bei Tag gehungert. Wenn der Morgen kommt, tragen sie ihr Elend aufs Neue zur Schau. Und die Gesellschaft? Sie schämt sich nicht dieses Jammers, achselzuckend gesteht sie ein, daß sie den Arbeitslosen nicht helfen kann. Aufregende Szenen spielen sich nicht selten ab bei diesen Arbeitslosen­versammlungen. Vor einigen Tagen z. B. fällt im Genossenschafts­rufhause der Kleidermacher am Neubau ein arbeitsuchender Schneider­gehilfe plötzlich um. Der herbeigerufene Arzt der Rettungsgesellschaft bringt den Mann nach längeren Bemühungen wieder zum Bewußtsein und es stellt sich heraus, daß der Gehilfe schon mehrere Tage nichts gegessen. Der Arzt konstatirt Hungertyphus und läßt den Mann ins Krankenhaus schaffen. So schaut es aus mit dem Wohlstande der Wiener   Arbeiterbevölkerung.

Zweierlei Maaß und Gewicht. Der französische   Senat, eine der veraltetsten, reaktionärsten Körperschaften, die auf dem Erdenrund existiren, hat einen Antrag angenommen, welche den handeltreibenden Frauen das Wahlrecht zu den Handelsgerichten zubilligt. Der Antrag wird Gesetz, sobald ihm die Kammer ihre Zustimmung ertheilt, was jedenfalls geschehen wird. Wie kommt es, daß eine solche Neuerung vom Senat ausgeht, vom französischen   Senat, der sich gegen jede ernste Reform mit Händen und Füßen wehrt, vom Senat, der in Frankreich   jede anständige Arbeiterschutzgesetzgebung vereitelt hat, vom Senat, der am liebsten den Arbeitern das Wahlrecht nehmen oder arg verkleinern möchte? Es handelte sich eben bei dem Antrag um Frauen der besitzenden Klasse. Die Reform gilt nicht der Frau als solcher, sondern der Frau als Inhaberin eines Geschäftes, als Be­sizerin von Vermögen, die Reform gilt im Grunde dem Kapital. Daher die Reformluft des Senats. Wenn es sich darum handeln wird, den Arbeiterinnen wie es die Absicht des Pariser Stadtraths

-

-

ist das Wahlrecht zu den Gewerbeschiedsgerichten zu gewähren, so werden die Reaktionäre des Senats nicht zu haben sein. Die Arbeite­rinnen werden eben nicht reif" genug befunden für Ausübung des Wahlrechts. Anders Geschäftsinhaberinnen, denn wer Besitz hat, hat auch Verstand. Doch wer A sagt, muß auch B sagen, und wenn die französischen   Gesetzgeber den handeltreibenden Frauen das Wahlrecht zu den Handelsgerichten verleihen, so müssen sie in nicht ferner Zu­kunft auch den Arbeiterinnen das Wahlrecht zu den Gewerbeschieds­gerichten zubilligen. Sie müssen es, denn die Arbeiterklasse wird es mit Nachdruck fordern.

"

Der Achtstundentag in England. Nachdem kürzlich der Minister Asquith   wieder eine Reihe von Produktionszweigen der chemischen Industrie als gesundheitsschädlich und deshalb neben Vor­schriften über die Produktionsmethode auch solchen über Arbeitszeit 2c. unterworfen erklärt hat, hat die Vereinigte Kali- Gesellschaft", die die große Mehrheit der englischen Kaliwerke eignet, in einer Reihe von Departements den Achtstundentag einzuführen beschlossen. So nahmen" werden allmälig so zahlreich, daß die Bewegung, den Acht­kommt eine Industrie nach der anderen an die Reihe, und die Aus­stundentag zur Regel zu machen, schließlich unwiderstehlich wird.

Im Staatsdienst angestellte Frauen. Vor gerade 30 Jahren ließ General Spinner im Schahzamt zu Washington   aus Sparsam­feitsrücksichten" die ersten sieben weiblichen Klerks anstellen. Gegenwärtig sind im Staatsdienst der Vereinigten Staaten   mehr als 6000 Frauen beschäftigt. Die Sparsamkeitsrücksichten" sind noch heute und überall maßgebend für die Erweiterung der weiblichen Berufs­sphäre innerhalb der kapitalistischen   Gesellschaft.

Quittung.

Zu Agitationszwecken 2 Mt. 50 Pfg. von den Nürnberger  Genossinnen und 3 Mt. 62 Pfg. von den Liegnizer Genossinnen erhalten zu haben bescheinigt dankend

Die Frauen- Agitations- Kommission zu Berlin  .

Briefkasten.

Genossin N. in Crefeld   wird um Angabe ihrer Adresse gebeten, behufs Zusendung der gewünschten Agitationsnummern.

Verantwortlich für die Redaktion: Fr. Klara Zettin( Eißner) in Stuttgart  .

-

Druck und Verlag von J. H. W. Dieg in Stuttgart  .