Thaten kurzsichtigster, brutalster Gewalt. Hunderte von halbverhungerten Männern, Frauen und Kindern wurden getödtet oder verwundet. Die Gefängnisse der Insel reichten kaum hin, die Zahl der Verhafteten zu fassen. Der Belagerungszustand wurde über Sizilien verhängt, und eine wüste Militärherrschaft verurtheilte und standrechtelte in blindem Wüthen gegen die Bevölkerung drauf los. Und so fonnte verhältnißmäßig bald erklärt werden, daß wieder Ruhe im Lande herrsche, die Ruhe des Kirchhofs. Auch diese aber voraussichtlich nur auf vorübergehende Zeit. Denn die Verhältnisse, aus denen der Aufstand der bis aufs Aeußerste ausgebeuteten und gedrückten Bevölkerung mit Naturnothwendigkeit hervorwachsen mußte, sie bestehen nach wie vor weiter. Wird nicht durch ernste soziale Reformen eine Gesundung der Verhältnisse des Landes herbeigeführt, so muß sich das gen Himmel schreiende Volkselend wieder durch eine gewaltsame Explosion Linderung zu schaffen suchen.
Die Natur hat Sizilien zu einem wahren Paradies gemacht. Die sozialen Verhältnisse, die Klassengegensätze zwischen Arm und Reich machen es zu einer Hölle für den weitaus größten Theil seiner Kinder. Nur für eine winzige Hand voll Reicher und Ueberreicher ist es ein Kanaan, wo Milch und Honig fließt. Die breite Masse lebt dafür in einem Elend dahin, das jeder Beschreibung spottet. Und dies seit langen Jahrhunderten.
Als die Kämpfe für die Einigkeit Italiens den Sturz der Bourbonen bewirkten, d. h. der vereinigten Macht des absolutistischen Königthums, der Pfaffen und der Feudalherren, da jubelte das sizilianische Volt auf. Es hoffte, daß die neue Zeit eine bessere Zeit sein würde, die ihm Brot, Freiheit, Wissen brächte. Aber bald mußte es sehen, daß sich nur die Form seiner Knechtschaft geändert hatte, daß diese aber selbst in ihrer vollen Schwere fortbestand. An Stelle der früheren unbarmherzigen, räuberischen Feudalherren und bourbonischen. Beamten waren andere, nicht weniger unbarmherzige und räuberische Gewaltige getreten. Das geeinigte Vaterland that nichts, rein gar nichts für das Wohl der arbeitenden Masse. Die eroberte politische Freiheit kam nur den oberen Klassen zu Gute, die sich ihrer als Mittel bedienten, die Besitzlosen aufs Schamloseste auszuplündern.
Der Boden von fast ganz Sizilien ist Eigenthum etlicher weniger großen Grundbesitzer, welche ihre Ländereien an große Kapitalisten verpachten und ihr Geld fern von der Heimath verprassen und verschlemmen. Die Großpächter vermiethen ihrerseits den übernommenen Boden in kleineren Parzellen weiter, die nochmals getheilt und an Afterpächter aus dritter Hand vergeben werden. Jeder Pächter und Afterpächter will bei dem Geschäft verdienen, möglichst viel verdienen. Kommt das Fleckchen Land schließlich an den Bauern, so liegt so hoher Pacht darauf, daß er und die Seinigen das Jahr hindurch rackern müssen, nur um den Pachtschilling entrichten zu können. Ebenso entbehrungs- und mühsalsreich wie ihre Lage ist diejenige der ländlichen Tagelöhner, welche die großen Latifundien für Herren oder Großpächter bestellen.„ Die Bauern und Tagelöhner arbeiten wie die Last thiere den ganzen Tag und einen Theil der Nacht, trinken Wasser und essen Brot und Zwiebeln, wohnen in ungesunden, dem Wind und Regen offenstehenden Verschlägen, sind mangelhaft bekleidet und leben in tiefster Unwissenheit", so schreibt eine italienische Zeitung. Sie müssen zur Sommerszeit, während der Grundherr in Bädern weilt, in der Sonne verschmachten, zur Winterszeit Kälte und Hunger leiden, die Vorwürfe und Schmähungen des Grundherrn oder Pächters schweigend ertragen, für ihn die Steuern bezahlen, von ihm sich auswuchern lassen bis zu vollständigster Knechtung und mit fünfzig Jahren in Folge der Mühen und Entbehrungen arbeitsunfähig werden und, wenn Gott gnädig ist, im Spittel verenden."
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Nicht besser geht es den Bergarbeitern Siziliens , welche zum größten Theil in den Schwefelgruben arbeiten. Ihre Ausbeutung und vor Allem die der mit ihnen schaffenden Kinder steht ohne Gleichen da. Knaben von 8-15 Jahren müssen am Tage 20-25 Mal mit Schwefellasten von 30-40 Kilo den mehr als 100 Meter tiefen Schacht über die verfallenen Stufen, über Löcher und Hindernisse aller Art emporklimmen. Die Kinder werden ihren Eltern um den Preis von 75-120 Mark zur Ausnutzung für mehrere Jahre abgekauft. Sie verdienen täglich 40-50 Pfennige, die ihnen meist nicht in Geld ausgezahlt werden, sondern in schlechten, verfälschten Nahrungsmitteln. Ihre Kost besteht aus Brot und Zwiebeln. Nach einem bürgerlichen Berichterstatter tragen alle diese gequälten Geschöpfe die Zeichen gestörter förperlicher und geistiger Entwicklung, sie sind wahre Bilder verhungerter Sklaven. Die barbarische Arbeit, die so zarten Knaben auferlegt wird, schreit um Rache und ist die Negation( Verneinung) der elementarsten Forderungen der Menschlichkeit. Man muß sich schämen, in einem Lande geboren zu sein, wo derartige barbarische Verhältnisse die täglichen, thatsächlichen Zustände der arbeitenden Bevölkerung sind."
Aber die besitzlose Masse wird in Italien noch in anderer Weise ausgebeutet und unterdrückt. Die Gemeindeverwaltung befindet sich fast ganz in den Händen der Besitzenden und diese bedienen sich ihrer, um sich auf Kosten der Allgemeinheit zu bereichern und die Lasten auf die Armen abzuwälzen. Die Haupteinnahmen der Gemeinden fließen aus hohen Verzehrungssteuern und-Zöllen, welche die arbeitende und ohnehin schon nothleidende Masse zu noch größerem Elend verurtheilen. Die Abgaben werden mit unerbittlicher Härte eingetrieben, während die in der Gemeinde herrschenden Prozen und ihre Kreaturen sich ihren Steuerpflichten entziehen. Dies erklärt, warum während des Sizilianischen Aufstands so viel Zolleinnahmestellen und Rathhäuser geplündert und zerstört wurden, warum überall der Ruf ertönte: ,, Nieder mit den Verzehrungssteuern! Nieder mit der Gemeindevertretung!"
Es hat lange gedauert, bis den Unterdrückten das Bewußtsein des ihnen angethanen Unrechts aufgedämmert ist. Aber nun ist es da, es erwacht in immer breiteren Kreisen und treibt die Ausgebeuteten in den Kampf gegen die Ausbeuter. Mit dem Erwachen dieses Bewußtseins kam die Erkenntniß von der Nothwendigkeit einer durchgreifenden Umgestaltung der Verhältnisse, von der Nothwendigkeit von Zuständen, welche die Ausbeutung und Unterdrückung der breiten Masse unmöglich machen. Gleichzeitig erkannten die Unterdrückten und wirthschaftlich Schwachen, daß sie nur durch ihren Zusammenschluß, ihre Vereinigung die Macht erhalten würden, ihren Peinigern würdigere Lebensverhältnisse abzuringen. So entstanden in Sizilien allerwärts die„ fasci dei lavoratori", Arbeiterverbände. In den Städten schlossen sich in ihnen die gewerblichen Arbeiter und Schiffsleute zusammen, auf dem Lande die Tagelöhner und Bauern. Die ganze Insel bedeckte sich mit einem Netz von" Fasci ", die untereinander in Verbindung standen und bei aller Verschiedenheit der Einzelforderungen das eine gleiche Ziel verfolgten: bessere Arbeits-, Lohnund Lebensbedingungen für die in den Staub getretene Masse erkämpfen zu wollen. In 140 Fasci waren rund 360 000 Arbeiter und Bauern organisirt. Die Begründer und Führer der Organisationen waren zum Theil zielbewußte Sozialisten. Und auch die Mitglieder der Fasci bekennen sich zum großen Theil zum Sozialismus. Aber ihre sozialistischen Anschauungen sind noch unklar und verworren. Wie eine Heilsbotschaft tönten die sozialistischen Lehren hinein in die finstere Elendsnacht der sizilianischen Bevölkerung. Sie wurden nicht immer begriffen und geistig verarbeitet, aber mit Innigkeit geglaubt. Die Ideen von der Menschenwürde und dem Rechte der fleißigen, entbehrenden Arbeitsbienen, von der Gleichberechtigung alles Dessen, was Menschenantlig trägt, von der Brüderlichkeit aller Menschen, von dem Herannahen einer Zeit, wo es weder Ausbeuter noch Ausgebeutete, weder Schlemmer noch Verhungernde mehr geben wird, waren für die in tiefster Noth Schmachtenden ein neues Evangelium.
Unendlich groß war die Zahl der Frauen in Stadt und Land, welche sich mit glühender Begeisterung dem Sozialismus zuwandten und den Fasci anschlossen. Es war dies natürlich genug. Die besitzlose Frau leidet das Gleiche, ja oft noch Härteres als der besitzlose Mann. Die meisten sizilianischen Frauen müssen sich bei schweren Land- und Feldarbeiten bis aufs Blut quälen. Sie leben schlechter als ein Hund, sie sind Zeuge, wie der Gatte und die Kinder durch übermenschliche Arbeit und Entbehrungen zu Grunde gehen, wie sie in der Noth und durch die Noth verkommen. Die übermäßigen Leiden entfachten auch in der Brust der sizilianischen Frauen den heiligen Zorn gegen die scheußlichen Mißstände im Lande, gegen die rücksichtslose Ausbeutung, die freche Vergewaltigung der Schwachen. Auch in ihrem Geist flammte das Sehnen nach einer neuen Zeit mächtig empor. Voller Begeisterung und Opfermuth, ohne ängstliches Schwanten und Zagen traten auch sie in den Kampf ein für diese neue, schönere Zukunft. Fast allen Fasci schlossen sich Frauen an, es wurden ferner Organisationen für Frauen begründet, die zum Theil eine recht erhebliche Mitgliedschaft zählen. So giebt es ein solches Fascio, dem mehr als 1500 Frauen angehören. Die weiblichen Mitglieder der Organisationen zeichneten sich vielfach durch ihre überraschende Beredtsamkeit aus, sowie durch ihre Energie, so daß sie innerhalb der Fasci einen maßgebenden Einfluß gewannen. Ihr agitatorisches Wirken war oft erfolgreicher als das der Männer. Als Agitatorin leistete besonders Maria de Felice Vorzügliches, die Tochter des sozialistischen Abgeordneten de Felice. Ihre glühende Beredtsamkeit elektrisirte förmlich ihre Zuhörerschaft, sie gewann dem Sozialismus Schaaren neuer Anhänger. Frauen ließen ihre Kinder als Mitglieder der Fasci einschreiben. Die Geistlichkeit versuchte im Vertrauen auf ihre alte Macht über die unaufgeklärten Frauen diese dem Sozialismus abwendig zu machen. Von den Kanzeln herab wurde gegen den Sozialismus und die Fasci gepredigt. Den Mitgliedern der Organisationen wurde der Kirchenbann angedroht, sie und ihre Familienangehörigen sollten